Susanne Falkenberg: Populismus und Populistischer Moment im Vergleich zwischen Frankreich, Italien und Österreich

Inhalt
Kap. 1
Kap. 2
Kap. 3
Kap. 4
Kap. 5
Kap. 6
Kap. 7
Kap. 8
Kap. 9
Kap. 10
Literaturverzeichnis

9. Erfolgsbedingungen und Erfolgsursachen

9.1. Einleitung

Zum Verständnis auch der möglichen Entwicklung reicht es jedoch nicht aus, sich nur mit den im Zentrum dieser Arbeit stehenden Parteien zu beschäftigen. Deshalb werden in diesem Kapitel die Hintergründe und die Bedingungen ihres Erfolgs analysiert.

Wie ist die sozio-ökonomische und politische Entwicklung in den drei Ländern verlaufen, wo haben sich markante Brüche ereignet, wie äußert sich die Krise, und welche Konsequenzen hat sie? In einem Anschlußkapitel werde ich den Zusammenhang zwischen den Kernthemen der Parteien und elektoraler Resonanz diskutieren.

Die Untersuchungsgegenstände der folgenden Abschnitte sind nahezu identisch. Neben diesem Grundraster habe ich einige landes- bzw. organisationsspezifische Unterkapitel aufgenommen: Im Abschnitt "Paradigma Marseille" werden die sozio-ökonomischen und politischen Ursachen des Front National nochmals exemplarisch analysiert.1 Der Wandel des italienischen Parteiensystems sowie sein Zusammenbruch nach 1989 werden in zwei getrennten Kapiteln untersucht (9.3.2. und 9.3.3.). Das Österreich-Kapitel beinhaltet einen zusätzlichen Teil über die SPÖ-Krise und den parallel dazu verlaufenden Aufstieg der FPÖ. Der Kontext Modernisierung, Rolle der SPÖ und FPÖ-Durchbruch wird überwiegend in diesem Abschnitt erörtert.

9.2. Frankreich

9.2.1. Sozio-ökonomische Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich in Frankreich ein rapider und staatlich gesteuerter Modernisierungsprozeß vollzogen (Modernisierung von oben).2 Diese Entwicklung verlief ausgesprochen diskontinuierlich, wobei sich vor allem die Angleichung der sozialen und ökonomischen Dynamik als schwierig erwies. Geringe Modernisierungsakzeptanz in der Bevölkerung und den mittelständischen Branchen, unausgewogene Einkommensverteilung,3 staatlich initiierte, aber volkswirtschaftlich nicht immer sinnvolle Prestigeobjekte4 und nicht zuletzt Rasanz und Sprunghaftigkeit der Veränderungen deuten auf eine insgesamt widersprüchliche und konfliktträchtige Modernisierung der französischen Gesellschaft hin.5

Diese Entwicklung führte zu gravierenden Zäsuren etwa in der Landwirtschaft oder im industrialisierten, technisch aber überalterten Norden, der zugunsten neuer Industriegebiete im strukturschwachen Süden und später Südwesten (Ansiedlung von High-Tech) abgewertet wurde.6 Im Verlauf der Modernisierung und der raschen Expansion des sekundären und später tertiären Sektors hat sich eine mobile, tendenziell wohlhabende und moderne Gesellschaft herausgebildet. Mit nachhaltigen Auswirkungen auf den Arbeits- und Bildungssektor ist der Bevölkerungsanteil wegen dieser Wohlstandsentwicklung sprunghaft gewachsen.7 In den 70er Jahren kam der Modernisierungsprozeß parallel zum Ölpreisschock ins Stocken. Die Beendigung der bis 1973 durch tayloristische Arbeitsorganisation und Produktion standardisierter Massengüter, durch den Ausbau des Wohlfahrtsstaates und keynesianische Wirtschaftspolitik gekennzeichnete und auf hohem Niveau verlaufende Wachstumsphase führt Henrik Uterwedde auf die zunehmende Internationalisierung zurück: Damit "geht eine weitgehende Entkoppelung von Masseneinkommen, Binnennachfrage und Gewinnerwartung der Unternehmen einher; die Massenkonsumgüterproduktion hat aufgehört, eine Lokomotivfunktion für die Wirtschaft zu spielen, ohne daß bislang neue Leitsektoren in Sicht wären".8

Die industrielle Konzentration mit einem Schwerpunkt überwiegend östlich einer gedachten Linie zwischen Le Havre und Valence und dem Pariser Raum als Zentrum forderten ihren entsprechenden städtebaulichen Tribut. Durch rasche und teils konzeptionslose Urbanisierung sind an den Stadträndern riesige Schlafburgen entstanden, die sich von den übrigen Siedlungssegmenten deutlich abheben.

9.2.2. Wandel des Parteiensystems

Das Entstehen der sogenannten neuen Mittelschichten war die soziologische, ihr Einfluß auf das Parteiensystem die politische Konsequenz der nur noch unter Kriseneinfluß fortschreitenden Modernisierung.9 Diese einkommensstarken, durch hohes Bildungsniveau und Mobilität gekennzeichneten Mittelschichten wiesen eine nur geringe affektive Parteibindung auf und wurden aufgrund ihrer zahlenmäßigen Stärke von den Parteien zunehmend umworben; zu Lasten der Interessen ihrer schrumpfenden Traditionsklientele. Mit der Stärkung der soziologischen und politischen Mitte wurde zugleich das gaullo-kommunistische Paradigma der ersten Nachkriegsjahrzehnte überwunden.10

Dieser Wandel kommt in der Wahl des ersten nicht-gaullistischen Staatspräsidenten Giscard d'Estaing 1974 und durch die Wahlen zur Nationalversammlung 1978 zum Ausdruck, bei denen die gaullistische Bewegung11 15% der Stimmen und der PCF seine linke Vorreiterrolle verloren hatte. Dagegen konnte die sozialistische Partei (PS) etwa fünf Prozent und das Zentrum rund sieben Prozent zulegen. Alle Parteien lagen nun mit dem PCF als schwächster (20,6%) und der UDF als stärkster (23,9%) Kraft im vorderen 20-Prozent-Bereich. Heimatlos fühlten sich vor allem rechts orientierte Wählergruppen, die einen weitgehend profillosen RPR vorfanden12 oder mit der Linksöffnung der UDF unzufrieden waren. Der weitaus größte Teil der Gesellschaft aber wollte politische und soziale Veränderungen unter linker Regie. "Wir wollen das Leben ändern" war nicht nur das Leitmotiv der Linken, sondern zugleich Reflex auf eine gesamtgesellschaftliche Stimmung, in deren Folge 1981 Mitterrand als Staatspräsident und das Linksbündnis aus Sozialisten (37,5%) und Kommunisten (16,2%) an die Regierung gewählt wurde. Der Aufbruch konnte also beginnen.

Sozio-ökonomische Probleme und elektorale Folgen

In der Politik bestehen jedoch gravierende Unterschiede zwischen Wunsch und Realität. Die ersten elektoralen Effekte des Front National fallen dabei in die Zeit wirtschaftlicher Krisenerscheinungen, die Mitterrand nach seinem Amtsantritt als Staatschef 1981 mit einem neuen Interimsplan überwinden wollte. Aber aufgrund der hohen Inflationsrate, steigender Staatsverschuldung, Kapitalflucht und Zahlungsbilanzkrise war ab 1983 eine Politik der rigiden Haushaltskonsolidierung und straffen Geldpolitik unumgänglich. Dies war im sozialistischen Aufbruch ebensowenig vorgesehen wie die Auflösung des Planungsministeriums, die Reprivatisierung eben erst verstaatlichter Unternehmen und die radikale Korrektur keynesianischer zugunsten neoliberaler Wirtschaftspolitik.13 1984 erreichte die Arbeitslosigkeit ihre bisherige Rekordmarke von 10% (heute ca. 13%). Rund 60.000 Stellen hatte allein der Strukturwandel in den Bereichen Kohle, Stahl und Schiffbau gekostet. Durch den Wegfall von Preiskontrollen und Lohnindex sank zudem die allgemeine Kaufkraft.

Diese Entwicklung beförderte bei den Wählern das Gefühl, daß die neuen politischen Hoffnungsträger ihren Aufgaben nicht gewachsen und von ihren sozialpolitischen Versprechungen weit abgerückt sind. "Angesichts der allgemeinen Unzufriedenheit fiel die Agitation des Front National, das internationale Kapital und vor allem die Arbeitsimmigration als für die 'Dekadenz' Verantwortliche zu benennen und zu Sündenböcken abzustempeln, auf fruchtbaren Boden."14 Im Verlauf der Folgejahre wurde die sozio-ökonomische Situation für viele Franzosen noch problematischer. So begann sich die Schere ungerechter Verteilungen, die sich zwischen den 70er und 80er Jahren langsam geschlossen hatte, wieder zu öffnen. Zudem waren die Franzosen stetig steigenden Sozialabgaben ausgesetzt, wobei der zunehmend unsichere Arbeitsmarkt eine weiter belastende Wirkung auf das Sozialsystem hat.15 Während das Bruttoinlandsprodukt seit 1974 nahezu konstant geblieben ist, sind die öffentlichen Sozialausgaben mit defizitären Folgen kontinuierlich gestiegen. Mit einem 44%igen Abgabenanteil bei den Einnahmen liegt Frankreich heute weit über dem EU-Durchschnitt, der sich auf 25% beläuft. Dabei wird nach wie vor ein großer Teil der sozialen Abgaben von den Unternehmern geleistet, die seit den 80er Jahren auf für sie günstigere Konditionen pochen. Die Themen: "Begrenzung bzw. Senkung der Sozialausgaben, weitere Entlastung der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung durch eine stärkere Fiskalisierung, Befreiung der Arbeitgeber von Sozialversicherungsausgaben, insbesondere bei niedrigen Einkommen - bestimmen in Frankreich seit Ende der achtziger Jahre die politische Diskussuion."16

Soziale Unzufriedenheit, hat sich seit Anfang der 90er Jahre zu einem Krisenbewußtsein ausgeweitet. So zog Le Monde nach Untersuchungen des SOFRES-Instituts Ende 1994 den Schluß, daß die Gesellschaft auseinanderzubrechen drohe und daß die "Gefahr einer sozialen Explosion" bestehe.17 Ähnlich wurde die Situation von Le Pen bewertet, der seine Kandidatur als Präsidentschaftskandidat 1995 mit den Worten "Wir stehen am Rand einer Katastrophe" einleitete. Seine Lösungsvorschlägen reichen von Ausweisung der Immigranten über die "Revitalisierung Frankreichs (...) durch ein Elterngehalt und die Abschaffung 'bezahlter Abtreibung'" bis hin zur Stärkung der inneren Sicherheit "durch verstärkte Polizeipräsenz, Grenzkontrollen und die Wiedereinführung der Todesstrafe."18 Verlockende Aussichten für eine Bevölkerung mit zahlreichen arbeitslosen und auf unsicheren Stellen beschäftigten Menschen.19

Daß nicht allein von einer ökonomischen Krise die Rede sein kann, zeigen die Wahlanalysen und besonders drastisch jene von 1995. Bei den Präsidentschaftswahlen wurden etliche ungültige Wahlscheine und vor allem ein hoher Stimmenanteil für die oppositionellen Kräfte registriert,20 so daß ebenso von einer Vertrauenskrise geredet werden muß. Der mit dem Fortbestand des sozialen Gefälles einhergehende Vertrauensverlust speist sich nicht nur aus dem Widerspruch zwischen Wahlversprechen und Realität, sondern auch aus dem Gestus vieler Meinungsmacher (Politiker, Journalisten), die kaum Kontakt zur Bevölkerung haben und offensichtlich "in einer anderen geistigen und sozialen Welt leben" als der überwiegende Teil der Franzosen.21 Der Wahlkampf Jacques Chiracs mag ein Indiz dafür sein, daß die traditionellen Parteien nunmehr zur Kenntnisnahme dessen bereit sind, was René Lenoir bereits in seinem 1974 veröffentlichtem Buch "Les Exclus" beschrieben hat.22 Die Ausgeschlossenen sind "mit 21jähriger Verspätung!" endlich ein Thema, aber "selbst im Zeitalter der On-line-Information setzen sich bestimmte Tatsachen, so massiv sie auch sein mögen, nur ungeheuer langsam durch".23

9.2.3. Das Paradigma Marseille

Am Beispiel des FN-Erfolgs in Marseille analysiert Dietmar Loch verschiedene sozio-ökonomische und politische Wandlungsprozesse, die trotz städtischer Spezifika exemplarischen Charakter haben. Die südfranzösiche Stadt, wo neben dem FN auch die populistische Konkurrenzorganisation Tapies erfolgreich war, hat im Verlauf der letzten Jahrzehnte mehrere sozio-ökonomische Transformationsprozesse durchlaufen. Dabei sind alte und neue Strukturen, Wertvorstellungen und Lebensstile mit einer Vehemenz aufeinander geprallt, durch die die gesamte Lebenswirklichkeit verändert wurde.

Zwischen den 50er und 70er Jahren war Marseille mit verschiedenen innerfranzösischen und ausländischen Wanderungsbewegungen konfrontiert, die das Wachsen der Stadt und einen industriellen Boom zur Folge hatten, der die europaweit einsetzende Deindustrialisierung überdauerte. Bis Mitte der 70er Jahre mußten jedoch zahlreiche Arbeitsplätze wegen internationalen Konkurrenzdrucks wieder abgebaut werden, wobei die Ölkrise zusätzlich belastend wirkte. Demgegenüber wurde der tertiäre Sektor stark gefördert, und Marseille hatte sich Hoffnungen gemacht, ein führendes Dienstleistungszentrum zu werden. Seit Mitte der 70er Jahre kollidierte diese einseitige Konzentration bei gleichzeitiger Vernachlässigung industrieller Innovationen "mit einem einschneidenden Bevölkerungsrückgang, der den Wachstumsmythos zerstörte und die Strukturkrise offenlegte".24

Eine Folge dieser verschiedenen Transformationsprozesse ist die soziale und urbane Zergliederung der Stadt. Die zur Zeit der demographischen Schübe aus dem Boden gestampften Betonburgen ziehen sich vom 13. bis zum 16. Arrondissement und beherbergen gut ein Drittel der Bevölkerung.25 Ihnen stehen die Eigenheimsiedlungen und Bankenviertel des Südens gegenüber, die in der "Dienstleistungsepoche" entstanden sind. Ein dritter Schwerpunkt sozialer Konzentration befindet sich im 1. Arrondissement, wo heute Einwanderer aus dem Maghreb als Kleinhändler tätig sind.26 Mittlere Angestellte verteilen sich auf die gesamte Stadt. Klientelistische Strukturen, deren Funktionieren an überschaubare Viertel und das Vorhandensein finanzieller Ressourcen geknüpft ist, fielen deshalb sukzessive weg. Der nach dem langjährigen sozialistischen Bürgermeister Gaston Defferres benannte Defferrismus konnte in der gewachsenen, durch Mobilität gekennzeichneten und urban veränderten Stadt nicht überleben und wurde durch eine anonyme Stadtverwaltung substituiert. Für Jean Viard ist die Transformation der alten zur modernen Stadtverwaltung die Folge politischer Desintegrationsprozesse, die einer "Spaltung der politischen Kultur" gleichkomme. Diese Problematik ist dabei durch das Auftauchen des Front National erst enthüllt worden.27 Spaltungen vollziehen sich nicht nur zwischen Alt- und Neubürgern, Arbeitern und Angestellten oder Nationalitäten, sondern auch innerhalb jeder dieser Schichten.

Unterschiedliche Ergebnisse, mit denen der Erfolg des Front National erklärt wird, stellen daher keine Gegensätze dar, sondern resultieren aus verschiedenen Fragestellungen. Anne Tristan und Pascal Perrineau etwa heben in besonderem Maß die anomie urbaine der von weitgehendem Bindungsverlust gekennzeichneten Wohnsilos des nördlichen Randes hervor.28

Dagegen betonen Frédéric Bon und Jean-Paul Cheylan den sozialen Übergangsstatus neuer Mittelschichten. Einfache Angestellte, Händler, Handwerker und naturalisierte spanische und italienische Immigranten, angetrieben vom Wunsch nach sozialem Aufstieg und konfrontiert mit der Tatsache, daß dieser nicht gelungen ist, stimmen besonders häufig für den Front National.29 Große Erfolge hat die Partei auch bei jenen Mittelschichten, denen der Aufstieg gelungen ist, und die infolge gesellschaftlicher Krisenereignisse und -stimmungen um ihren sozialen Status und dessen oft fremdfinanzierte Symbole fürchten.30

Der Front National verdankt seinen Erfolg nicht nur in Marseille mehreren Umständen, die aber in einem engen Verhältnis zueinander stehen. Wichtige Voraussetzungen sind dabei die sinkende Integrationskompetenz politisch-kultureller Subsysteme und schwindendes Vertrauen in traditionelle Parteien, das sich durch Protestwahlverhalten oder Wahlenthaltung artikuliert.31 Noch bis in die 70er Jahre hinein konnten Gaullisten und Kommunisten zumeist im Zusammenhang mit den Konfliktthemen Arbeit und Kapital Protestwähler an sich binden. Mit dem Hinzukommen neuer Konfliktlinien (Massenarbeitslosigkeit, Einwanderung, Ökologie) sind die alten Parteien jedoch deutlich schwächer, Parteien wie der Front National und ökologische Organisationen dagegen stärker geworden. Zudem existieren weitere, wie die am Beispiel Marseilles herausgehobenen Problemfelder anomie urbaine und Statusinkonsistenz.

Der FN wird aber von allen Bevölkerungsschichten gewählt. Deshalb müssen neben den bereits genannten Gründen weitere Bedingungen analysiert werden, die den Aufstieg der Le Pen-Partei begünstigt haben.

9.2.4. Krise der politischen Kultur?

Für Le Pen und seine Anhänger ist Einwanderung die wichtigste Ursache unterschiedlicher sozialer Probleme wie Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit oder Kriminalität. Aber nicht nur für sie: 1990 waren 70% der Franzosen der Meinung, in Frankreich hielten sich zu viele Araber auf. Ein Jahr später erklärten sich 32% mit den politischen Zielen des FN und 38% mit Le Pens Haltung gegenüber Ausländern einverstanden.32 Kaum überraschend, wenn auch Regierungsmitglieder ihrer Sorge über ein "Zuviel" an Einwanderung Ausdruck verleihen. Dietmar Loch spricht vom "Immigrantenproblem" als einem FN-Lockmittel,33 und Leggewie bezeichnet die multikulturelle Gesellschaft als ideale Projektionswand individueller Ängste.34 Gleichwohl darf nicht übersehen werden, daß ein imaginäres zu einem echten Problem mutieren kann. Falsche sozialpolitische Entscheidungen, halbherzige Einwanderungsbekenntnisse oder bewußte Nicht-Integration und das Sich-Abschleifen-Lassen institutioneller Integrationsmechanismen -; das alles spiegelt gesellschaftliche Stimmungen wider und wirkt zugleich auf sie. Skepsis oder Ablehnung werden vor allem durch die in den Stadtrandsilos wachsende Unzufriedenheit genährt, die allerdings kein immigrantenspezifisches Phänomen ist und auch "französische" Randgruppen betrifft.

François Dubet und Didier Lapeyronnie sind der Frage nachgegangen, auf welche Umstände die sich immer häufiger gewalttätig entladende Unzufriedenheit zurückzuführen sei. Sie erklären den partiellen Wegfall kultureller Wert- und Normsysteme mit dem Wandel der Industriegesellschaft und dem dadurch bedingten Zerfall der Arbeiterklasse. Diese Arbeiterklasse war in den Vorstädten lange Zeit eine wichtige gesellschaftliche Handlungsträgerin, die wesentlich zur Integration ausländischer oder aus den Provinzen stammender Migranten beigetragen hat. In der primär über den Faktor Arbeit legitimierten Industriegesellschaft aber fanden sie schnell ihren Platz und wurden in die werktätige Gemeinschaft integriert.35 Durch Arbeitsmarktdifferenzierung und hohe Beschäftigungslosigkeit wurde der Zerfall der Arbeiterklasse eingeleitet und damit die gesellschaftliche Integration von Migranten erschwert. Mit diesem Zerfall ging die Krise der Linken einher,36 deren Ideen zwar noch bestehen, die aber nicht mehr als Alltagskultur existiert.37 Diese Linke hat traditionell nicht nur sozial, sondern auch republikanisch gedacht. Deshalb ist ihr Zerfall doppelt brisant. Er "geht weit über den eigentlichen Raum der Politik hinaus, denn was auf dem Spiel steht, ist überhaupt das Bild einer Gesellschaft. Wenn man (...) als Gesellschaft die Integration einer Sozialstruktur, einer nationalen Kultur und einer Ökonomie kraft des Zusammenwirkens in Institutionen bezeichnet, dann ist, jenseits der Krise der Linken, eben diese Vorstellung von Gesellschaft in Auflösung begriffen".38 Verschärft wird die Problematik durch die zunehmende institutionelle und soziale Unfähigkeit einer gesellschaftlichen Integration der Immigranten. Sie bilden so den "Dreh- und Angelpunkt, an dem soziale Probleme und nationale Fragen ineinandergreifen".39 Der intensive französiche Identitätsdiskurs muß auch auf diesem Hintergrund betrachtet werden.

Ähnlich wie Dubet und Lapeyronnie argumentiert Hans-Manfred Bock, wenngleich er das Problem nicht nur auf die Krise der Linken zuspitzt. Für ihn fällt mit der sinkenden Integrationsfähigkeit aller traditionellen Parteien "eine sich in Frankreich andeutende allgemeine 'Krise der politischen Kultur' zusammen".40 In diesem Kontext verweist Loch auf den eng mit der politischen Kultur verbundenen Nationbegriff. Und er weist mit Pierre Birnbaum auf etwas Entscheidendes hin: Neben der Staatsnation existiert nach wie vor das Bild einer ethnisch-kulturellen Nation, das der FN mit seiner Vorstellung (und Überzeugung) von nationaler Identität aufgreift. Sein Erfolg läßt sich daher auch als eine na-tionalistische Replik verstehen, mit der er und seine Wähler auf die "grenzüberschreitende Moderne und die neue Konfliktlinie um die Einwanderung" reagieren.41

Der FN kann mit seinem Rückgriff auf alte Werte wie Familienzusammenhang, Vaterautorität und Religiosität, aber auch mit seinem Sicherheitsdiskurs eine breite Wählerschaft ansprechen, die sich nach Überschaubarkeit, Abgrenzung und Behaglichkeit sehnt. Es wäre nicht überraschend, wenn sich von diesen Topoi gerade bessersituiertere Wähler angesprochen fühlen, die den rüden Ton Le Pens aber ablehnen. Der Front National offeriert seiner breiten Wählerschaft unterschiedliche thematische Angebote, die von der Idee einer nationalen Renaissance über die Forderung moralischen Wandels bis hin zur offenen Ausländerfeindlichkeit reichen und dabei doch eng zusammengehören. Die Tatsache, daß sich Vorurteile und Gewalt vor allem gegen maghrebinische Einwandererfamilien richten, deutet auf eine nicht überwundene und stimulierbare Frankreich-Idee hin, mit der das Land nicht republikanisch-demokratisch, sondern stark und hegemonial gedacht wird. Welchen Paß Maghreb-Einwanderer und ihre Kinder besitzen, ist dabei irrelevant, weil schon ihre Präsenz an die von vielen als Schmach erlebte Niederlage gegen die Befreiungsbewegungen Nordafrikas erinnert.42

Wenngleich Dubet und Lapeyronnie dies als Erklärung für den Erfolg des Front National in Betracht ziehen, so weisen sie auf einen nicht weniger stichhaltigen Zusammenhang hin. Rassismus äußert sich ihren Untersuchungen zufolge dann, wenn kulturelle Schranken fallen und ehemals Fremde die Verhaltensweisen und Forderungen derjenigen Gesellschaft annehmen, in die sie oder ihre Vorfahren eingewandert sind.

Gerade weil viele maghrebinische Jugendliche gleiche Lebensplanungen haben wie französische Teenager und sich weder in der Kleidung noch in ihrer Freizeitgestaltung von ihnen unterscheiden, werden sie als Bedrohung und als ebenbürtige Konkurrenz erlebt. Immerhin werden Arbeits- und Ausbildungsplätze knapper, und die Jugendarbeitslosigkeit ist erschreckend hoch. Diese integrations- und partizipationswilligen Jugendlichen reagieren auf den Rassismus immer häufiger mit einer Rückkehr zu einer Kultur, die sie nur bedingt internalisiert haben. Indem sie sich als Reaktion auf die ihnen geltende Abneigung zu teils militanten Verteidigern der Kultur ihrer Vorfahren machen, wird ein schwer zu durchbrechender Kreislauf in Gang gesetzt. Denn letztlich verhalten sie sich so, wie das Vorurteil sie sehen will. Damit geben sie ihm neue Nahrung.

9.3. Italien

9.3.1. Sozio-ökonomische Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg

Auch Italien hat nach dem Zweiten Weltkrieg eine rasante Modernisierung mit enormen Wachstumsraten durchgemacht, die das sprichwörtliche deutsche Wirtschaftswunder in den Schatten stellt.43 Dieser Aufschwung ist die Folge einer einseitiger Konzentration auf die Großindustrie, der aufgrund hoher Beschäftigungslosigkeit Heerscharen billiger Arbeitskräfte zur Verfügung standen. Massenwanderung und Urbanisierung waren die Folge des durch Parteien, Staatsindustrien und Banken gesteuerten Prozesses. Gewerblicher Mittelstand, Landwirtschaft und andere, nicht am Boom partizipierende Zweige wurden zwar von der Administration vernachlässigt, jedoch auf Umwegen, etwa durch halblegalen Steuerverzicht "gefördert".44 Eine wichtige Überlebensfunktion hatte zudem die in Italien nach wie vor verbreitete Familiensolidarität. Parallel zur Tertiärisierung vor allem im Norden vollzog sich in den 60er Jahren die technische Innovation.45

Positiventwicklungen wie Wohlstands-, Bildungs- und Freizeitzuwachs stehen zahlreiche Negativeffekte gegenüber: steigende Erwerbslosigkeit,46 Entkollektivierung innerbetrieblicher Arbeitsprozesse und nicht zuletzt Ängste, steigenden Arbeitsanforderungen nicht mehr gewachsen zu sein. Gleichzeitig hat sich die städtische Lebenswirklichkeit gewandelt, wobei insbesondere die Metropolen von starker sozialer Fragmentierung und Abschottungs- bzw. Konkurrenzverhältnissen zwischen den unterschiedlichen Siedlungssegmenten - vgl. Marseille - gekennzeichnet sind. Ablehnung der "extracomunitari" (Einwanderer aus Nicht-EU-Ländern), Statusunsicherheit und soziale Desintegration sind dabei nicht die alleinigen, aus veränderten Lebens- und Arbeitsformen resultierenden Folgen. Die alten politisch-kulturellen Subsysteme - Katholizismus, Kommunismus, Gewerkschaften - standen und stehen dieser rapide verlaufenden Entwicklung konzeptionslos gegenüber und haben als Organe politischer und sozialer Interessenvertretung erheblich an Bedeutung verloren. An ihre Stelle treten vermehrt Verbraucherschutzorganisationen, Selbsthilfe-, Bürger- und Kulturinitiativen sowie moderne Formen innerbetrieblichen Lobbyings. Aber auch die zunächst gegen Zentralstaat und nationale Parteien agierende Lega mit ihrem auf kleine Einheiten bezogenen Politik- und Gesellschaftsverständnis befriedigt(e) Bedürfnisse nach direkter sozio-politischer Interaktion.

Mit Blick auf den Wandel der Arbeits- und Industriegesellschaft spricht Lapo Berti vom Wegfall "mechanischer" zugunsten "organischer" Solidaritätsmuster47 und kommt damit zu einem ähnlichen Schluß wie Aldo Bonomi, der den Erfolg der Lega als Ausdruck eines norditalienischen Wir-Effekts bezeichnet, den die Partei stimulieren und sich selbst zunutze machen konnte.48 Mit ihrer Behauptung, keine Partikular-, sondern norditalienische Gesamtinteressen zu vertreten, konnte sie zeitweilig eine breite Wählerschaft erreichen, die auf dem Höhepunkt ihres elektoralen Erfolgs mit der soziologischen Zusammensetzung der settentrionalen Bevölkerung nahezu deckungsgleich war.49

Studien, wonach Italien in drei ökonomische Makrostrukturen mit unterschiedlichen Produktions- und Wettbewerbsniveaus unterteilt sei, werden von der Lega herangezogen, um die Notwendigkeit einer Teilung des Landes zu begründen und um vor einer ökonomischen Nebenrolle des Nordens in Europa zu warnen.50 Das Vorhandensein dieser drei Großräume ist eine, die daraus zu ziehende Konsequenz eine andere Sache. Das republikanische Italien optiert für einen Interessenausgleich,51 der allerdings in der Vergangenheit deshalb nicht funktionierte, weil die im Süden agierenden Eliten oft genug zu ihren eigenen Gunsten gewirtschaftet haben. Nicht nur dieser, auch der Interessenausgleich zwischen Arbeitern, Gewerkschaften, Industrie und Verbänden wurde recht eigenwillig organisiert. Eine Mischung aus Klientelismus, Postenverteilung und "weder institutionell noch inhaltlich zur Konkordanz"52 vervollständigtem Transformismus hat dazu geführt, daß alle Gruppen finanzielle Leistungen und Begünstigungen erfahren haben, solange die Gelder dafür zur Verfügung standen.

9.3.2. Wandel des Parteiensystems

Seit Mitte der 70er Jahre läßt sich ein meßbarer Wandel des italienischen Parteiensystems feststellen, den Renato Mannheimer auf die sozio-ökonomische Modernisierung zurückführt.53 Wachsende Mobilität, verstärkte Einwanderung, auf die das klassische Auswanderungsland Italien nicht vorbereitet war,54 die teils aufklärende Funktion der Massenmedien, forcierte Säkularisierung sowie eine tiefe Ideologienkrise werden von Mannheimer als Ursachen einer sich vom traditionellen Links-rechts-Gegensatz und von religiösen Konfliktlinien lösenden Gesellschaft genannt.55 Religiöse und politische Säkularisierung als Folge der schnell verlaufenden Modernisierung führten aber nicht nur zur Überwindung von Traditionen (auch des Wahlverhaltens), sondern auch zu Unsicherheiten; etwa darüber, wem die Lösung der Probleme, die im Zusammenhang mit und in Folge der Modernisierung aufgetreten sind, zuzutrauen sei. Von der wachsenden Skepsis gegenüber den traditionellen Parteien und vor allem gegenüber der Democrazia cristiana haben die jungen Ligen profitieren können.

Skepsis gegenüber dem Staat, seinen Organen und Parteien ist in Italien tief verankert und insofern kein aktuelles Phänomen. Deshalb muß Roberto Biorcio widersprochen werden, der den Durchbruch der Lega auch auf dieses gesellschaftliche Grundklima zurückführt.56 Denn schließlich zählten die italienischen Wähler im westeuropäischen Vergleich zu den beständigsten. Signifikantes Wechselwahlverhalten und Wahlenthaltung lassen sich erst seit den 70er Jahren nachweisen. Damit stellt sich die Frage nach der möglichen Qualität dieser auch empirisch ermittelten Skepsis. Gabriel Almond und Sidney Verba gehen in ihrer Civic-Culture-Studie so weit, darin mangelndes demokratisches Bewußtsein zu sehen.57 Eine Ansicht, der sich auch Biorcio nicht verschließt. Aber die Ergebnisse von Almond/Verba müssen relativiert werden. Denn auf ihrer Basis wurden von US-amerikanischen Sozialwissenschaftlern weitere Untersuchungen durchgeführt. Ihren forschungsleitenden Thesen zufolge hätte sich mangelndes demokratisches Bewußtsein überwiegend in den PCI-Hochburgen und staatsbürgerliches Denken in den DC-Hochburgen nachweisen lassen müssen. Konsterniert haben die Demokratietheoretiker aber das Gegenteil festgestellt: Von der kommunistischen Partei dominierte Regionen oder Kommunen zeichneten sich durch hohes staatsbürgerliches Bewußtsein, Effizienz und geringes Korruptionsniveau aus, während in christdemokratischen Gebietskörperschaften vordemokratische Patronage- und Klientelarstrukturen vorherrschten.58

Historiker und Sozialwissenschaftler, die von der These eines geringen demokratischen Grundkonsenses wenig halten, nennen historisch-kulturelle Gründe für das nach wie vor existente Mißtrauen der Italiener gegenüber Staat und (Partei-)Politik, ohne es als vor- oder undemokratisch zu qualifizieren.59 Auf elektoraler Ebene kann sich dies theoretisch durch hohe Abstimmungsflexibiltät, hohe Wahlenthaltung oder einen "Kröten-Effekt" artikulieren, mit dem widerwillig gewählt, was eigentlich abgelehnt wird. Nach Meinung der meisten Beobachter trifft für Italien die letzte Variante zu. In diesem Zusammenhang wird häufig der bekannte Journalist Indro Montanelli zitiert, der stellvertretend für viele andere schon in den 70er Jahren sein Unbehagen gegenüber der DC zum Ausdruck brachte, die er nur noch mit "zugehaltener Nase" wählen konnte. Da aber die DC und mit ihr das gesamte Parteiensystem erst Anfang der 90er Jahre zusammengebrochen ist, muß das Mißtrauen entweder signifikant stärker geworden sein, oder es existieren exogene Faktoren, durch die Wählen mit "zugehaltener Nase" überflüssig wurde.

9.3.3. Zusammenbruch des Parteiensystems

Welcher Umstand also hat den Ligen/der Lega ausgerechnet nach 1989 die Wählerscharen in die Arme getrieben? Wodurch wurden die alten Strukturen trotz seit langem bekannter wirtschaftlicher und politischer Probleme so lange zusammengehalten? Warum konnte der Wahlausgang lange Zeit beinah antizipiert werden, sodaß italienische Urnengänge ähnlich aufregend waren wie Volkskammerwahlen in der DDR?

Die Tatsache, daß das Parteiensystem nach 1989 kollabierte, liegt in der Funktions- und Legitimationslogik des alten Systems begründet. Es war Produkt des Ost-West-Konflikts. Sein konstitutives Merkmal war eine gegen Kommunismus und PCI zielende Politik und der Nutzen, der den regierenden Christdemokraten und ihren Partnern60 aus der Präsenz des verhältnismäßig starken kommunistischen Partei erwuchs.61 Zudem war die Rolle des PCI als Oppositionspartei dauerhaft angelegt. Er war, weil er draußen bleiben mußte, keine potentielle Regierungspartei und die italienische Demokratie in dieser Hinsicht unvollkommen. Der ideologische Konfrontationskurs blieb freilich nicht auf die Parteienkonkurrenz beschränkt, sondern prägte in hohem Maß auch die Einstellungen innerhalb der Bevölkerung. Kaum verwunderlich, daß mit der PCI-Wende (Eurokommunismus) erstmals leichte Bewegung in das elektorale Terrain gekommen war und das Votum für dieses oder jenes politische Lager weniger stark Ausdruck eines Glaubensbekenntnisses war. Auch auf administrativer Ebene läßt sich die antikommunistische Handschrift vielerorts nachvollziehen. Um soziale Unzufriedenheit und damit das Risiko eines PCI-Auftriebs in Grenzen zu halten, wurden teure Beschäftigungsprogramme initiiert, Steuerhinterziehung (vor allem des Mittelstandes) als Kavaliersdelikt behandelt, Parteienfinanzierung über dunkle Kanäle abgewickelt und mit der antikommunistischen Mafia paktiert.62 Trasformismo, clientelismo, lottizzazione ("Postenschacherei") und eine mit Schwerfälligkeit noch freundlich umschriebene Staatsbürokratie verhinderten zudem oft Einigung in Sach- und Reformfragen. In ihrer vergleichenden Studie über westliche Parteiensysteme kommt Heidrun Abromeit zu dem süffisanten Schluß, daß "der Viel-Parteien-Wettbewerb in Italien seine bisherige Stabilität durch Nicht-Politik" gewinnt.63 Aufgrund der beschriebenen Legitimation sahen sich die regierenden Parteien auch nicht genötigt, etwaige Kompetenzen durch politisches Handeln unter Beweis zu stellen. Und um den PCI zu erhalten, von dessen Präsenz die eigene Stärke abhing, wurde auch seine Mitglieder mit Posten und Geldern versehen. Ohne an der Regierung beteiligt zu sein, bedankte er sich in den mit hohen Machtkompetenzen ausgestatteten parlamentarischen Ausschüssen in Form einer Goutierung von Regierungsvorlagen, die stets auch seinen Bedürfnissen entgegenkamen.64

Die ökonomische Krise Italiens wird von Ewald Kandziora daher zu Recht als Resultat des Arrangements der anti-kommunistischen Kräfte auf allen gesellschaftlichen und staatlichen Ebenen bezeichnet. Seit dem Wegfall der Mauer macht Italien "einen tiefgreifenden Transformationsprozeß durch, der alle gesellschaftlichen Subsysteme - Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur - erfaßt hat".65 Zwar haben die "zur Abwehr kommunistischen Einflusses geschaffenen Arrangements (...) ihren Zweck erfüllt, sich aber auch als überaus kostspielig erwiesen. Mit dem Fortfall des inneren Feindes und unter dem Druck der EG-Partner, die Staatsfinanzen zu sanieren, entbehren sie nunmehr einer raison d'être".66 Nicht zuletzt ist es die Lega selbst, die die Perestroika als Initialzündung ihres Durchbruchs bezeichnet.67 Michael Braun betont zudem die sich durchsetzende Erkenntnis, daß eine Sanierung des heruntergewirtschafteten Staates nur unter gravierenden ökonomischen Mehrbelastungen möglich sein würde.68 Zusammengenommen haben diese Erkenntnis, der endgültige Wegfall des Feindbildes und die Erosion des darüber legitimierten Parteiensystems einem politischen Newcomer genutzt, der den Wählern weisgemacht hat, daß ein steuerlich und ökonomisch autonomer Norden mit einem blauen Auge davon kommen könne.

Wohlstandschauvinismus ist ein in diesem Zusammenhang häufig auftauchendes Wort. Gleichwohl existieren auch im Norden berechtigte soziale Ängste, die nicht mit einem Verweis auf vergleichsweise hohe Kaufkraft, Ex- und Importleistungen, Ausbildungs- und Produktionsniveaus wegzudiskutieren sind. Sicherlich ist der Norden unter dem Strich reicher als die Basilikata, Kalabrien oder Sizilien. Die um Arbeitsplatz und Lebensstandard (den man im unmittelbaren und nicht im abstrakten Vergleich qualifiziert) fürchtende Arbeiterin oder Angestellte mag dies ebensowenig beruhigen wie den kleinen Mittelstand, für den es seit der rigiden Ahndung von Steuerhinterziehung und neu eingeführten Abgaben finanziell eng geworden ist.

9.3.4. Lokalismus und Klientelismus

Lokalismus

Lokalismus und Regionalismus haben in Italien eine lange Tradition. Nationale Identität dagegen ist nach wie vor nur schwach ausgeprägt. Sie entsteht, "so paradox es klingt (...), im vornationalen Raum (Familie, Kommune, Religion, Alltagskultur) oder kommt aus ehemaligen anti-nationalen Subkulturen (Katholizismus/Kommunismus), die nach dem Zweiten Weltkrieg eine Vernunftehe mit Nation, Demokratie und Staat" eingegangen sind.69

Gabriel A. Almond und Sidney Verba bewerten dies in ihrer Civic-Culture-Studie, deren normatives Konzept ein hohes Maß an Beteiligung, Identifikation mit den politischen Institutionen und nationale Homogenität impliziert, als mangelndes demokratisches Bewußtsein.70 Das von ihnen vermittelte und die ausländische Sozialwissenschaft weithin prägende Italien-Bild71 wurde erstmals von Peter K. Fritzsche durch eine Rekonstruktion der dafür verantwortlichen Zusammenhänge und seinem Verweis auf die sich innerhalb der letzten Jahrzehnte gezeigten Veränderungen modifiziert.72

Kennzeichnend für die italienische Gesellschaft, die trotz hohen Wirtschaftswachstums in den 80er Jahren und großer persönlicher Zufriedenheit der Italiener ihre alten Schwächen behalten hat, ist aber eine nach wie vor existente und von Günther Trautmann durchaus positiv bewertete historische "Distanz zum Nationalismus und eine gesunde politische Skepsis gegenüber dem Staat".73

Ein Zusammenhang von Wahlmotiv und lokalistisch/regionalistischer Tradition ergibt sich jedoch nur auf den ersten Blick. Denn außerhalb des Nordens fehlen der Lega vergleichbare Organisationen. Und auch die norditalienische Bevölkerung hängt überwiegend keinen autonomistischen Träumen nach. Umfragen zeigen, daß regionale Identitätsmuster mittlerweile kaum mehr eine Rolle spielen.74 Dies wird durch die Wanderung der norditalienischen Wähler vom Föderalisten Bossi zum Zentralisten Berlusconi bei den 1994er Wahlen unterstrichen, der statt Separation ein neues Wirtschaftswunder und so eine angenehmere Variante der Wohlstandssicherung versprochen hatte.75 Auch durch den mehrheitlich bekundeten Wunsch nach lediglich stärkerer Dezentralisierung des Staates76 kommt zum Ausdruck, daß der Erfolg der Lega weder mit Tradition noch mit einem tief verankerten Autonomiewillen zu erklären ist.

Gleichwohl ist es kein Zufall, daß im industrialisierten Norden eine Partei wie sie entstanden ist. Denn sie konnte neben den bereits genannten Gründen auch davon profitieren, daß die alten Parteien wenig für die Überwindung der sozio-ökonomischen Gräben zwischen den Regionen getan haben. Insofern würde ich den Erfolg der Lega als Ausdruck des nicht überwundenen Nord-Süd-Gegensatzes bezeichnen. Dies wiederum kann dazu führen, daß vorhandene, aber in der Regel nicht wahlbeeinflussende, regionale Traditionen über diesen Antagonismus stimuliert werden.

Klientelismus und Democrazia cristiana

Darauf folgt die Frage, warum der Nord-Süd-Gegensatz bis heute nicht überwunden ist. Über Süditaliens Sozialstruktur existiert eine ganze Fülle korruptions-, mafia- und klientelismustheoretischer Literatur, deren Analyse eine eigene Arbeit verdient.77 Hier soll nur festgehalten werden, daß mit der Schaffung des unitarischen Staates als Lösung der nationalen Frage keine Lösung der sozialen Frage einhergegangen ist. Sie wurde sogar durch den sich in den 70er/80er Jahren des 19. Jahrhunderts gebildeten Agrarblock78 von Großgrundbesitzern und bürgerlichen Schichten noch verschärft. Rolf Wörsdorfer bezeichnet diesen Block als ein weites Interessennetz "der Latifundisten und freiberuflich tätigen Kleinbürger, das mit seinem ganzen Gewicht auf den Bauern, kleinen Pächtern und Landarbeitern des Mezzogiorno lastete".79 Die Konsolidierung des gegen Staatseliten und Reformvorhaben eingestellten Blocks vollzog sich in mehreren Schritten: Nach dem Regierungsantritt der parlamentarischen Linken unter Depretis wurden süditalienische Klientele in das Machtsystem eingebunden und gleichzeitig das Wahlrecht ausgedehnt, das den Mittelschichten die staatsrechtlich legitimierte Partizipation ermöglichte. Zugleich wurden im Interesse der agrarischen Eliten Schutzzölle für ihre Produkte eingeführt. Wenig später wurden auch für Industrieprodukte Schutzzölle beschlossen. Dieses wichtige "Zugeständnis des Agrarblocks an das Bürgertum im Norden, dämmte die ausländische Konkurrenz auch auf diesem Felde ein und leistete einen wichtigen Beitrag zur Geburt des modernen industrialisierten Norditalien".80 In der norditalienischen Bevölkerung wird der Süden heute oft als Appendix betrachtet. Dabei wird geflissentlich übersehen, daß dieser Norden letztlich "auf Kosten des Südens wuchs und sich entwickelte".81

Mit der Auflösung des Agrarblocks ist aber keinesfalls der süditalienische Klientelismus verschwunden. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der auch unter Mussolini nicht eingedämmte Notabelnklientelismus durch den Parteienklientelismus der Democrazia cristiana ersetzt. Sie war in den 40er Jahren schnell zur ersten Kraft avanciert und kam 1946 bereits auf 35% der Stimmen. Zwei Jahre später waren es etwa 13% mehr. Ihre Stärke verdankt sie mehreren Gründen: 1. Sie konnte vom großen und intakten Apparat der Azione cattolica italiana profitieren, die den Faschismus als einzige katholische Massenbewegung überlebt hatte. 2. Zudem beerbte sie die Stimmen der liberal-konservativen Kräfte, die durch ihre Nähe zum Faschismus diskreditiert waren. 3. Schließlich sorgten die Vereinigten Staaten, der Vatikan und konservative Parteiströmungen dafür, daß die zur Zusammenarbeit mit der Linken tendierende DC auf den rechten, d.h. antikommunistischen Weg geführt wurde.

Ihre sich bald abzeichnende Hegemonie hatte wenig mit Programmen oder moralischen Leitbildern zu tun; sie war anfangs in erster Linie ein Instrument der genannten Kräfte gegen die starke politische Linke und vor allem gegen den PCI. Die DC-Hochburgen lagen in den konservativ-traditionalistischen Provinzen des Nordens und im Süden, wobei sie im Süden in die Abhängigkeit der herrschenden Eliten zu geraten drohte. Um von der Kirche und dem Notabelnklientelismus unabhängig zu werden, mußte sie selbst konsensstiftende Partei werden. Dazu trug der Antikommunismnus ebenso wie der Parteienklientelismus bei, den die Partei durch Instrumentalisierung der vordemokratischen Patronage- und Klientelarstrukturen geschaffen hatte. Nach und nach wurden von der DC wichtige Schaltstellen in Wirtschaft und Bürokratie besetzt, wodurch sie zu Macht und Einfluß gelangte, an echten Problemlösungen aber immer weniger interessiert war. Daß die DC auch eng mit der - antikommunistischen - Mafia verbunden war, gehörte zu den italienischen Alltagsgerüchten. Aber erst die richterlichen Ermittlungen Anfang der 90er Jahre haben dafür auch die Beweise geliefert.82

Es ist schwer zu entscheiden, worauf die klientelistische Politik der DC zurückzuführen ist. Sicher sind historische und staatsräsonistische Gründe nach dem Zweiten Weltkrieg zu nennen. Aber auch die Macht der Gewohnheit oder die Gewohnheit der Macht ist ein entscheidender Faktor. Zudem ist die DC von ihren Wurzeln her keine staatsbürgerlich denkende Partei. Die Masse der Italiener fühlt sich der katholischen Kirche zugehörig, die den laizistischen Staat nach seiner Gründung bekämpft und ihn später nur aus taktischen Gründen toleriert hat. Katholische Bewegungen und Parteien haben daher auch eine starke antistaatliche Wurzel und stehen dem Risorgimento bis heute indifferent gegenüber. Jens Petersen weist darauf hin, daß die laizistischen und marxistischen, somit fast alle Parteien, der DC immer wieder mangelndes National- und Staatsbewußtsein vorgeworfen haben.83 Die Hauptursache für den Mangel an nationalem Identitätsgefühl ist seiner Meinung nach in der jahrzehntelangen Vorherrschaft der DC zu suchen.84

Sie war eine Partei der Interessen; von der allerdings viele profitiert haben. Klientelismus ist ein Tauschgeschäft, das von der Begrenztheit der gehandelten Güter lebt. Eine solche Politik verhindert das Entstehen von Solidarität und trägt wenig zur Förderung staatsbürgerlichen Denkens bei. Staat galt im Bewußtsein vieler Italiener als Einnahmequelle, unabhängig davon, ob sie gerade selbst auf der Nehmerseite standen oder nicht. Der Corriere della sera fragte deshalb Anfang der 90er Jahre besorgt, ob das Ende der Demokratie der Trinkgelder das Ende der Demokratie insgesamt mit sich brächte.85 Diese Frage war um so mehr berechtigt, als das gesamte Parteiensystem Anfang der 90er Jahre erodierte und längere Zeit Unklarheit über die weitere Entwicklung dieses Systems sowie über die italienische Politik insgesamt bestanden hatte.

Nutznießerin und gewissermaßen auch Promotorin dieser Entwicklung im Norden war die Lega, die der Bevölkerung glauben machte, daß die Budgetkrise für die eigenen Gebietskörperschaften nur mit Hilfe einer Teilung des Staates überwunden werden könne. Und hier zeigt sich die eigentliche Brisanz der jahrzehntelangen DC-Hegemonie: Dem auf Hilfe und Transferleistungen angewiesenen Süden sind milliardenschwere und durch norditalienische Steuergelder ermöglichte Subventionen zugeflossen, die aber kaum sinnvoll verwandt wurden und dagegen häufig in klandestinen Kassen versandeten. Darauf haben die norditalienischen Wähler mit Protest und die davon betroffenen Regierungsparteien mit einer noch stärkeren Konzentration auf den Süden reagiert, der - mit Wahlgeschenken umgarnt - die Stimmeinbußen ausgleichen sollte. Ein weiteres Anwachsen settentrionalen Unmuts war damit vorprogrammiert. Diesem pekuniären Staatsverständnis liegt schließlich auch der Erfolg der Berlusconi-Partei zugrunde, die den Wählern blühende Landschaften, ein neues Wirtschaftswunder und eine Million Arbeitsplätze versprochen hatte. Einzige Gegenleistung für den Eintritt in dieses Paradies sei das Votum für den Rechtspakt. Die Wahlversprechen der Linken waren weniger erfreulich, denn sie wagte lediglich vorherzusagen, daß mit einer Sanierung des Staatshaushaltes nur mittelfristig und unter gravierenden Einsparungen zu rechnen sei.86 In dieses Bild paßt auch der Aufstieg der von Michael Braun als Südliga bezeichneten Alleanza nazionale. Zweifellos wurde die nationale Allianz durch die Erosion der alten Mitte und durch die in der Folge von Berlusconi betriebenen Bündnispolitik erst gesellschaftsfähig, und sicherlich hat das distinguierte Auftreten Finis Einfluß auf den Erfolg der Partei gehabt. Dieser Erfolg ist aber auch ein Reflex auf die Aggression des Nordens, der den Süden vom norditalienischen Steueraufkommen abkoppeln will.

Auch hier bleibt nach dem Sieg der linken Mitte im April 1996 abzuwarten, inwieweit es dem neuen Premier und seiner Regierung gelingt, die zahlreichen sozialstaatlichen, ökonomischen, politischen, staatsbudgetären und kulturellen Probleme mit einer neuen stabilitäts- und solidaritätsorientierten Politik zu verkleinern.

9.4. Österreich

9.4.1. Sozio-ökonomische Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg

Österreich ist ein Parteienstaat und die österreichische Nachkriegsdemokratie eine Kreation parteipolitischer Eliten. Mit ihr wurde der Verbändestaat und seine wichtigste Institution Sozialpartnerschaft entwickelt, wobei die Einschätzungen über das Verhältnis von Parteien und Verbänden unterschiedlich sind und von "ergänzend" bis "antagonistisch" reichen.87 Bis Mitte der 50er Jahre hinein lag die sozio-ökonomische Kompetenz ausschließlich bei den Parteien, die sie jedoch infolge gravierender Konflikte in der großen Koalition und zeitweiliger Handlungsunfähigkeit weitgehend auf die Verbände übertragen haben.88

Gewerkschaften, Wirtschafts- und Landwirtschaftsverbände, Kammern und Parteien haben wesentlich die wirtschaftliche Entwicklung Österreichs nach dem Zweiten Weltkrieg gesteuert. Dazu zählen Wiederaufbau, Verstaatlichung ehemals deutschen Eigentums,89 Austrokeynesianismus (1952-1974), der sogenannte Verschuldungskeynesianismus (1975-1985) und die Sanierungspolitik seit 1986. Gravierende Krisen blieben Österreich über Jahrzehnte erspart, auch wenn sich die österreichische (Arbeits-)Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg spürbar gewandelt hat. So wurde im Verlauf nur weniger Generationen aus der agrarisch geprägten Republik eine Gesellschaft mit hohem industriellen Niveau und einem weit ausgebauten Dienstleistungssektor wie man ihn "vor wenigen Jahrzehnten noch kaum erwartet hätte".90 Vor allem das Bemühen der Sozialpartner, alle Sektoren - Einkommen, Wachstum, Produktionskosten, Wettbewerb, Wohlfahrt, Steuern, Staatsverschuldung - aufeinander abzustimmen, bescherte der Alpenrepublik eine alles in allem gemütliche Modernisierung.

9.4.2. Wandel des Parteiensystems

Diese weitgehend bruchlos verlaufende Entwicklung spiegelt sich auch auf parteipolitischer Seite wider. Denn trotz wirtschaftlicher und sozialer Modernisierungsprozesse und den dadurch bedingten Wandel politischer Einstellungen war das österreichische Parteiensystem bis in die 80er Jahren hinein stabil. Pelinka verweist jedoch auf einen Bruch, der sich innerhalb der beiden Großparteien vollzogen hat: Aufgrund der Auflösungserscheinungen traditioneller sozio-kultureller Milieus und den parallel dazu neugeborenen Mittelschichten und Themen entwickelten sich seit Anfang der 70er Jahre die alten Klassen- und Weltanschauungsparteien sukzessive zu "Allerweltsparteien".91 Plasser/Ulram führen die dennoch anhaltende Stabilität des Systems auf die Dominanz der Lagerkulturen (eins und zwei) sowie die hegemoniale Stellung ihrer parteipolitischen Repräsentanten in allen gesellschaftlichen und staatlichen Sektoren zurück.92 Gleichwohl wuchs der Kreis unentschlossener Wähler, der sich aus flexiblen neuen und jenen Schichten zusammensetzt, die sich emotional an eine Partei gebunden, aber immer weniger vertreten sahen, spürbar an.93

Sichtbare Folgen hatte diese Entwicklung 1986: Den Grünen ist es nach einem zuvor mißratenen Versuch gelungen, in den Nationalrat einzuziehen, und gleichzeitig konnte die FPÖ ihr Ergebnis erheblich verbessern. Damit hatten die beiden großen Parteien mehr als 10% der Stimmen verloren;94 zunehmende Wahlenthaltungen nicht mit berechnet. Dieser Trend hat sich bei den folgenden Nationalratswahlen bestätigt, wobei die FPÖ die größte Nutznießerin dieses Wandels ist. Sie erzielte nach ihren rund 16% von 1990 vier Jahre später 22,6% der Stimmen. Die Grünen verbesserten sich 1994 auf 7%. Bei diesen Abstimmungen ist mit dem Liberalen Forum eine weitere Kraft in den Nationalrat eingezogen, die sich auch nach den vorgezogenen Wahlen von 1996 behaupten konnte.95 Ein grundlegender Wandel des Parteiensystems hat sich damit vollzogen.

9.4.3. Modernisierung und SPÖ-Krise

Sozialpartnerschaft, Austro- oder besser: Kreisky-Keynesianismus und enorme Wohlstandsentwicklung bei gleichzeitiger Institutionalisierung eines breiten sozialen Netzes sind von den Wählern stets als sozialdemokratische Errungenschaften empfunden worden. Dies spiegelt sich auf nationaler Ebene wider, wo Sozialdemokraten, anders als auf dem Land, besonders stark waren. Mit Beginn der 80er Jahre stieß der "Österreichische Weg" wegen der krisenhaften Entwicklung westlicher Industrien an seine Grenzen, und der Spielraum einer auf Zuwachsverteilung basierenden Politik wurde geringer. Parallel dazu verschafften sich neo-konservative Repräsentanten aus Wirtschaft und Politik zunehmend Gehör, und in Medien und Bevölkerung machte sich eine negative Grundstimmung gegen die dirigistische Rolle des Staates auf wirtschaftlichem Sektor breit. Dadurch hatte die seit 1970 allein regierende SPÖ ihre absolute Mehrheit eingebüßt und war 1983 auf die FPÖ angewiesen.96

Zwar kann die Wirtschaftspolitik der Koalition unter bilanziellen und industriepolitischen Aspekten als erfolgreich bezeichnet werden; steigende Arbeitslosigkeit, Pensionsreform zu Lasten der Pensionäre und die Krise der Verstaatlichten Industrie97 provozierten aber Verunsicherungen bei den SPÖ-Wählern und einen spürbaren Imageverlust der sozialdemokratischen Partei, den auch die FPÖ zu spüren bekam. Für die deutschnationale Strömung war dies die Stunde, zur Demontage Stegers zu rufen, dem es innerhalb der Koalition nicht gelungen war, sich als eigenständig zu profilieren und damit neue Klientele zu erschließen.

Die Steger-Epoche gilt als liberale und wirtschaftspolitisch gesehen sogar als betont wirtschaftsliberale Phase. Nehmen wir einmal an, Steger wäre es gelungen, die Meinungsfüherschaft in der Partei zu erzielen und seinen Posten als Kanzler-Stellvertreter zu behalten. Welche Partei hätte dann von dem sich im Haider-Votum artikulierenden Protest profitiert? Die Grünen? Hätte sich mangelndes Vertrauen in die alten Parteien überhaupt bei Wahlen signifikant niedergeschlagen? Was wäre mit der FPÖ passiert? Spaltung der Partei mit einem in der Regierung und einem gegen sie arbeitendem Flügel? Hätten die Deutschnationalen überhaupt die Kapazität und das Geschick gehabt, Protestpotential in Stimmen für sie umzuwandeln? Hätte sich überhaupt ein derartig großes Protestpotential entwickelt, und wenn nicht, warum nicht? Leider müssen diese Fragen, so wichtig sie auch sind, unbeantwortet bleiben. Denn faktisch waren die Machtverhältnisse in Innsbruck auf seiten derer, die in Folge der SPÖ-Krise und den für die FPÖ niederschmetternden Prognosen98 zum außerordentlichen Parteitag nach Innsbruck riefen. Etliche Steger-Anhänger sind danach aus der Partei ausgetreten,99 zur SPÖ gegangen oder haben unabhängige liberale Zirkel gegründet.100 Nicht wenige haben der Politik ganz den Rücken gekehrt, und einer kleinerer Teil verblieb mehr oder minder frustriert in der Partei.

Diese "neue" FPÖ setzte von Anfang an auf eine gegen große Koalition, Sozialpartnerschaft und Verbände zielende Politik und konnte von der sich langsam offenbarenden SPÖ-Krise profitieren. Österreich galt über Jahrzehnte als Musterland eines funktionierenden Interessenausgleichs zwischen allen in der Arbeitsgesellschaft relevanten Kräften und die Institution Sozialpartnerschaft als Garant gütlicher Konfliktregelung und gerechter Verteilung. Kompetenzüberschneidungen und Machtmißbrauch als beinah vorgezeichnete Konsequenz der Versäulung wurden von der Bevölkerung toleriert, solange das System funktionierte. Die SPÖ als wichtiger Faktor dieses Kontextes war dabei mehr als nur eine Partei. Sie war ein sozialer Dienstleistungsbetrieb, der nötigenfalls Arbeit oder Wohnung besorgen konnte. Sie war zugleich kultureller Hort, wo Sport getrieben, Klassenkampf intoniert oder zusammen gefeiert wurde. Sie war damit ein integraler Teil des Arbeiterlebens. Der rasche Ausbau der Dienstleistungsgesellschaft in den 70er und 80er Jahren sowie die parallel dazu erfolgte technische Modernisierung und Rationalisierung im industriellen Bereich hatten gravierende Auswirkungen auf die Sozialstruktur.101 Im Verlauf dieses Prozesses sind neue Berufsprofile mit hohen qualifikatorischen Anforderungen entstanden; gleichzeitig wurden Tätigkeiten in der Industrie auch abgewertet und dementsprechend geringer bezahlt. Darüber hinaus hat sich eine Arbeitslosenquote herausgebildet, die in den 80er Jahren bei etwa 5% und seit Mitte der 90er Jahre schon bei 7% mit steigender Tendenz lag. Diese Faktoren haben den Spielraum von Sozialpartnerschaft und Sozialdemokratismus verkleinert. Mit der Ostöffnung Ende der 80er Jahre wurden die Verunsicherungen innerhalb der Gesellschaft noch weiter verstärkt. Denn mit diesem Ereignis ging die Wanderung billiger Arbeitskräfte nach Österreich und die Standortverlagerung österreichischer Unternehmen ins Ausland einher. Das bequeme Nischenleben zwischen den Blöcken, von dem Österreich viele Jahrzehnte profitiert hat, war definitiv beendet, und der Hort Sozialdemokratie vermochte keinen Schutz mehr zu geben. Seit Österreich Mitglied der EU ist, wächst zudem der Unmut der Arbeiter über die Beschäftigung billiger Kräfte aus dem südeuropäischen Ausland.

Es sind vor allem Arbeiter, die sich von der SPÖ thematisch und sozial vernachlässigt fühlen. Das jedenfalls ist das Ergebnis einer von der SPÖ in Auftrag gegebenen und sorgsam geschützten Studie, mit der sie den Ursachen ihrer eigenen Schwäche und dem parallel verlaufenden Aufstieg der Haider-Partei auf die Spur kommen will. Das von ihr beauftragte IFES-Institut attestiert der Partei nach zahlreichen Tiefeninterviews mit SPÖ-Abtrünnigen, daß "eine tiefe Frustration hochgesteckter Erwartungen (...) sich wie ein roter Faden durch alle Gespräche zieht". Auch die "Stichworte Protest, Privilegien, Politikerverdrossenheit - da und dort garniert mit Abstiegsängsten und Ausländerhaß - blitzen in so gut wie allen Interviews auf".102 Glühende Haider-Anhänger finden sich in der Ex-SPÖ-Wählerschaft erwartungsgemäß kaum, und häufig wird er aus diesem Kreis heraus nur zähneknirschend gewählt. Auch eine FPÖ-Alleinregierung wünscht sich kaum jemand. Gleichwohl gilt Haider als jemand, der die Bedürfnisse der sogenannten kleinen Leute thematisiert und sich in dieser Hinsicht von den anderen Parteien unterscheidet.103

Während sich das IFES-Institut gemäß seinem Auftrag darauf beschränkt, Interviews auszuwerten und darüber hinaus dem Glauben Ausdruck zu verleihen, daß gut die Hälfte der SPÖ-Abtrünnigen dauerhaft verloren sei, setzen sich Fritz Plasser und Peter A. Ulram mit den Hintergründen veränderten Wählerverhaltens auseinander. Sie führen den FPÖ-Erfolg innerhalb der Arbeiterschaft auf den Zusammenbruch sozialdemokratisch geprägter Milieus, Desintegration der Arbeiterkultur, neoliberale Wirtschaftsideologie und soziale Marginalisierung bzw. Modernisierungsängste zurück.104 "Der Tatbestand, daß die FPÖ bei Arbeitern mittlerweile zur zweitstärksten Partei geworden ist, aber auch bei den in der Privatwirtschaft Tätigen bzw. nicht-gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern zu einer ernsthaften Herausforderung des sozialdemokratischen Vertretungsanspruchs geworden ist, verdeutlicht die Tragweite und Brisanz der dahinterstehenden Konfliktdynamik."105 Sie wurde auch von der SPÖ erkannt, und im Winter 1996 haben sich hochrangige Parteirepräsentanten zusammengefunden, um über eine veränderte politische Strategie zu beraten. Einigkeit bestand vor allem darin, das Thema "soziale Gerechtigkeit" zurückzugewinnen und neu zu besetzen. Ob die SPÖ ihre sozialpolitischen Vorhaben innerhalb einer rot-schwarzen Koalition mit einer selbstbewußten und wahlarithmetisch flexiblen ÖVP durchsetzen kann, muß allerdings bezweifelt werden. Zumindest aber verweisen der Rücktritt von Vranitzky und die Wahl von Viktor Klima als Kanzler darauf, daß die rhetorische und politische Auseinandersetzung der SPÖ mit der FPÖ in eine neue Phase tritt. Denn Klima gilt unter habituellem Gesichtspunkt als eine wirksame Herausforderung an Jörg Haider.

9.4.4. Einwanderung und Privilegienwirtschaft

Seit Anfang der 90er Jahre wird von FPÖ-Wählern das sogenannte Ausländerproblem als zentrales Wahlmotiv genannt. Es rangiert damit direkt hinter dem Motiv "Privilegienwirtschaft" und ist innerhalb kurzer Zeit von einem hinteren auf den zweiten Platz hochgeschnellt.106 Die FPÖ und Haider haben dabei das Zusammentreffen von Wirtschaftskrise und Ostöffnung für parteipolitische Zwecke instrumentalisiert, d.h. sie haben eine Kausalität zwischen diesen beiden Faktoren hergestellt und darüber hinaus die kriselnde Sozialpartnerschaft weiter attackiert. Erstmals seit Bestehen der Zweiten Republik wurde sie auch zur Zielscheibe der Unternehmensverbände, die der gütlichen Einigung offensichtlich überdrüssig sind. Das dadurch ausgelöste Klima von Unsicherheit und Angst hat die FPÖ geschickt für ihre Zwecke ausgenutzt und sich als Partei "zorniger junger Arbeiter" und "verängstigter Pensionisten" profiliert.107

Die um ihre Wähler besorgten Parteien SPÖ und ÖVP haben sich in der Folge des von Haider lancierten "Ausländerthemas" angenommmen und die Grenzen für Flüchtlinge und Arbeitsmigranten beinahe undurchlässig gemacht. Dies führte neben einer Rüge des UNHCR108 beispielsweise auch dazu, daß ausländische Studenten, die bereits einen Studien- oder Praktikumsplatz in Österreich hatten, die Einreise verweigert wurde. Eine Korrektur der strengen Bestimmungen wurde allerdings seit dem Frühjahr 1995 diskutiert und ist inzwischen vollzogen.

In ihrem 1994 vorgelegten Forschungsbericht über die FPÖ unter Haider analysieren Fritz Plasser und Peter A. Ulram eine von ihnen als neue Rechte titulierte Wählerschaft, deren Anteil an der Gesamtwählerschaft 18% beträgt. Die FPÖ rekrutiert von diesem für Österreich neuartigen Protestpotential (Plasser/Ulram) etwa 33%.109 Merkmale dieser Gruppe sind: Niedriges Bildungsniveau, Überrepräsentanz älterer Bürger, soziale Immobilität "und ein ebenso verengtes Informationsniveau".110 Plasser/Ulram charakterisieren die in dieser Gruppe vorherrschenden und auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinenden Werthaltungen als hochgradig individualistisch und zugleich autoritär-hierarchisch. Die in der neuen Rechten vorherrschende Auffassung, jeder sei für sein eigenes Schicksal selbst verantwortlich, ist Ausdruck gewachsenen Mißtrauens in und Enttäuschung über Sozialpartnerschaft, Parteien und Institutionen. Obgleich staatliches, sozialpartnerschaftliches und solidarisches Handeln (etwa Wirtschaftshilfe in Krisengebiete) abgelehnt wird, gilt auf der anderen Seite der starke Staat zur Bekämpfung und Bestrafung von Normabweichungen als erstrebenswert. Wichtigstes Problem dieser Gruppe ist die sogenannte Ausländerfrage. Dies ist nicht ausschließlich Ausdruck einer autoritär-rigiden Grundhaltung, sondern muß auch "vor dem Hintergrund einer hochgradigen sozioökonomischen Verunsicherung dieser Gruppe, ihrem ausgeprägten Konjunkturpessimismus und drohenden Einbußen im persönlichen Haushaltsspielraum" betrachtet werden.111

1993 wurde diese Gruppe von den beiden Politologen differenziert: Sie nennen zwei Typen:

1. Der potentielle Modernisierungsverlierer mit einem Anteil von 17% an den Wahlberechtigten hat kein Vertrauen mehr in die sozialstaatliche Wachstumslogik, pocht auf Sicherung des materiellen Standards, lehnt Einwanderung tendenziell ab und ist durch die Rezession sowie durch das Tempo der gesamtgesellschaftlichen Modernisierung nachhaltig verusichert. Untersuchungen zufolge kann die FPÖ in dieser Gruppe auf 35% der Wählerstimmen kommen.

2. Deutlicher tauchen die unter Punkt 1 genannten Tendenzen bei dem materiell verunsicherten und autoritär eingestellten Systemverdrossenen auf (Anteil an der Wählerschaft: 16%). Die Verunsicherung stiftenden Momente führen hier zu "latent autoritären Verdrossenheitsreflexen".112 Nichterwerbstätige, Arbeiter und Pensionäre sind signifikant über-, Angestellte deutlich unterrepräsentiert. Der FPÖ kann es theoretisch gelingen, 40% dieser Gruppe an sich zu binden, während sich der Rest - nach parteipolitischen Präferenzen befragt - auf die beiden großen Parteien verteilen würde. Grüne und das Liberale Forum können aus dieser Gruppe keine Wähler gewinnen. Kennzeichnende Merkmale sind neben einem stark ausgeprägten Wirtschaftspessimismus die tendenzielle Befürwortung autoritärer Problemlösungen, Xenophobie und Ablehnung des Parteien- bzw. Sozialstaates. Die Größe dieser Gruppe "und die zunehmende Radikalität der Einstellungen in Form einer brisanten Mischung aus Wohlfahrtschauvinismus, defensivem Abwehrnationalismus sowie ausgeprägten anti-institutionellen und anti-parteistaatlichen Affekten stellt ein für populistische Appelle empfängliches, mobilisierungsfähiges Wählerpotential dar."113

Es fällt auf, daß zwischen den Ergebnissen der Plasser/Ulram-Studie und den Resultaten der vorhin zitierten IFES-Untersuchung einige Unterschiede bestehen. Dies liegt nicht zuletzt an verschiedenen Forschungsstrategien und an der Auswahl der Forschungsobjekte: Plasser/Ulram setzen sich vorwiegend mit der gesamten FPÖ-Wählerschaft seit 1986 auseinander und überprüfen zudem einen für die FPÖ potentiell zugänglichen Markt. Die IFES-Gruppe dagegen war nur an den direkt von der SPÖ zur FPÖ übergelaufenen Wählern interessiert. Dennoch ergibt sich daraus eine nicht unbeachtliche Schnittmenge. Deshalb ist es überraschend, daß die von Plasser/Ulram definierte Gruppe der neuen Rechten (sowie ihre Differenzierungen) in der IFES-Studie nicht auftaucht; auch nicht unter äquivalenten Bezeichnungen. Daraus will ich nicht vorschnell den Schluß ziehen, daß die IFES-Gruppe weniger sorgfältig gearbeitet hat. Aber sie war im Auftrag einer Partei tätig, die sich Sorgen um ihre Arbeiterwählerschaft und zugleich Hoffnung macht, aus den Ergebnissen thematische oder taktische Konsequenzen ziehen zu können. An einer mehrdimensionalen Langzeitstudie wird einer in Legislaturperioden denkenden Partei vermutlich wenig gelegen haben. Beide Erhebungen unterstreichen jedoch, daß die FPÖ Nutznießerin andauernder sozio-ökonomischer Probleme und mangelnder Lösungskompetenz von Regierung und Verbänden ist. Dies fördert die Bereitschaft eines großen Teils der Wählerschaft, Haiders einfachen, provokativen und, je nach Opportunität, auch kontradiktorischen Antworten zu folgen.

9.5. Diskussion

Die Parteiensysteme Frankreichs, Italiens und Österreichs haben sich aufgrund ähnlicher sozio-ökonomischer Entwicklungsprozesse gewandelt, wodurch die Voraussetzung geschaffen wurde, daß politische Außenseiter in die Strukturen eindringen oder sich signifikant verbessern konnten. Die sozio-ökonomische Modernisierung hatte aber nicht nur einen Wandel politischer Orientierungen zur Folge. Eng verbunden damit ist ein Wandel von Lebens- und Arbeitsgewohnheiten sowie die Überwindung von Traditionen. Die Modernisierung der Industrienationen hatte damit weitreichenden Einfluß sowohl auf die Bevölkerung als auch auf Verbände, politisch-kulturelle Subsysteme und Parteien. Von der zunehmenden Durchlässigkeit der hier relevanten Parteiensysteme konnten Organisationen profitieren, die sich trotz mancher Übereinstimmung in ihrem Staatsdenken und in ihren Themen und Inhalten voneinander unterscheiden. Zudem sind die drei Parteiensysteme unter dem Blickwinkel der Wahlgesetzgebung und der Regierungsbildung selbst verschieden. Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, den Erfolg des Front National, der Lega Nord und der FPÖ lediglich auf jene Faktoren zurückzuführen, die unmittelbar im Zusammenhang mit der Modernisierung stehen. Denn schließlich ist auch die Entstehung grün-alternativer Bewegungen in Österreich und anderswo oder der Auftrieb der französischen Sozialisten Anfang der 80er Jahre, um nur wenige Beispiele zu nennen, eine Folge gesellschaftlicher Modernisierung. Die in Frankreich, Italien und Österreich ähnlich verlaufenden Prozesse sind wichtige Voraussetzungen für den Erfolg der hier im Zentrum stehenden Parteien.

Die Tatsache, daß Gesellschaften sich wandeln und daß dieser Wandel Einfluß auf das Wahlverhalten hat, konstituiert jedoch noch keine Erfolgsbedingungen für Parteien, die zwischen System- und Establishment-Antagonismus schwanken, oft kompromißlose Forderungen erheben und das soziale Ressentiment zum integralen Teil ihrer "Problemdiagnosen" machen. Darum stellt sich die Frage nach der Qualität des gesellschaftlichen Wandels und den daraus resultierenden Konfliktlinien. Da Modernisierung aber kontinuierlich verläuft, stellt sich zudem die Frage, wann und in welchem Umfang unterschiedliche Wandlungsmomente zusammentreffen und ein Problemfeld konstituieren, das zur nachhaltigen Destabilisierung traditioneller Parteien und zum Erfolg neuer Akteure führt.

Wandel der Industriegesellschaft

Eine wichtige Erklärung für den Erfolg der drei, aber auch anderer (rechtsgerichteter) Protestparteien Westeuropas liegt im Ort ihres Durchbruchs, in den bevölkerungsreichen und industriellen Agglomerationen. Daß sie hier und nicht in der Provinz, auf dem Land oder innerhalb des konservativ geprägten Mittelstands erfolgreich sind, läßt auf wichtige Problemstrukturen schließen, die in den großen Zentren vorherrschen.

Die prosperierende Wohlstands- und Industriegesellschaft der ersten Nachkriegsjahrzehnte existiert nicht mehr. An ihre Stelle trat sukzessive eine diversifizierte Arbeitsgesellschaft mit kostenintensiven Tertiär- und rationalisierten bzw. modernisierten Industriesegmenten. Unter bilanziellem Aspekt sind die Industriestaaten nach wie vor erfolgreich. Diese Bilanzen verdecken jedoch die konjunkturellen Probleme zahlreicher Klein- und Mittelbetriebe, die gegen die Industriegiganten immer weniger bestehen können. Großunternehmen wiederum erzielen ihre steigenden Gewinne mit immer weniger Arbeitskräften. Darüber hinaus haben sich aufgrund veränderter Anforderungen die Berufsprofile erheblich verändert. Die negativen Folgen davon sind nicht nur aus Frankreich, Österreich oder Italien bekannt: überwiegend staatlich finanzierte Umschulungsprogramme, mit denen Arbeitslose für neue Jobs oder für die gestiegenen Leistungsanforderungen der Industrie fit gemacht werden, großzügige Vorruhestandsregelungen, Ausdehnung sozialer Transferleistungen und eine dennoch steigende Arbeitslosigkeit mit entsprechenden finanziellen Belastungen für den Staat. Letztlich ist dies eine einseitige Verlagerung volkswirtschaftlicher Kosten zu Lasten des Staates, der dort eingreifen muß, wo sich die Selbstregulierung des freien Marktes als Illusion entpuppt. Der Anspruch des Sozialstaats, den Benachteiligten einen gewissen Standard und Kaufkraft zu garantieren, wird schwerer einlösbar. Dies ist aber nicht das einzige Problem. Menschen, die aus dem Arbeitsprozeß ausscheiden, verlieren nicht nur finanziellen, sondern häufig auch sozialen Status.

Greifen wir zurück: Die sozio-ökonomische Modernisierung erforderte von der Bevölkerung ein hohes Maß an Mobilität, Flexibilität, Leistung und Bildung. Diese Anforderungen - und Chancen - hatten einen nachhaltigen gesellschaftlichen Wandel zur Folge. Eine dieser Folgen ist die Stärkung der politischen und soziologischen Mitte. Im Fall Frankreich bedeutet dies eine Überwindung des gaullo-kommunistischen Paradigmas und eine Stärkung des Zentrums und der sozialistischen Partei. Die österreichischen Klassenparteien ÖVP und SPÖ wandelten sich zu den von Pelinka so bezeichneten Allerweltsparteien, wobei die Auswirkungen im Vergleich zu Frankreich etwas anders waren: Obwohl die SPÖ in den 70er Jahren ähnlich wie die französischen Sozialisten stärker geworden war und nicht nur die nach rechts gedriftete ÖVP überrunden, sondern erstmals alleine eine Regierung bilden konnte, war sie unter regierungspolitischen Aspekt eine alte Bekannte. SPÖ und ÖVP haben die meiste Zeit gemeinsam am Ruder gesessen,114 wobei ihnen bis in die 80er Jahre hinein eine vergleichsweise unbedeutende Opposition gegenüberstand. Dies änderte sich erst Mitte der 80er Jahre parallel zu ökonomischen Krisenereignissen, mit denen Österreich zuvor und nicht zuletzt wegen der Kompromißbereitschaft der Sozialpartner besser hatte umgehen können andere Staaten. Aufgrund der ausgeprägten Polarisation hatte sich der Wandel von Parteien und Parteiensystem in Italien eher verdeckt vollzogen. Signifikante Merkmale sind die Öffnung des PCI und seine eurokommunistische Argumentation sowie die zunehmend bürgerliche Politik des PSI, der sich in den 70er Jahren vom PCI distanziert und sich stärker einer gemäßigten Wahlklientel angeboten hat. Damit konnte er in die Regierung eintreten, deren Partner zu diesem Zeitpunkt schwächer geworden waren.

Parteien und Bevölkerung sind von ihren Einstellungen her im Durchschnitt "gemäßigter" geworden und soziologisch und ideologisch weniger eindeutig zu kategorisieren. Die Modernisierung nach dem Zweiten Weltkrieg hatte also in dieser Hinsicht eine unitarisierende Wirkung. Wenn Bürger mit ihrer Lebenswirklichkeit einigermaßen zufrieden sind, wird es sie vermutlich wenig anfechten, daß die ÖVP ihrer Partnerin ähnlicher wird oder daß sich Andreotti und Craxi ohne nachhaltige politische Konsequenzen als Regierungschefs ablösen können. Anders verhält es sich in von Angst oder Unsicherheit gekennzeichneten Phasen. Es kann niemanden verwundern, daß politische Außenseiter ihre Chance erhalten, wenn die traditionellen Parteien als immer weniger unterscheidbar wahrgenommen werden, und weder der Opposition noch der Regierung die Kompetenz zugetraut wird, die sich hinter diesen Ängsten verbergenden Probleme zu lösen. Skepsis gegenüber traditionellen Parteien kann sich bis zur offenen Ablehnung steigern, wenn die Gefühle von Unsicherheit und Angst größer werden: Furcht vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, Statusunsicherheit, Wandel moralischer Leitlinien und der Verlust sozio-kultureller Bezugssysteme sind die in diesem Zusammenhang wichtigen Stichwörter.

Sozialwissenschaftler reden nicht zu Unrecht vom Extremismus der Mitte, wenn bislang gemäßigte Wählergruppen "ausbrechen" und ihre Stimmen denjenigen Protestparteien geben, die mit einfachen Schuldzuweisungen auf die Komplexität der Probleme antworten. Diesen Wählern stehen beinah spiegelbildlich jene gesellschaftlichen Gruppen gegenüber, die von der Modernisierung profitieren konnten und heute aus einer vergleichsweise sicheren sozio-ökonomischen Lage heraus die Folgen dieser Entwicklung kritisieren.

Hinzu kommt die Problematik großer Koalitionen vor allem dann, wenn sie - wie in Italien oder Österreich - keine Ausnahmen darstellen. Immerhin hatte auch der Front National seinen ersten nationalen Erfolg zur Zeit der cohabitation, die einer großen Koalition gleichkommt. Ich will dieses Argument jedoch nicht überstrapazieren, zumal das Vorhandensein einer großen Koalition allein weder Unmut noch Protestwahlverhalten erklären kann. Wenn dies so wäre, dann hätte sich die Schweiz schon längst zu einem politischen Unruheherd entwickelt. Die Franzosen haben mit dem Front National einen Außenseiter ins nationale Parlament gewählt. Damit unterscheidet er sich von den beiden anderen Parteien. Denn neben der FPÖ war auch die Lega Lombarda schon vor dem eigentlichen Durchbruch mit wenigen Senatoren und Deputierten auf nationaler Ebene präsent. Ungeachtet dieser Minimalpräsenz war aber auch die Lega ein politischer Outsider. Anders in Österreich, wo die FPÖ seit ihrer Gründung im Nationalrat vertreten war und bis auf die wenigen kleinkoalitionären Ausnahmejahre in der Opposition saß. Warum eigentlich blieb dem italienischen PCI als ebenfalls dauerhaft opponierender Partei das versagt, was der FPÖ zuteil wurde? Warum konnte nicht er statt der Lega von der Krise der Regierungsparteien profitieren? Augenscheinlich ist es kein ausreichender Grund, Oppositionsparteien im Rahmen einer parteipolitischen Vertrauenskrise nur deshalb stärker zu wählen, weil sie in der Opposition sitzen. Entscheidend war für Italien wohl die Tatsache, daß auch der PCI trotz seiner Sonderrolle im System verankert und damit ein Teil des traditionellen Parteiensystems war. Aber auch die FPÖ war im System verankert und zudem für kurze Zeit Regierungspartei. Beide Parteien weisen aber gravierende habituelle Unterschiede auf. Denn die nach 1986 erfolgreiche FPÖ hat sich als Anti-Establishment-Akteur und nicht als "Systempartei" präsentiert. Dagegen ist der PCI im Verlauf vieler Jahrzehnte immer gemäßigter geworden. Vor allem hat er von frühen Ausnahmen abgesehen niemals einen alle übrigen Parteien und Institutionen umfassenden Überfeind konstruiert und sich als alleinige und ausschließliche Alternative dargestellt. Er hat im Gegenteil vieles unternommen, um von den übrigen Parteien und besonders von der DC als politischer Partner anerkannt zu werden. Schließlich darf die ideologische Positionierung nicht außer acht gelassen werden: PCI/PDS gelten aus der eigenen und der Fremdperspektive als links, wobei "links" nicht erst seit Norberto Bobbios Gedanken über den Begriff115 für den Kampf um gesellschaftliche Gleichheit steht. Dieser Gleichheitsgedanke wird von den hier untersuchten Parteien nicht vertreten. Sie drehen vielmehr den argumentativen Spieß herum und behaupten mitunter, daß sie als Organisationen und die von ihnen angeblich repräsentierte "Gemeinschaft" selbst Opfer rassistischer Verfolgung oder Benachteiligung sind.116

Protestparteien neuen Typs?

Die französische Linke wurde Anfang der 80er Jahre an die Regierung gewählt, als das Land bereits gravierenden wirtschaftlichen Problemen ausgesetzt war. Diese Linke hatte nicht nur einen großen Teil der Arbeiterwählerschaft, sondern zudem zahlreiche Wähler hinter sich, die auf den sozialistischen Reformismus in allen gesellschaftlichen Bereichen setzten. Finanziell aufwendige Vorhaben wurden jedoch aufgrund der wirtschaftlichen Schwierigkeiten hintangestellt, und die Regierung nahm dagegen einen neoliberalen Kurs, den man von einer wirtschaftsliberalen Rechten erwartet hätte.

Die der traditionellen Rechten kaum zugeneigten Wähler aus dem Arbeitermilieu waren von den Sozialisten enttäuscht. "Gewonnen hat unter Mitterrand vor allem die rechtsextreme Front national" schlußfolgert ein Zeit-Korrespondent daher nicht zu Unrecht.117

Enttäuschung über sozialdemokratische Politik war auch in Österreich ein wichtiges Motiv vieler Wähler aus dem Arbeiter- und Angestelltenmilieu, ihre politische Heimat zu wechseln. Die an Zuwachsverteilung und eine mehr oder minder funktionierende Sozialpartnerschaft gewöhnten Wähler wurden durch den Wandel ökonomischer Handlungsprinzipien verunsichert. Dabei gilt der nach wie vor verehrte "Sonnenkanzler" Kreisky als Sozialpolitker, der notfalls Schulden in Kauf nimmt, Vranitzky dagegen als neoliberaler Technokrat.118 Zwar verspricht Haider keine Renaissance des Wohlfahrtsstaates. Er bezeichnet sich mit Blick auf seine neue Klientel aber als einen Schüler Kreiskys, dem er gute Absichten, aber einen zu geringen ökonomischen Weitblick attestiert.119 Damit taktiert er geschickt, denn er appelliert an die Kreisky-Gefühle traditioneller SPÖ-Wähler und stellt sich selbst als Hüter sozialer Gerechtigkeit dar, der passenderweise über das richtige ökonomische Handwerkszeug verfügt. Er bedient sich der SPÖ-Tradition und attackiert zugleich ihre politischen Instrumentarien sowie generell die "Privilegienwirtschaft" der Repräsentanten beider Großparteien und der Verbände. Das Fazit von Plasser/Ulram, wonach die FPÖ eine "protestorientierte Arbeiterpartei neuen Stils" sei, ist auf diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung ihrer Klientel nicht nur trefflich,120 sondern auch auf den FN und andere Protestparteien übertragbar.

Ein Zusammenhang zwischen desillusionierten Links- bzw. Arbeiterwählern und Protestwahlverhalten beschränkt sich im übrigen nicht nur auf Frankreich und Österreich. Ebenso läßt sich dies in Belgien in Bezug auf den Vlaams Blok und seine Wählerschaft121 und in Skandinavien beobachten, wo die Fortschrittsparteien auch aus dem Vertrauensverlust vieler Bürger in die Sozialdemokratie elektorales Kapital schlagen konnten.122

In Italien fehlt das linke Regierungsäquivalent und ein damit verbundenes Frustrationspotential. Aber es gab bis in die 90er Jahre hinein klientelistisch agierende Regierungen, die ihre Wähler mit etlichen Leistungen versorgt und damit im eigenen Lager gehalten haben. Daß auch die kommunistische Gegenseite nicht vergessen wurde, ergibt sich aus der Legitimationsgrundlage des alten Parteiensystems. Erst nachdem der Zustand der (auch) durch diesen Klientelismus ruinierten Staatsfinanzen nicht mehr zu leugnen war und zudem klar wurde, daß eine rigide Haushaltspolitik gleich unter wessen Ägide vonnöten sei, haben sich die norditalienischen Wähler für die einfache Rezeptur der Lega Nord entschieden. Es scheint daher nicht so sehr die Frage linker oder rechter Regierungen zu sein, unter deren Amtsgeschäften Protestparteien Zulauf haben. Weitaus wichtiger sind Inhalte und die Richtung dieser Regierungspolitik. Sie kann auch unter bürgerlicher Federführung durchaus sozialstaatlich akzentuiert und auf Ausgleich bedacht sein. Seit dem Ende des Systemkonflikts reden neoliberale Kräfte besonders gern vom "Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts" und zielen dabei gegen den heute existierenden Sozialstaat. Daß ein gravierender sozialstaatlicher Abbau politische und soziale Folgen hat, scheint man in Kauf nehmen zu wollen. Jedenfalls korreliert der Auftrieb rechter Protestparteien auffallend mit dem wachsenden Selbstbewußtsein neoliberaler Strömungen und mit dem Rückzug des Staates aus der Wirtschaftspolitik.

Wenn der Wohlfahrtsstaat an seine Grenzen stößt, klientelare Strukturen und subkulturelle Sicherheiten wegfallen und zudem die Meinung vorherrscht, daß ein normal herbeigewählter Regierungswechsel keine positiven Veränderungen bringt, dann kann das Terrain für Outsider oder Protestparteien entstehen. Sie nutzen die gegen traditionelle Parteien bestehende Skepsis und schüren sie. Mit ihrem national, ethnisch oder regional gefärbten Solidaritätsverständnis erteilen sie zugleich der solidarischen Gesellschaft eine Absage und machen Minderheiten für die vorherrschenden Probleme verantwortlich. Paradoxerweise gewinnen diese Parteien einen Großteil ihrer Stimmen von Wählern, die verunsichert und auf Sozialleistungen angewiesen sind.

Der populistische Moment

Wenden wir uns den populistischen Momenten in den drei Ländern zu.

Für Frankreich bezeichne ich das Zusammentreffen von ökonomischer Krise und politischer Desillusionierung als populistischen Moment. Man könnte auch von einer Modernisierungskrise reden, weil die politische Linke Anfang der 80er Jahre die Macht aufgrund ihres Versprechens erhalten hat, die gesamte Gesellschaft zu verändern, dieses Versprechen aber nicht halten konnte. Nun konstituiert nicht jedes uneingelöste Wahlversprechen schon einen populistischen Moment. Es war vielmehr die prekäre Koinzidenz von gravierenden wirtschaftlichen Problemen und den enttäuschten Erwartungen in eine Linke, die sich bis 1980 vergeblich um politische Meinungsführerschaft bemüht hatte und nun erstmals die gesamte Verantwortung trug. Zudem handelte es sich auch nicht um temporäre wirtschaftliche Probleme. Vielmehr war es der Beginn einer Zeit mit Arbeitslosigkeit auch auf zeitlich hohem Niveau (Dauerarbeitslosigkeit), dauerhafter Konjunkturschwächen und hoher Staatsverschuldung und zugleich das Ende wachsenden Wohlstands. Mit Blick auf das nach wie vor geringe Einkommensniveau der französischen Arbeiterschaft ist es leicht nachzuvollziehen, daß gerade in dieser Gruppe die Frustrationen über den "verpatzten Aufbruch" besonders hoch waren. Erinnert sei hier ein weiteres Mal an die für Frankreich typischen Schlafburgen. Gerade die peripheren Massenunterkünfte mit ihrer an der Arbeitsgesellschaft orientierten Zweckerfüllung bergen dann ein Konfliktpotential, wenn genau diese Arbeitsgesellschaft nicht mehr funktioniert. Die Modernisierung hat überall in Europa einen Verlauf genommen, der zur schrittweisen Atomisierung des Arbeitermilieus geführt hat.

Eng verbunden damit ist die (Identitäts-)Krise der Linken, deren Legitimation auch vom Vorhandensein einer Arbeiterschaft als Subjekt abhängt. Wenn ich das Zusammentreffen von ökonomischer Krise und politischer Desillusionierung als populistischen Moment bezeichne, dann unterscheide ich zwischen den komplexen Problemstrukturen, die für den Erfolg des Front National verantwortlich sind, und dem Auslöser; oder besser: dem Augenblick, in dem sich ein Krisenbewußtsein manifestiert (das sich später materialisiert).

Vielleicht ist das Wort Bewußtsein schon zu weit gegriffen. Es reicht möglicherweise das von Dubiel hervorgehobene "Empfinden verletzter Gerechtigkeit", die "Kränkung sozialer Ehre" oder die "Ahnung vorenthaltenen Glücks".123 Wenn soziale Milieus erodieren, die zu ihnen gehörenden Individuen sich in den gesellschaftlichen Strukturen nicht mehr zurechtfinden und die Angst vor sozialer Desintegration umgeht, dann hat dies auch Einfluß auf die Selbstwahrnehmung einer Gesellschaft und auf ihre politische Kultur. Damit ist angedeutet, warum der Front National Stimmen aus allen sozialen Milieus holt. Seine über das Einwanderungsthema erfolgte Verknüpfung von sozialen und nationalen Aussagen ermöglicht es ihm, enttäuschte Arbeiterwähler ebenso an sich zu binden wie Nationalisten und Kulturpessimisten unterschiedlichster Provenienz, die den republikanischen Gleichheitsgedanken und die demographische bzw. wirtschaftliche Globalisierung für die Probleme Frankreichs verantwortlich machen.

Gemessen an den theoretischen Überlegungen kann man Italien fast als Labor-Fall betrachten. Der populistische Moment im Zeitraum des von mir untersuchten Landes war der Fall der Mauer und das definitive Ende des Ost-West-Konflikts. Dieses Ereignis korreliert mit weiteren Krisenmomenten: Krise aller traditionellen Parteien und die dadurch bedingte Krise des gesamten Parteiensystems. Bereits Jahre zuvor hatte sich eine Budgetkrise abgezeichnet, die nun mit internationalen Konjunkturproblemen zusammentraf. Mit Blick auf das durch die Richterschaft aufgedeckte Korruptions- und Kriminalitätsniveau bis hinauf zu den Führungseliten aller Institutionen läßt sich durchaus auch von einer moralischen Krise reden. Diese Kumulation erklärt die Tragweite und die Rasanz der Veränderungen, die Italien im Vergleich zu Frankreich und Österreich zu einem Sonderfall machen. Mit der Lega präsentierte sich eine junge und vorgeblich nicht korrumpierbare Kraft, die den vermeintlich richtigen Weg aus der Krise wies; freilich nur für einen Teil der Italiener. Dabei war der Norden stärker als andere Regionen von den genannten Krisen direkt oder indirekt betroffen: Hier muß das Gros der in den Süden transferierten und dort häufig veruntreuten Gelder erarbeitet werden. Zudem hat der industrialisierte Norden gravierende Transformationsprozesse durchgemacht. Dabei ist er nicht nur mit einer steigenden Arbeitslosigkeit, sondern auch mit einer wachsenden Immigration konfrontiert, der kaum eine Nachfrage an Arbeitskräften gegenübersteht. Verglichen mit anderen italienischen Gebieten weist der Norden mit kaum mehr als acht Prozent eine geringe Arbeitslosigkeit auf. Sie ist aber aufgrund der Industrialisation mit den entsprechenden demographischen und sozialen Folgen von einer anderen Qualität. Dazu kommt die Sorge, auf den internationalen Märkten ins Hintertreffen zu gelangen, wenn nicht genügend Mittel für technische Innovation und bürokratische Effizienz zur Verfügung gestellt werden können. Die Norditaliener brauchen kein nationalökonomisches Studium zu absolvieren, um auszurechnen, wem die Hauptlast bei der Sanierung des heruntergewirtschafteten Staates zufällt. Auf diesem Hintergrund muß die betont neoliberale Argumentation der Lega gesehen werden. Gleichwohl beinhaltet dieser Neoliberalismus auch sozialpolitische Versprechungen, die nach einer vollzogenen Teilung oder Föderalisierung des Landes eingelöst werden sollen. Die auf Totalprivatisierung zielenden Forderungen etwa im Gesundheits- oder Bildungsbereich verlieren vor diesem Hintergrund erheblich an Bedrohung.

Anfang der 90er Jahre ist es der FPÖ gelungen, erstmals einen signifikanten Anteil von Arbeiterwählern an sich zu binden. In dieser Zeit haben sich nicht nur die wirtschaftlichen Probleme des Landes verschärft; diese Entwicklung fällt mit der Ostöffnung und den ersten damit einhergehenden Konsequenzen zusammen. Der populistische Moment ist damit in Österreich genauso wie in Italien wesentlich durch den Wegfall des Systemkonflikt gekennzeichnet, wenngleich dieses Ereignis für die Alpenrepublik eine andere Bedeutung hatte als für seinen südlichen Nachbarn. Die im Arbeitermilieu beheimateten Wähler waren bzw. sind in erster Linie von den sozio-ökonomischen Folgen der Ostöffnung betroffen und verunsichert. Wie ein Blick in die Geschichte zeigt, war das österreichische Selbstverständnis aber auch zuvor erheblich durch den Ost-West-Gegensatz geprägt.

Österreich ist nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Willen der Alliierten ein eigenständiger Staat geworden, wobei die UdSSR gleichzeitig auf seiner Neutralität bestanden hatte. Als eine Art Gegenleistung für das Neutralitätsversprechen durfte sich Österreich als erstes Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft betrachten.124 Durch diese zum Teil schattendiplomatisch ausgehandelten Übereinkünfte brauchte das für kriegspolitisch unschuldig erklärte Österreich keine Reparationszahlungen zu leisten und konnte zudem jene Industrien in Besitz nehmen, die sich auf heimischem Territorium befunden haben und zuvor in deutscher Hand waren.125 Andererseits erhielt Österreich umfangreiche finanzielle Hilfen aus dem Marshall-Plan und hohe Zuwendungen des European Recovery Program.126 Mit dem 1955 in Kraft getretenen Staatsvertrag wurde die volle Souveränität Österreichs hergestellt und die "immerwährende Neutralität" der Zweiten Republik wenig später in die Verfassung aufgenommen. Durch diese Voraussetzungen hatte der Staat gute finanzielle Startbedingungen, wobei er zusätzlich Selbstbewußtsein und Ansehen durch die mit seiner Neutralität verbundene Außenpolitik gewinnen konnte. Dazu gehörte auch die frühzeitige Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu den osteuropäischen Ländern, die sicherheitspolitisch geboten und wirtschaftlich äußerst einträglich waren. Auf der anderen Seite wurden Kontakte zur EWG geknüpft, wobei ein Beitritt aufgrund der Neutralitätsklausel staatsrechtlich umstritten war (ein Beitritt zur NATO galt hingegen als ausgeschlossen; mittlerweile werden die entsprechenden Argumente auch in dieser Hinsicht ausgetauscht).

Die Beendigung des Systemkonflikts hatte weitreichende Folgen: Der deutsche Nachbar ist gewachsen; im Zusammenhang mit der Befreiung Osteuropas waren Konflikte in österreichischen Nachbarstaaten nicht auszuschließen; weite Teile Ex-Jugoslawiens haben sich zu Krisen- und Kriegsherden entwickelt; der bereits zuvor ins Auge gefaßte EG-Beitritt wurde forciert; der "diplomatische Wert" der neutralen Nation Österreich ist mit der Überwindung des Konflikts gesunken; und schließlich gab es für die Bevölkerung die viel unmittelbareren Erfahrungen durch die Ostöffnung: Arbeitswanderung von vielfach illegalen Arbeitskräften aus Osteuropa nach Österreich, Verlagerung eines Teils der österreichischen Kaufkraft ins benachbarte und weitaus billigere Ausland sowie Firmenverlegungen. Generell dürfte es sich positiv auswirken, wenn sich heimische Unternehmen in den osteuropäischen Schwellenländer ansiedeln, denn dort wird Kaufkraft geschaffen, die auch dem heimischen Markt zugute kommt. Damit werden die Unternehmen aber auch unabhängiger von der inländischen Wertschöpfung. Menschen fallen aus dem Erwerbsprozeß heraus und werden von sozialen Leistungen abhängig, die ihrerseits nicht beliebig ausdehnbar sind. Damit werden Ökonomie und Sozialpolitik zu größeren Konkurrenten. Diese Entwicklung fiel in Österreich zeitlich mit der Wirtschaftskrise zusammen.

Bereits Mitte der 80er Jahre ist deutlich geworden, daß sozialdemokratische Politik an ihre Grenzen gestoßen ist. Dies hat sich später auch wahltaktisch niedergeschlagen. Wenn sich die Prognose des IFES-Institutes bestätigen sollte, wonach gut die Hälfte der zur FPÖ gewanderten ehemaligen SPÖ-Wähler aus dem Arbeitermilieu dauerhaft verloren sei, und die SPÖ weiterhin Stimmen an Grüne und das Liberale Forum verliert, dann kann sie sich mittelfristig zu einer 30%-Partei entwickeln. Aus einer dauerhaften Reduktion ansonsten guter Wahlergebnisse erwächst freilich noch keine Krise. Die Stimmeinbußen zeigen vielmehr einen gesamtgesellschaftlichen Wandel an: Negativwachstum, Abbau des Wohlfahrtsstaates, steigende Arbeitslosigkeit, vermehrt unsichere Arbeitsplätze, Diversifizierung des Arbeitsmarktes, Wegfall klientelistischer Strukturen etc. Schließlich wurde 1995 der EU-Beitritt vollzogen, der zwar von der Bevölkerung mehrheitlich befürwortet wurde, aber zugleich nachhaltige sozio-ökonomische und politische Folgen hat. So wurde etwa die Arbeitswanderung nach Österreich von den Sozialpartnern traditionell gesteuert. In Bezug auf EU-Bürger ist dies aufgrund der Freizügigkeit nicht mehr möglich. Gleichzeitig werden Warenverkehr, Preise und Produktion durch die Brüsseler Bürokratie reguliert (oder auch dereguliert). Nicht zuletzt diktiert der Maastricht-Vertrag weitgehend die Steuer-, Budget- und Verschuldungs- und damit auch die Sozialpolitik der Unterzeichnerstaaten. Die Republik hat damit viele Kompetenzen zu einer Zeit abgetreten, in der wirtschaftliche und budgetäre Probleme kumulieren. Es bleibt abzuwarten, ob die Pro-EU-Parteien in die Defensive geraten, und inwieweit der ehemalige Beitritts-Befürworter und heutige Gegner Haider soziale Ängste auch mit dem EU-Thema zu instrumentalisieren und zu stimulieren versucht. Österreich macht unter dem Strich derzeit einen gravierenden Modernisierungsprozeß auf unterschiedlichen Ebenen durch, der neben der sozio-ökonomischen Komponente im engeren Sinn auch staatsrechtliche und bündnispolitische Momente umfaßt. Der Ostöffnung liegt zudem eine gewisse Symbolik zugrunde. Denn sie beendete eine Epoche, die für Österreich in vielerlei Hinsicht recht fruchtbar war.


Inhalt
Kap. 1
Kap. 2
Kap. 3
Kap. 4
Kap. 5
Kap. 6
Kap. 7
Kap. 8
Kap. 9
Kap. 10
Literaturverzeichnis