Susanne Falkenberg: Populismus und Populistischer Moment im Vergleich zwischen Frankreich, Italien und Österreich

Inhalt
Kap. 1
Kap. 2
Kap. 3
Kap. 4
Kap. 5
Kap. 6
Kap. 7
Kap. 8
Kap. 9
Kap. 10
Literaturverzeichnis

4. Einführung in den komparativen Block

Nach den theoretischen Ausführungen werde ich mich detailliert mit den in dieser Arbeit relevanten Organisationen auseinandersetzen. Dabei bediene ich mich des eingangs beschriebenen direkten und unmittelbaren Vergleichs, mit der die Besonderheiten und Entwicklungen der Parteien sowie die Bedingungen ihres Erfolgs analysiert werden. Besonders wichtig ist dabei eine Untersuchung der drei Parteiensysteme sowie eine Analyse sozio-ökonomischer Entwicklungsprozesse und gesellschaftlicher Krisenerscheinungen.

Diesem umfangreichen Komplex gehen zunächst zwei Kapitel über rechte Stammkulturen und Faschismus sowie die Entwicklung des Rechtsextremismus nach dem Zweiten Weltkrieg voraus. Obgleich diese Kapitel für meine unmittelbaren Fragestellungen wenig bedeutsam sind, halte ich das Nachzeichnen rechter Kontinuitäten in Österreich, Frankreich und Italien für wichtig. Denn deren Kenntnis schafft die Voraussetzung, die im Zentrum dieser Arbeit stehenden Parteien entsprechend zuzuordnen.

Es wird sich noch zeigen, daß die ideologische Einordnung der Lega Nord schwierig ist. Sie war sicher nie rechtsextrem und "doch auf ihre Weise von Anfang an extremistischer als die rechten Parteien Europas. Denn während diese Parteien ihren Nektar aus bestimmten Politikfeldern saugen, startete die Lega einen Generalangriff auf den italienischen Staat".1 Obwohl sich die Lega in dieser Hinsicht also von den anderen Parteien unterscheidet, werde ich Italien in den beiden folgenden Kapiteln unter den gleichen Fragestellungen untersuchen wie Frankreich und Österreich. Dies ist aus Gründen der Vollständigkeit des Ländervergleichs geboten.

4.1. Rechtes politisches Denken in Frankreich, Italien und Österreich - Stammkultur und Faschismus

Im Zentrum des folgenden Kapitels stehen jene rechte Strömungen, die in Frankreich, Italien und Österreich eine lange Tradition haben oder von besonderer Bedeutung sind. Ihre völlig trennscharfe Systematisierung ist allerdings nicht möglich, was "Koalitionsbildungen" miteinander konkurrierender Strömungen ebenso verdeutlichen wie die Entwicklung der Rechtsextremismen nach dem Zweiten Weltkrieg, die im anschließenden fünften Kapitel untersucht werden.

4.1.1. Frankreich

Gemeinhin und zurecht werden die Wurzeln rechten politischen Denkens auf die gegenrevolutionären Bewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts zurückgeführt. Aber auch die Revolution selbst schuf mit dem Nationalstaat die Bedingung für rechtes und insbesondere für nationalistisches Denken: "Die dominierende Bourgeoisie und die bürgerlichen Gesellschaftsformationen haben sich wechselseitig durch einen 'Prozeß ohne Subjekt' konstituiert, indem sie den Staat in der nationalen Form umstrukturierten und den Status sämtlicher Klassen veränderten, was die gleichzeitige Genese von Nationalismus und Kosmopolitismus verständlich macht".2 Zugleich wurde mit der Emanzipation des aufstrebenden Bürgertums die Entwicklung des Besitzstandskonservatismus eingeleitet.3

Während hier eher von abstrakten Entwicklungsprozessen die Rede ist, wende ich mich nun den explizit gegenrevolutionären Strömungen zu. Dazu zählen royalistisch-klerikale Kräfte, das organisierte gegenrevolutionäre Bürgertum sowie der Bonapartismus als Negation von Ancien régime und bürgerlichem Parlamentarismus. Der bislang umfassendste Systematisierungsversuch4 geht auf René Rémond zurück:5

1. Als entschiedenste gegenrevolutionäre Strömung bezeichnet er die vor allem in der Restaurationszeit einflußreichen Royalisten, deren Weltanschauung sich über die Action française bis zum heutigen katholischen Integrismus sowie zur neurechten Denkschule Groupement de Recherche et d'Études pour la Civilisation Européenne (GRECE) weiterverfolgen läßt.6 Allerdings ist mit Marieluise Christadler darauf hinzuweisen, daß GRECE aufgrund seiner antichristlichen Ideologie nicht der Kernfamilie der Legitimisten zuzuordnen ist.7

2. Die liberal-konservativen Orléanisten, während der Juli-Revolution entstanden, vertraten die Interessen des aufstrebenden Bürgertums, das zwar vom Kapitalismus profitierte, seiner Geburtshelferin Revolution aber skeptisch gegenüberstand.8 Als vorläufig letzte Strömung dieser Gruppe nennt Rémond den Giscardismus.9

3. Die 1848 gegründete und aus Anhängern des 1851 durch Staatsstreich an die Macht gelangten Louis Bonaparte bestehende bonapartistische Bewegung vereinigte unterschiedliche autoritäre und nationalistische Strömungen. Im Boulangismus und anderen nationalistischen sowie antisemitischen Organisationen, in verschiedenen Zwischenkriegsligen, schließlich im Gaullismus und Poujadimus sieht Rémond die Tradition des Bonapartismus weiterleben bzw. neu aufgelebt.

In den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts wurde Frankreich nach einer kurzen Phase sozialer und bildungspolitischer Reformen von der großen Depression erfaßt. Diese Krise nutzte den Monarchisten und Bonapartisten, die bei den Wahlen von 1885 nur knapp die absolute Mehrheit verfehlten. Ihr gewachsenes Selbstbewußtsein und ihre gesellschaftliche Akzeptanz zeigten sich wenig später im Zusammenhang mit der Boulanger-Krise 1887/88 und der Dreyfus-Affaire Ende des 19. Jahrhunderts. Antisemitismus, Antikapitalismus und Antiparlamentarismus sowie das Leitbild einer auf nationaler Gemeinschaft basierenden Gesellschaft bildeten dabei die auf große Zustimmung stoßende Gegenideologie zum liberal-republikanischen Denken. Im Verlauf der Dreyfus-Affaire wurden zahlreiche rechte (vielfach von linken Themen und Personen inspirierte) Diskussionszirkel und Clubs gegründet, von denen sich die Ligue d'Action française (AF) um Charles Maurras und ihr studentisches Tochterunternehmen zur wichtigsten intellektuellen Strömung mit bis zu 60 000 Mitglieder entwickelt hat. Mit ihrer an Traditionalismus, Nationalismus (integraler Nationalismus) und Positivismus orientierten Ideologie und ihrem taktischen Brückenschlag zwischen populärem Radikalismus der Nationalisten und elitärem Monarchismus hat sie die Grundlage für eine Massenbewegung geschaffen.

Besondere Bedeutung hatte dabei die von der Action française 1908 gegründete Tageszeitung, die unübersehbaren Einfluß auf das gesellschaftliche Klima nahm und zu seiner Radikalisierung beitrug. Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs war das Thema Dreyfus und seine Rehabilitierung immer wieder Gegenstand wüster Agition. Während des Ersten Weltkriegs wurde es still um die AF, aber in den 30er Jahren haben sich weitere, stark von ihr beeinflußte Gruppierungen, Ligen und Clubs formiert, die von der in Frankreich verspätet auftretenden Weltwirtschaftskrise profitieren konnten. Zur stärksten Kraft avancierte der Parti Populaire Français mit zeitweilig 250.000 Mitgliedern. "Kennzeichen dieser Zwischenkriegsrechten - deren Machtübernahme nur durch das Volksfrontbündnis aus Sozialisten, Kommunisten und Liberalen (Radicaux) verhindert wird - bleibt die organisatorische wie ideologische Heterogenität. Konservative, monarchistisch-klerikale Elemente bestehen neben nationalistischen und antisemitischen, bis hin zum offenen Faschismus."10 1940 schließlich ist es der extremen Rechten gelungen, erstmals die alleinige Macht zu erzielen. Damit ging die Niederlage liberal-republikanischer Politik einher, an deren Stelle von Marschall Pétain der autoritärkorporatistischen Staat gesetzt wurde.

Über das Vorhandensein und die Bedeutung eines eigenen französischen Faschismus wird in Frankreich gestritten. Die extremsten Antworten auf die Frage nach Präsenz, Relevanz und Originalität geben René Rémond und Bernard-Henri Lévi sowie der israelische Historiker Zeev Sternhell. Mit Verweis auf die politische Hegemonie der "klassischen" Rechten verneint Rémond ausdrücklich die Entstehungschancen eines französischen Faschismus und spricht "lediglich von Adaptionen außerfranzösischer Vorbilder".11 In eine ähnliche Richtung zielt Pierre Milza, für den Vichy in erster Linie ein durch von außen kommendes und durch die militärische Niederlage Frankreichs ermöglichtes Regime war.12 Dagegen hält Lévy den Faschismus für eine "genuin französische" und vor dem Ersten Weltkrieg entwickelte Ideologie, die zur faschistischen Revolution des Pétain-Regimes geführt habe.13 Mit seiner "These attackiert Lévy nicht nur den 'Geschichtsbuch-Mythos vom gewaltsam importierten Faschismus', er deckt gleichzeitig den Anteil der Linken an der 'französischen Ideologie' auf".14

In eine ähnliche Richtung zielt die Argumentation von Zeev Sternhell. Er unterscheidet mit der liberal-konservativen und der revolutionären Rechten nur zwei rechte Grundströmungen, wobei er letztere für den Faschismus als Synthese aus Nationalismus und Sozialismus verantwortlich macht.15 Auch Michel Winock bringt Vichy mit zwei rechten Strömungen in Verbindung: 1. Mit dem National-Populismus, der zum Teil im Vichy-Regime wieder auftaucht und16 2. die gegenrevolutionäre, katholisch-royalistische Linie, die von 1789 bis zur Action Française führt.17

Zwischen diesen Extremen finden sich unterschiedliche Einschätzungen: Henry Rousso bezeichnet Vichy als ein "Bürgerkriegsphänomen",18 Jean-Pierre Azèma als "autoritär, aber nicht faschistisch",19 Thammer/Wippermann sprechen von einem Regime, das rechte Kontinuitäten "in Themen und Personen" aufwies.20

Damit stellt sich die Frage nach den Wurzeln faschistischen Denkens und seinem Wirken im real existierenden État français. Wird Faschismus mit Mussolini gleichgesetzt, dann hätte Frankreich in der Tat wenig damit zu tun. Zwar sind auf organisatorischer Ebene einige Gruppierungen zu nennen, deren politische Inhalte und ideologischen Anleihen als faschistisch bezeichnet werden können,21 doch lassen sie sich nicht mit Weltanschauung und Strategie "Mussolinis unter einen Hut bringen".22 Begreift man Faschismus hingegen als Antithese revolutionärer Ideale, muß in seine Analyse vor allem der Action-française-Gründer Charles Maurras einbezogen werden, der, so Ernst Nolte, "den ganzen Strom des gegenrevolutionären Denkens seit 1789 in sich aufgenommen, verwandelt und für seine Zeit und seine politische Partei neugeformt hat".23

4.1.2. Italien

Ein gegenrevolutionäres Äquivalent gibt es in Italien nicht, da Adel und Bürgertum einen risorgimentalen Kompromiß geschlossen haben.24 Diese auch den Widerstand der europäischen Großmächte neutralisierende Übereinkunft wurde möglich, nachdem sich das gemäßigte Bürgertum (moderati) gegen den revolutionären Flügel der Risorgimento-Bewegung (democratici) durchgesetzt hatte. Mit der sozialistischen und der christlichen Arbeiterbewegung sowie dem Klerus hatte der unitarisch-liberale Staat potente Widersacher. Das ebenfalls christliche und föderalistische Neo-Guelfentum dagegen war ein bedeutender Motor der italienischen Einigungsbewegung gewesen.25

Mit der Annexion des Kirchenstaates 1870 entwickelte sich der Klerus zur zeitweilig wichtigsten oppositionellen Kraft, wobei der Vatikan nicht zur aktiven Opposition oder zum Kampf gegen den laizistischen Staat, sondern zur Nicht-Teilnahme am politischen Leben aufgerufen hat. Spürbare Annäherung zwischen Staat und Klerus vollzog sich erst um die Jahrhundertwende; bemerkenswerterweise zu einem Zeitpunkt also, als die politische Rechte erstarkt war.

Der Parlamentarismus der ersten Jahre war von zahlreichen Arrangements der in den Kammern vertretenen Kräfte, von Pragmatismus, Realismus und schrittweisen Reformen gekennzeichnet; und von transformistischer Politik,26 die vom zwischen 1876-1887 regierenden linksliberalen Agostino Depretis zur vollen Entfaltung gebracht wurde. Grundsätzlich ist gegen diese Taktik in dosierter Verwendung nichts einzuwenden. Im Italien des letzten Jahrhunderts wurde sie jedoch politischer Alltag, was wegen der damit einhergehenden Konfliktunterdrückung eine Radikalisierung der jeweiligen Randflügel zur Folge hatte. Von diesem Klima wiederum konnte die nationalistische Rechte profitieren, deren Repräsentanten mehr als einmal direkt von der äußeren Linken herübergewandert sind. Mehrere Strömungen, die als Wegbereiter des Faschismus betrachtet werden dürfen, lassen sich unterscheiden:

1. Der Kreis um Francesco Crispi, der für den Übergang vom emanzipatorischen Risorgimento zum aggressiven Nationalismus steht. Der zunächst zur extremen Linken zählende Crispi war seit 1861 als Abgeordneter und zwischen 1887-1891 und 1893-1896 als Superminister mit der Doppelverantwortung für das Innen- und das Außenressort tätig. Seine rigide Innenpolitik zielte gegen die immer stärker werdende Arbeiterbewegung und seine aggressive Außenpolitik gegen Afrika.27 Crispi wurde vom ähnlich denkenden Pelloux abgelöst, der aber wegen des wachsenden Widerstandes der sozialistischen und katholischen Arbeiterbewegung gegen ihre Unterdrückung vom Parlament gestürzt wurde. Damit wurde der Weg für den liberalen Reformer Giovanni Giolitti frei.
 
 

2. Darüber hinaus existierte seit der Jahrhundertwende eine von Frankreich inspirierte neoromantische Strömung, deren Hauptvertreter der Literat, spätere Fiume-Besetzer und Mussolini-Verehrer Gabriele D'Annunzio war.28 Zahlreiche von ihm beeinflußte Diskussionszirkel und Zeitschriften feierten die Wiedergeburt des Spirituellen, Okkulten und Irrationalen und forderten Überwindung des Positivismus, Wiedererweckung des Glaubens und der Mystik. Publikationen etwa wie der 1903 von Giuseppe Prezzolini und Giovanni Papini gegründete Leonardo, Giuseppe A. Borgeses Hermes oder der von Enrico Corradini29 herausgegebene Regno (in dem auch zahlreiche Pareto-Beiträge veröffentlicht wurden) formulierten bereits hier das außenpolitische Programm des faschistischen Italien.30 An der Schwelle zum Ersten Weltkrieg stimmte auch die Zeitschrift La Voce in den Kriegsgesang ein. Sie war vom Verlegerpaar Prezzolini/Papini 1908 als Organ des "gereiften Nationalismus" (Nolte) gegründet worden und unterschied sich in Wort und Ton vom Nationalismus Corradinis. Aber schließlich wurde auch sie aggressiver, womit einmal mehr die Problematik eines sogenannt gemäßigten Nationalismus unterstrichen wird.

3. Großen Einfluß auf die Entwicklung des Faschismus hat der 1908 von Filippo Tommaso Marinetti als neue Kunstrichtung ins Leben gerufene Futurismus gehabt.31 Die von Marinetti, Settimelli und Carli gegründete Zeitschrift Roma futurista und die futuristischen fasci hatten sich als antiphilosophische, anti-kulturelle Bewegung mit dem Ziel einer Erneuerung Italiens verstanden. Die Tatsache, daß die futuristische Ideologie später stark von Sorel und Bergson beeinflußt wurde und mit mystischer Unterlegung den Krieg verherrlichte, verdeutlicht zumindest in der Frage der Ästhetisierung von Gewalt die Gemeinsamkeit von Futuristen und Neoromantikern.32

Anders als in Frankreich streitet man in Italien kaum über Ursprung und Herkunft des Faschismus, was nicht zuletzt daran liegt, daß es hier keine staatliche Judenverfolgung gab. Die 1919 von Mussolini gegründeten fasci di combattimento waren ebenso widersprüchlich und uneinheitlich wie das verwirrte politische Klima, in dem sie entstanden sind: Unter den ersten fasci, die der linken Idee gegenüber durchaus aufgeschlossen, aber gegen die russische Revolution eingestellt waren, befanden sich Anarcho-Syndikalisten, Arditisten, Futuristen und Ultrakonservative.33 Gerade Linke und Syndikalisten hatten dem Faschismus noch über einen längeren Zeitraum ein fortschrittliches Image verschafft, das er aber spätestens seit der Zerschlagung der proletarischen Massenorganisationen einbüßte. Anfang der 20er Jahre hatte der Faschismus seine ideologische Orientierung an "Gruppierungen wie Futurismus, Arditismus, D'Annunzianismus und linksinterventionistischen Kreisen" eingebüßt.34 Die faschistische Bewegung war seit 1920 in einen militant außerparlamentarischen und den parlamentarischen Flügel um Mussolini gespalten, der sich mit seinem Normalisierungs- bzw. Parlamentarisierungskurs Hoffnung machte, das breite Bürgertum an sich binden zu können.

Karin Priester unterstreicht, daß das gängige Begriffspaar Mussolini/Faschismus insofern irreführend ist, als die nationalistische Ideologie, "die ab 1923 das politische und ideologische Bild des Faschismus bestimmen wird, (...) ohne und gegen Mussolini entstanden ist".35 Erst nach der Zerschlagung linker Organisationen setzte die Industrie auf ihn und seinen 1921 gegründeten Partito nazionale fascista, von dem sie sich eine grundlegende Erneuerung des in der Krise steckenden Staates erhoffte. Carlo Tullio-Altan betont dabei die Bedeutung einer dichten Gruppe von nationalistisch gesinnten Intellektuellen verschiedenster Provenienz, die durch ihre "Mitarbeit und bemerkenswerte Sensibilität für die Probleme des Staates" zu seiner Neugestaltung nach faschistischem Muster beigetragen und dem faschistischen Regime zu Popularität verholfen haben.36

Seine gesellschaftliche Anbindung begann der italienische Faschismus in dem Moment zu verlieren, "in dem er sich dem deutschen Nationalsozialismus unterordnete".37 Spötter stellen vielleicht nicht einmal ganz zu unrecht fest, daß Italien zwischen den 20er und 40er Jahren 80 Millionen Einwohner gehabt habe: 40 Millionen Faschisten und ebensoviele Antifaschisten.

4.1.3. Österreich

Nach der in Österreich sattsam bekannten Drei-Lager-Theorie von Adam Wandruszka38 existieren mit dem sozialistischen (1.), dem christlich-konservativen (2.) und dem deutschnationalen Lager (3.) drei voneinander unterscheidbare sozio-kulturelle und sozio-politische Milieus. Zwei dieser auch die Parteien umfassenden Lager gehören ideologisch zur politischen Rechten.

Das Deutschnationale Lager

Während Rainer Münz im deutschnationalen Lager auch den Liberalismus verortet,39 wird von Anton Pelinka explizit das Vorhandensein einer wichtigen liberalen Strömung bestritten.40 Zwar hatten seiner Meinung nach an der Wiege des dritten Lagers verschiedene Gruppen gestanden, "die das 'Völkische' mit dem 'Liberalen' zu verbinden versuchten";41 zwar hat auch das 1882 formulierte Linzer Programm (das nicht zur Gründung einer Partei führte) noch verschiedene freiheitliche Vorstellungen formuliert; jedoch herrschte innerhalb dieser Strömung von Beginn an das Streben nach deutscher Hegemonie in allen geselllschaftlichen Bereichen vor. "Hier ist sie schon, die Position, die etwa die Kärntner Parteien gegen die slowenische Volksgruppe mehr als ein Jahrhundert danach ins Treffen führen: Andere Sprachen als die deutsche werden nicht geduldet."42

Georg Ritter von Schönerer war verantwortlich für die antisemitische Ausrichtung des Linzer Programms. Sowohl die 1920 gegründete Großdeutsche Volkspartei als auch der Landbund, den später die ÖVP beerben konnte, haben Schönerers Positionen übernommen und wesentliche Teil von Hitlers "Mein Kampf" vorweggenommen.43

Das inhomogene und in fast allen sozialen Milieus beheimatete deutschnationale Lager des 19. Jahrhunderts hatte sich in erster Linie durch Opposition gegenüber der Habsburgmonarchie, Anti-Katholizismus bzw. Antiklerikalismus, später durch prononcierten Antisemitismus sowie überwiegend "im Volk" präsenten Antikapitalismus ausgezeichnet. Dieses zunächst verstreute und sich zur "deutschen Volks- und Kulturgemeinschaft"44 zählende Lager konnte infolge seiner ideologischen Radikalisierung um die Jahrhundertwende von der österreichischen NSDAP insgesamt an sich gebunden werden.45 Hitler kann dabei als Produkt und zugleich als Motor eines Deutschnationalismus bezeichnet werden, der um die Jahrhundertwende seine volle Blüte entfaltet hat.

Das parteipolitich organisierte dritte Lager zeichnet sich Kurt Richard Luther zufolge durch folgende, bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts geltende Merkmale aus:46

1. Dezentral organisierte Honoratioren, deren regionale Hochburgen über Jahrzehnte hinweg mit vor allem Kärnten, Oberösterreich und Salzburg nahezu identisch geblieben sind.

2. Geringe Organisationsdichte trotz zahlreicher Vorfeldorganisationen.

3. Überrepräsentanz einer männlichen, akademischen, protestantischen bzw. laizistischen Wählerschaft aus dem Kleinbürger- bzw. Kleinstadtmilieu, zu denen ein Kreis eher inhomogener Protestwähler tritt. Gemeinsames Merkmal ist "eine gewisse Anfälligkeit für autoritäres Denken".47

4. Hohe Konfliktbereitschaft wegen der ideologischen Ambivalenz von liberalen und (deutsch-)nationalen Kräften bei ansonsten anti-sozialistischem und anti-klerikalem Grundkonsens.

Das Christlich-Konservative Lager

Rechtes Denken findet sich darüber hinaus im christlich-konservativen Lager mit der Christlichsozialen Partei (CP) als erstes bedeutendes organisatorisches Zentrum. Sie war ein Zusammenschluß von Christlich Sozialem Verein und konservativem Liechtensteinclub mit kleinbürgerlichen Gruppen um Karl Lueger (dem Gründer der CP) und die erste große antisemitische Partei Europas. Obwohl sie nach ihrer Gründung 1891 gegen Adel und hohen Klerus eingestellt war, suchte sie nach dem Zusammenbruch der feudalen Strukturen ein enges Verhältnis zum organisierten Katholizismus, der aufgrund dieser Entwicklung seinerseits "seinen verlängerten Arm" verloren hatte.48

Das christlich-konservative Lager bestand vornehmlich aus Bauern und katholischem Kleinbürgertum und war Karl Lueger und seiner christlichen Soziallehre sowie seinem prononcierten Antisozialismus und Antisemitismus gegenüber sehr aufgeschlossen. Signifikant ist der Meinungs- und Wertewandel der Partei, die erst antiklerikal und dann kirchenfreundlich, erst für und später gegen die Republik eingestellt war und schließlich im Verbund mit den Heimwehren den autoritären Ständestaat und den Austrofaschismus aus der Taufe gehoben hat.49

Pelinka bezeichnet den Austrofaschismus als konstitutive Wurzel einer Großpartei, nämlich der ÖVP. Damit will er nicht ständischen Autoritarismus und demokratisch gesinnte Volkspartei in einen Topf werfen, sondern auf institutionelle und personelle Verflechtungen sowie darauf verweisen, daß die ÖVP bis heute für die Politik Schuschniggs und Dollfuß' Verständnis aufbringe: "Für die ÖVP ist die Diktatur des Austrofaschismus keineswegs eine von vornherein vollständig abzulehnende Geschichtsepoche."50

4.1.4. Diskussion

Die maßgeblichen gegenrevolutionären Strömungen in Frankreich gehören anders als die anti-risorgimentalen Bewegungen Italiens zur politischen Rechten. Aber das Risorgimento ist kein mit der französischen Revolution vergleichbares Ereignis, auch wenn es im Vorfeld der italienischen Staatsgründung zahlreiche "revolutionäre Vorkommnisse" gab. Günther Heydemann weist darauf hin, daß diese Vorkommnisse überwiegend in den jeweiligen lokalen Zusammenhängen interpretiert werden müssen und nicht pauschal als risorgimental zu bezeichnen sind.51 Darüber hinaus ist die Staatsgründung gleichsam ein Produkt des Kompromisses zwischen Adel und moderatem Bürgertum, das sich gegen die revolutionären bzw. linken Strömungen der risorgimentalen Bewegung durchgesetzt hatte. Ein Vergleichsfall Österreich fehlt in diesem Zusammenhang.

In allen drei Staaten wurden Ende des letzten Jahrhunderts weit rechts stehende Organisationen spürbar stärker. Obgleich sie sich in ihrem Denken, ihren primären Zielen und ihren Strategien auch innerhalb eines jeden Staates voneinander unterschieden haben, waren sie sich politisch nahe genug, um später gemeinsam agieren zu können oder den Boden für eine rechte Konkurrenzströmung zu bereiten. Rechtes als rückwärtsgewandtes und in diesem Sinne reaktionäres Denken orientiert sich an alten Werten, Machtstrukturen und Ideologien, auch wenn dieses Denken unter dem Stichwort "revolutionär" firmiert. Unter diesem Blickwinkel haben rechte Strömungen trotz unterschiedlicher Merkmale stets gemeinsame Wurzeln; unterschiedliche oder widerstreitende Strömungen sind deshalb prinzipiell kompatibel.

In Italien und Frankreich haben sich um die Jahrhundertwende auch elitäre bzw. revolutionäre Zirkel mit betont intellektuellem Habitus herausgebildet, wobei ihre Protagonisten nicht selten von der äußersten Linken stammten. Warum in Österreich derartige Strömungen fehlen (bis heute hat die Alpenrepublik auch keine "Neue Rechte" französischen Typs aufzuweisen), ist schwer zu beantworten. Ein entscheidender Grund dafür ist aber zweifellos die politische Bedeutung des ursprünglich lagerübergreifenden und später vom dritten Lager repräsentierten Deutschnationalismus.

Für alle Staaten gleichermaßen schwierig ist der Umgang mit der faschistich/nationalsozialistischen Vergangenheit. Erst 1995 hat der französische Staatspräsident Chirac die Mitschuld Frankreichs an der Deportation der Juden eingestanden; beinah zeitgleich wurde vom österreichischen Kanzler Vranitzky der Mythos, wonach Österreich erstes territoriales Opfer nationalsozialistischer Gewaltherrschaft gewesen sei, relativiert. Der Umgang mit der Geschichte durch staatliche Repräsentanten ist eine, die wissenschaftliche Auseinandersetzung damit eine andere Sache.

Rolf Uesseler hat am Beispiel Italien zwei Forschungsphasen identifiziert. Er unterscheidet dabei den bis etwa Mitte der 60er Jahre dauernden Zeitraum, der wesentlich von der Resistenza und von Untersuchungen geprägt war, die emigrierte Forscher während der Zeit des Faschismus verfaßt haben. Ihre Beiträge und das gesellschaftliche Klima waren in hohem Maß von der Annahme geprägt, daß die Überwindung des Faschismus eine italienische Eigenleistung, eine Leistung der Resistenza gewesen sei (dies gilt ebenso für Frankreich). Einigkeit bestand vor allem darin, daß der Faschismus sowie die Zeiträume vor seiner Entfaltung und nach seiner Überwindung von "Kontinuität und Bruch" gekennzeichnet sind. In der zweiten Phase wurden Uesseler zufolge diese "Kontinuitäten und Diskontinuitäten in den einzelnen Bereichen" herausdestilliert und "die antifaschistische Grund- und Ausgangslage" durchlöchert und aufgebrochen.52 Hier setzte die personalistische, auf Mussolini konzentrierte Faschismusforschung ein, die wesentlich von Renzo de Felice geprägt wurde.

Der Umgang mit Vichy in Frankreich wurde in diesem Kapitel bereits andiskutiert; bislang unerwähnt blieb jedoch, daß auch in Frankreich der Mythos von der Selbstbefreiung über lange Jahre vorherrschte. Henry Rousso führte dazu aus, daß der von Marc Ophuls gedrehte und von der 1968er Bewegung inspirierte Film "Le chagrin et la pitié" (1971) eine neue Phase einleitete, mit der dieser Mythos überwunden wurde. "Politisch gesehen war das auch das Ende der Ära, in der Gaullisten und Kommunisten das Erbe der Résistance unter sich aufgeteilt hatten."53

Ein österreiches Äquivalent dazu ist der Opfer-Mythos, der lange Zeit nicht in Frage gestellt wurde. Die Mitschuld und die Aufarbeitung der Vergangenheit wurde erst seit Mitte/Ende der 80er Jahre in Wissenschaft und Publizistik bedeutsam. Dabei hat "das 'Bedenkjahr' 1988 (..) der historischen Forschung einen deutlichen Impuls gegeben".54


Inhalt
Kap. 1
Kap. 2
Kap. 3
Kap. 4
Kap. 5
Kap. 6
Kap. 7
Kap. 8
Kap. 9
Kap. 10
Literaturverzeichnis