Susanne Falkenberg: Populismus und Populistischer Moment im Vergleich zwischen
Frankreich, Italien und Österreich
6.Front National, Lega Nord und FPÖ im Vergleich
Durch das heute allgegenwärtige Fernsehen und seine Tendenz, zu verkürzen
und Worte oft nur noch als akustisches Geleit bildhafter Darstellungen
einzusetzen, erscheinen Politik und Politiker synonym. Politische Prozesse,
Interaktion und Kommunikation zwischen Bürgerschaft und Repräsentanz
oder die Bedeutung des Politischen im scheinbar unpolitischen Alltagshandeln
sind für das Fernsehen kaum ein Thema. Politik ist Parteipolitik.
Mehr noch: Politik ist die Politik von parteipolitischen Führungsfiguren.
Ich will an dieser Stelle nicht entscheiden, wem die Hauptverantwortung
für diesen Reduktionismus zu geben ist, sondern lediglich feststellen,
daß Medien und Politiker aufeinander eingespielt und voneinander
abhängig sind. Es verwundert daher kaum, daß Umberto Bossi,
Jörg Haider und Jean-Marie Le Pen weitaus bekannter sind, als Parteifreunde,
divergierende Parteiflügel oder politische Programme. Die Politik
von Front National, Lega Nord und der Freiheitlichen Partei Österreichs
wird in erster Linie über ihre Führungsfiguren wahrgenommen und
mit ihnen gleichgesetzt. Sie sind - nicht nur deshalb - wichtige und zentrale
Personen, denen in meiner Arbeit zwar nicht das Hauptaugenmerk gilt, die
ich jedoch im folgenden mit drei kurzen Portraits vorstellen möchte.
Diesen persönlich-politischen Profilen folgt eine Auswertung sozial-
und geschichtswissenschaftlicher Literatur über die drei Personen,
ihre Parteien und deren ideologischen Klassifizierungen.
6.1.Front National
Kaum jemand, der bei Front National nicht sofort an seine Führungsfigur
Jean-Marie Le Pen1 dächte. Der gebürtige
Bretone und spätere Sorbonne-Student hatte schon frühzeitig begonnen,
sich politisch zu engagieren. Er war Mitglied verschiedener akademischer
Zirkel mit konservativ-nationalistischer Ausrichtung, meldete sich 1953
als Freiwilliger zum Indochinakrieg, kam aber nicht mehr zum Einsatz, da
bei seiner Ankunft der Krieg bereits beendet war. 1956 wurde er Abgeordneter
der Poujadisten, beteiligte sich am Algerienkrieg sowie - um den Preis
seines Mandats - an der terroristischen OAS. In den Folgejahren kümmerte
er sich hauptsächlich um den Vertrieb verbotenen Nazimaterials und
mischte in verschiedenen rechtsextremen Organisationen mit, die allesamt
bedeutungslos blieben. Nach mehreren Jahren politischer Abstinenz erschien
er im Zusammenhang mit dem Front National erneut auf der politischen Bühne,
meldete im 1972 gegründeten FN seinen Führungsanspruch an und
setzte sich nach anfänglichen Flügelkämpfen und Streitereien
als Parteichef durch. Machtwillen, Flexibilität und Eloquenz zeichnen
den 67jährigen Le Pen aus, der besonders vor grossem Publikum durch
Sprachbravour glänzt. Daß der Erfolg des Front National auch
seinem Anführer gutgeschrieben wird, kann daher kaum verwundern und
kommt in dem häufig verwandten Diktum "L'effet Le Pen"2
(der Le-Pen-Effekt) zum Ausdruck. Wo aber muß der Front National
ideologisch verortet werden und was sind die Ursachen seines Erfolgs? Ob
der Front National rechtsextrem ist, wird in Frankreich nicht zuletzt wegen
des denotatorischen Disputs unterschiedlich beantwortet. Marieluise Christadler
verweist dabei auf Pierre-André Taguieff, der den Begriff rechtsextrem
als polemisch und wissenschaftlich unbrauchbar verwirft. Andere bemühen
sich um eine Differenzierung dieses Begriffs.3
Dabei komme in den von rechtsextrem über ultrarechts bis rechtsradikal
reichenden Abstufungen die Komplexität gegenrevolutionären Denkens
und zudem das Bedürfnis nach einer Trennung des Rechtsextremismus
vom Faschismus zum Ausdruck.4 In Bezug auf den
Front National betont Michel Winock "das Wiederaufleben einer alten nationalpopulistischen
Tradition",5 in der Elemente wie Dekadenzvorwürfe,
der Antagonismus gegen die offizielle Politik, die Betonung des Plebiszitären
und eine starke Integrations- bzw. Führungsfigur zusammentreffen.6
Paul Buzzi weist darüber hinaus auf die im Front National vertretene
Strömung des katholischen Integrismus hin.7
"Diese zweite Linie beginnt mit der gegenrevolutionären, katholisch-royalistischen
Rechten von 1789 und führt zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Action
Française (...)".8 Stärker an den
Bedingungen seines Erfolgs orientiert betonen etwa Nonna Mayer oder Pascal
Perrineau den Charakter des FN als Protestpartei, die von der zunehmenden
Desintegration der tradionellen Parteien profitiert.9
Immigration und Unsicherheitsgefühle sind weitere Stichwörter
zur Erklärung des lepenistischen Erfolgs und zugleich wichtige Themen
der Partei. Gleichwohl befinden sich ihre Hochburgen nicht innerhalb der
problematischen Siedlungen, sondern eher an deren Rändern. Dies läßt
Wahlmotive vermuten, die sich nicht direkt aus dem Zusammenleben verschiedener
Kulturen, sondern aus der koexistenziellen Qualität und deren Außenwahrnehmung
speisen. Zudem weisen Daniel Cohn-Bendit und Thomas Schmid in ihrem Buch
Heimat Babylon darauf hin, daß Xenophobie alle Gesellschaften begleitet,
"die von Modernisierungsprozessen erfaßt werden und in denen immer
wieder der fremde Bote für die Botschaft genommen und zur Rechenschaft
gezogen wird."10 Pascal Perrineau, Jean Viard,
Hans-Gerd Jaschke nennen als wichtige Erfolgsursache des FN den Wandel
der traditionellen kulturellen und sozialen Subsysteme, die im Verlauf
der gesellschaftlichen Modernisierung ihre Integrationsfähigkeit eingebüßt
haben. Dabei ist es dem FN in verschiedenen Kommunen sogar gelungen, die
entstandene Lücke mit eigenen sozio-kulturellen Netzen zu füllen.11
Aus ökonomischer Perspektive schließlich wird die Anfang der
80er Jahre einsetzende Wirtschaftskrise hervorgehoben.12
Wo die Gründe für den Erfolg des FN zu suchen sind, wird noch
zu klären sein. Daß sie aber nicht monokausal hergeleitet werden
können, ergibt sich schon daraus, daß jeder politische Akteur
in einem weitverzweigten sozialen, politischen und kulturellen Netz agiert.
6.2.Lega Nord
Hunde, die bellen, beißen nicht, behauptet der Volksmund. Auch der
italienische. Und in der Tat läßt sich über die Bißfähigkeit
Bossis trefflich streiten, seit er zwischen separatistischen Maximalismen
und realpolitischen Kompromissen schwankt. Kein Zweifel indes besteht über
die Härte des Tons und dessen provakative, oft vulgäre Färbung
als Markenzeichen des enfant terrible der italienischen Politik. Bossis
Biographie ist voll von Brüchen, oder besser Abbrüchen, denn
sein Karrierwunsch als Musiker blieb ihm ebenso versagt wie ein Universitätsabschluß
als Mediziner oder ein Traumjob als Elektrotechniker. Lediglich in seiner
politischen Arbeit ist er (bislang) einigermaßen beständig,
wenn auch nicht berechenbar. Überraschen mag die Tatsache, daß
Bossi lange Zeit für Politik nichts übrig hatte. Dies änderte
sich mit nachhaltigen Folgen für die italienische Innenpolitik erst
durch seine Freundschaft mit dem ehemaligen Vorsitzenden der autonomistischen
Union Valdotaine Bruno Salvadori: Umberto Bossi wollte Berufsbefreier werden.
Versuchsweise übte er sich als Retter der beiden Städte Como
und Varese, die er mit seiner 1979 gegründeten Unione nord-occidentale
laghi per l'autonomia aus den Fängen der Lombardei befreien und ihnen
zu hoheitlichen Rechten verhelfen wollte. Nachdem dieser Versuch ins Leere
gelaufen war, verlangte er die Selbstbestimmung der gesamten Lombardei
und gründete 1982 die Lega Autonomista Lombarda, die 1984 in der Lega
Lombarda aufging. Lange Zeit hatte sich niemand so recht für Bossi
interessiert. Nachdem ihn aber seine langsam größer werdende
Anhängerschaft 1987 zum Senator wählte, wurde er "dank seiner
frechen Klappe, seiner volkstümlich-ordinären Ausdrucksweise
und seiner schrillen Schlipse schnell als Senatùr in ganz Italien
berühmt".13 Über die Bedeutung Bossis
als politische Führungskraft und Identifikationsfigur existieren verschiedene
Ansichten. Fritz Plasser und Peter A. Ulram bestreiten indirekt Bossis
Relevanz, wenn sie als zentralen Unterschied zwischen Lega und FPÖ
hervorheben, daß die österreichische Partei in besonderem Maß
von ihrer Führungsfigur geprägt sei.14
Zu einem anderen Schluß kommt Marc Gilbert, der den Erfolg der Lega
auf Bossis Einfluß und seine Selbstdarstellungskompetenz zurückführt.15
Die Tatsache, daß er bei den Deputiertenkammerwahlen 1992 rund 250.000
Vorzugsstimmen abschöpfen konnte und damit meist gewählter Parlamentarier
(Senator) wurde, gibt Gilbert recht. Anders als Haider, dem nach seiner
Wahl zum Parteichef schon deshalb viel Aufmerksamkeit zuteil wurde, weil
er einer im System verankerten Partei vorsteht, war Bossi über lange
Zeit ein outsider. Die nationalen Medien haben sich mit wenigen Ausnahmen
ebensowenig für ihn und seinen folkloristischen Verein interessiert
wie die italienischen Parteien. Er hatte sich auf der piazza einen Namen
gemacht, und sein Bekanntheitsgrad wuchs erst nach seiner Wahl zum Senator.
Jedoch können weder Bekannt- noch Beliebtheit die zunächst schleichende
und seit 1989 rapide Abkehr der Wähler von den traditionellen Parteien
erklären. Innerhalb der Sozialwissenschaften existieren zahlreiche
Untersuchungen, die nach den Gründen für den Erfolg der Lega
suchen. Die Parteien- und Wahlforschung hebt den bereits seit Mitte der
70er Jahre zu konstatierenden Vertrauensschwund in etablierte Parteien
hervor,16 bleibt aber in der Regel die Antwort
schuldig, warum ausgerechnet eine Partei wie die Lega davon profitieren
konnte. Roberto Biorcio betont in diesem Zusammenhang ihre Bedeutung als
neuartige Partei, die ihre Akzeptanz vor allem aus ihrer Präsentation
bezieht. Er definiert sie als politischen Akteur,17
der als Dienstleistungsbetrieb seine Angebote an den Nachfragen der Bevölkerung
orientiert und mit ihr in ein scheinbar direktes Interaktionsverhältnis
tritt. Dagegen verweisen andere nicht primär auf den Wandel des Parteiensystems,
sondern auf seine durch Korruption verursachte Krise.18
Die auf den ersten Blick naheliegende und von der ausländischen Presse
favorisierte Erklärung verliert jedoch bei genauer Betrachtung an
Wert: Denn erstens herrschte in der italienischen Bevölkerung schon
seit langem die Meinung vor, Politik und Parteien seien "schmutzig", und
zweites waren die Ligen und die Lega bereits vor den Enthüllungen
der gegen Korruption ermittelnden Richterschaft erfolgreich. Valeska von
Roques und Jens Petersen betonen gleichermaßen den Nord-Süd-Gegensatz
als wichtigen Grund für die Geburt und den Erfolg der norditalienischen
Ligen bzw. der Lega Nord hervor.19 Dagegen betont
die modernisierungstheoretische Perspektive den Wandel der Arbeits- bzw.
Industriegesellschaft und die damit entstandenen neuen Bedürfnisse
und Konflikte.20 Aufschlußreich sind die
mehrdimensionalen Erklärungen Michael Brauns. Er nennt als wichtigste
Gründe den durch Korruption bedingten Verschleiß des alten Systems
und die von ihm hinterlassene Fiskalkrise, die von den antimeridionalen
Ligen benutzt wurde, um eine Spaltung des Staates zu fordern. Diese Spaltung
zielte vor allem darauf, den subventionsabhängigen Süden vom
steuerpotenten Norden abzukoppeln.21 Die ideologischen
Klassifikationen sind vielschichtig, wobei die Abstufungen - sezessionistisch,
autonomistisch, regionalistisch bzw. neoregionalistisch und föderalistisch
- aus der Entwicklung des Leghismo resultieren. Ob und inwieweit die Lega
als rassistische Partei bezeichnet werden kann, ist eine umstrittene Frage.
Sie wird überwiegend verneint, wenn unter Rassismus eine kulturell-ethnisch
hergeleitete "Höher- bzw. Minderwertigkeit" verstanden wird. Definiert
man jedoch Wohlstandschauvinismus als eine moderne Variante rassistischen
Denkens, dann wird sie wie von Jens Petersen, Sibylle Stegmüller22
und Vittorio Moioli dementsprechend klassifiziert. Moioli bezeichnet den
Rassismus der Lega als differenzialistisch: Indem sie vorhandene Ressentiments
aufgreift und sie provokativ zuspitzt, sichert sie sich die Zustimmung
der Bevölkerung und öffentliches Interesse. Damit wird zugleich
Identität gestiftet, die sich aus der Abgrenzung nährt.23
Rolf Uesseler nennt dies "negative Identifikation".24
Obgleich die Lega vorhandene Ressentiments für propagandistische Zwecke
instrumentalisiert, unterscheidet sie sich in dieser Hinsicht nicht von
den übrigen italienischen Parteien.25 Auch
in diesem Punkt muß die Entwicklung der Lega berücksichtigt
werden. Noch bis Anfang der 90er Jahre wurden Vorurteile gegen Immigranten
und Süditaliener noch scharf formuliert. Parallel zur nationalen Etablierung
der Partei und ihrem Willen, innerhalb des Systems zu gestalten, wurden
sie jedoch vergleichsweise milde vorgetragen.26
Weitgehende Einigkeit besteht darüber, daß die Lega keine Partei
der extremen Rechten ist und unter dem Blickwinkel ihrer politischen Ziele
- sie tritt für eine Tout-court-Privatisierung ein - als neoliberal
bezeichnet werden kann.27 So unterschiedlich
die Ergebnisse auch sind; ein Faktum wird von allen Sozialwissenschaftlern,
Journalisten und von der Lega selbst hervorgehoben: Das Jahr 1989, der
Fall der Mauer als definitives Ende des Kalten Krieges, war eine wichtige
Voraussetzung für die Beschleunigung längst augenfälliger
Erosionserscheinungen des alten Parteiensystems und Chance für politische
Newcomer.
6.3.Freiheitliche Partei Österreichs
Haider. Ganz Österreich scheint fasziniert von diesem Mann. Kaum ein
anderer Politiker, der so viel Staub aufwirbelt und damit Journalisten
Topmeldungen beschert. Plumpe Geschmacksverletzungen, Tabubrüche,
historische Wahrheitsverschiebungen oder provokativ-intelligente Zuspitzungen,
mit denen er nicht selten ins Schwarze und damit den Nerv von Politikern
trifft, sichern der wohl umstrittensten öffentlichen Figur Österreichs
permanente Medienpräsenz. Entdeckt wurde das Rhetorik-Talent beim
Jahrestreffen des Österreichischen Turnerbundes. Dieser ebenso politische
wie sportliche Verein hatte 1966 Jörg Haiders Gedanken über die
Bedeutung österreichischen Deutschtums mit dem Rednerpreis des Jahres
prämiert.28 Damit weckte der Jugendliche
das Interesse der Deutschen National Zeitung, die den Text nachdruckte,
und des damaligen FPÖ-Vorsitzenden Friedrich Peter, der Haider in
die Partei lockte. Neben seiner Parteiarbeit engagierte sich Haider zumeist
an exponenter Stelle in zahlreichen rechtsextremen Organisationen. Darunter
die Freiheitliche Jugend Oberösterreich und der Ring Freiheitlicher
Jugend Österreichs. 1976 zog er nach Kärnten und übernahm
in dem wichtigsten deutschnationalen Landesverband zahlreiche parteiinterne
und parlamentarische Ämter; 1989 schließlich avancierte er dort
zum Landeshauptmann (ein dem bundesdeutschen Ministerpräsidenten entsprechendes
Amt). Nach nur zwei Jahren Amtsinhaberschaft wurde allerdings sein Rücktritt
unumgänglich, nachdem er in einer hitzigen Haushaltsdebatte die Arbeitsmarktpolitik
der Nationalsozialisten als "ordentlich" gelobt hatte. Seiner Karriere
tat diese Provokation keinen Abbruch, denn zielstrebig wechselte er ein
weiteres Mal seinen politischen Standort, zog nach Wien und wurde im Nationalrat
Fraktionsvorsitzender seiner Partei. Seit 1986 hatte er bereits das Amt
des Parteiobmanns inne. Der Rhetoriker Haider zieht nicht nur Anhänger,
sondern auch seine politischen Gegner in Bann. So hatte sich eine Gruppe
Klagenfurter Psychologen fakultätsintern "über das Stück
Faszination und Aufregung, das wir beim Haider-Thema auch in uns selbst
immer wieder spürten", geärgert und sich als Konsequenz dieses
Unbehagens mit "Haiders Inszenierungserfolgen und Erfolgsinszenierungen"
intensiver auseinandergesetzt.29 Die 1992 vorgelegte
Studie richtet sich aufgrund ihrer Methoden30
in erster Linie an Sozialpsychologen und ist eine unter zahlreichen Untersuchungen,
die sich mit Jörg Haider auseinandersetzen. Zunächst erstaunt
über die Fülle von Publikationen zum Thema FPÖ und Haider,
fiel mir bei genauerer Durchsicht die Dominanz des sprachanalytischen Diskurses
auf. Er zielt hauptsächlich darauf, Jörg Haiders Affinität
zum Nationalsozialismus herauszuarbeiten und zu beweisen, daß seine
NS-Anspielungen überwiegend weltanschaulicher und nicht taktischer
Natur sind.31 Die Anwendungshäufigkeit
dieser Methode legt den Schluß nahe, daß der überwiegende
Teil österreichischer Gesellschaftswissenschaftler den Erfolg der
FPÖ nach 1986 in erster Linie auf die Person Haiders und auf eine
Wählerschaft zurückführt, die sich mit seinen Äußerungen
identifiziert. Eine Analyse von politischen oder sozio-ökonomischen
Erfolgsbedingungen der Partei gerät so ins Hintertreffen. Den diesbezüglichen
Forschungsstand würde ich bei aller Vorsicht als rudimentär bezeichnen.
Darüber hinaus halte ich es für sekundär, ob die inkriminierten
Äußerungen auf einem geschlossenen rechtsextremen Weltbild basieren
oder stärker taktisch motiviert sind. Alleine die Tatsache, daß
Haider seine Verlautbarungen häufig an den NS-Sprachgebrauch anlehnt
und damit absichtsvoll an latent oder manifest vorhandene Affekte appelliert,
ist Grund genug, an seiner demokratischen Integrität zu zweifeln.
Aber auch jenen, die diese Forschungsmethode bzw. ihre Dominanz wie ich
für problematisch halten, fällt es augenscheinlich schwer, andere
Instrumente anzuwenden. So bemängelt Andreas Schedler die einseitige
akademische Konzentration auf Haiders "Affinitäten und Ambivalenzen
gegenüber (...) nationalsozialistischen Positionen (..)". Seine Kritik
zielt jedoch lediglich gegen das Thema und nicht gegen die Methode, der
er sich in seiner Arbeit über die "antipolitischen Stereotypen" Haiders
ebenfalls bedient.32 So interessant und legitim
die Beschäftigung mit dem FPÖ-Obmann auch sein mag: Allein seine
Rhetorik und seine NS-Anspielungen, Sprachwitz oder Provokationen können
den Erfolg der FPÖ nicht erklären. Insofern liegt es nahe, sich
mit den Befindlichkeiten der übrigen Parteien und den Beziehungen
zwischen ihnen und (Wahl-)Bürgerschaft auseinanderzusetzen, wofür
eine zweite Forschungsrichtung namentlich steht.33
Sie weist nach, daß der Erfolg der FPÖ auf die schwindende Integrationskompetenz
der beiden großen Parteien zurückzuführen ist. Dies wird
auf der Basis umfangreichen Datenmaterials zumeist lediglich konstatiert
und die Gründe dafür mit nur wenigen Stichwörtern (gesellschaftliche
Modernisierung, Arbeitslosigkeit) umrissen. Aufschlußreicher dagegen
ist die 1994er Studie aus dem Hause Plasser/Ulram, in denen die Politologen
detailliert die sozio-ökonomischen Hintergründe des FPÖ-Erfolgs
beleuchten.34 Nicht zuletzt wird der Erfolg
nach 1986 auf die Haider unterstützende Boulevard-Presse zurückgeführt.
Eine besondere Rolle spielt dabei die Kronenzeitung, deren Aufmacher sich
häufig mit den jüngsten, zu Parolen verdichteten Botschaften
Haiders decken.35 Die FPÖ wird mit unterschiedlichen
Adjektiven belegt, und in vielen Untersuchungen wird die Frage, ob und
inwieweit sie rechtsextrem ist, diskutiert. Aufgrund der Unterwerfungs-
und Zermürbungstaktiken Haiders unterscheidet Hans-Henning Scharsach
zwischen dem Parteiobmann, den er als rechtsextrem bezeichnet, und der
weitgehend einflußlosen Mitgliederschaft, die er nicht pauschal der
extremen Rechten zuschlagen mag. Er definiert die Partei deshalb als Führerpartei.36
Da aber auch bei der FPÖ Mitgliedschaft freiwillig und niemand am
Austritt zu hindern oder zum Eintritt gezwungen ist, halte ich diese Differenzierung
für fragwürdig. Dagegen bewerten Brigitte Bailer und Wolfgang
Neugebauer die FPÖ als tendenziell rechtsextrem, weil sich nach 1986
ein "entscheidendes Anwachsen der traditionellen deutschnational-rechten
bis rechtsextremen Kräfte" vollzogen hat.37
Die sich stärker mit den politischen Taktiken Haiders und der FPÖ
auseinandersetzenden Beobachter bezeichnen die FPÖ dagegen als populistische,
rechtspopulistische oder schlicht als Protestpartei. Fritz Plasser und
Peter A. Ulram fusionieren verschiedene Begriffe zu einem umfassenden Ausdruck
und definieren die FPÖ als radikale rechtspopulistische Partei. In
Anlehnung an Hans-Georg Betz38 differenzieren
sie zwischen dem radikalen, dem rechten und dem populistischen Merkmal.
Radikal sind Parteien dieses Typs in ihrer Ablehnung sozio-kultureller
und sozio-politischer Systeme und in der Befürwortung des Leistungsprinzips
und des liberalen Marktes, "ohne jedoch die Legitimität der Demokratie
offen in Frage zu stellen".39 Rechts sind sie
aufgrund ihrer Ablehnung individueller und sozialer Gleichheit und wegen
ihrer Ablehnung der sozialen Integration von Minderheiten. Sie sind populistisch,
weil sie Angst und Unsicherheit für ihre Zwecke instrumentalisieren
und an den "gesunden Menschenverstand" und den sogenannten "kleinen Mann"
appellieren.40 Auch Franz Januschek bezeichnet
die FPÖ als eine rechtspopulistische Partei, definiert den Begriff
jedoch anders als Plasser/Ulram: Die Partei Haiders ist rechtspopulistisch
"und zwar nicht nur der Geschichte der Partei wegen, sondern auch wegen
der Inszenierung ihrer gegenwärtigen Politik. Dies gilt zum einen
für den traditionellen Topos der rechtsextremen Politik, die Reinhaltung
der Rasse, Nation oder auch nur 'Kultur' - ein Topos, der von der FPÖ
durchaus bedient wird -, zum anderen aber auch für Anspielungen auf
die nationalsozialistische Vergangenheit".41
Das Populistische selbst äußere sich in dem Willen der FPÖ,
die Macht zu übernehmen und sich nicht lediglich an einer Koalitionsregierung
zu beteiligen, womit sie letztlich auf die Durchsetzung ihrer Ziele verzichten
und Glaubwürdigkeit verlieren würde.42
Bei der ideologischen Klassifizierung läßt sich eine gewisse
Vorsicht konstatieren, die meines Erachtens auf die Entwicklung der Partei
und die bis heute nicht eindeutig erkennbare Richtung zurückzuführen
ist.43 Wie viele andere hatte Hans-Henning Scharsach
nach 1986 eine Re-Radikalisierung bzw. eine Renaissance des aggressiven
Deutschnationalismus festgestellt. Aber "geblendet und irritiert durch
diesen vermeintlichen 'Rückfall' übersehen politische Öffentlichkeit,
Gegner und wahrscheinlich auch große Teile in der eigenen Partei,
daß Haiders Politik eine völlig neue Dimension enthält,
die weit über die Reproduktion gestriger Ideen hinausreicht."44
Unklar bleibt bei Scharsach aber die Qualität des Darüberhinausreichens.
Zwar wurde Haider mit Hilfe der Deutschnationalen zum Parteichef gewählt,
und er stammt selbst aus diesem politischen Zusammenhang. Aber er will
keine Reaktivierung der alten FPÖ, die auch in ihren guten Zeiten
keine ernstzunehmende Konkurrenz für die anderen Parteien darstellte.
Er will Anführer einer großen Partei oder Bewegung mit dem Ziel
sein, in der nationalen Politik eine wichtige Rolle zu spielen. Unter machtpolitischem
Aspekt befindet sich die FPÖ derzeit in ihrer wohl wichtigsten (Entwicklungs-)Phase,
was gleichzeitig dazu führt, daß man sie ideologisch schwer
einschätzen kann.
6.4.Zusammenfassung
Claus Leggewie konstatiert (wie zuvor schon Durkheim) völlig zu Recht,
daß sich Soziales nur aus Sozialem und Politisches nur aus Politischem
erklären lasse.45 Ich will damit nicht
behaupten, daß Haider, Le Pen und Bossi unwichtig sind oder daß
ihre Parteien auch dann erfolgreich gewesen wären, wenn ihnen unauffällige
Personen vorgestanden hätten. Zweifellos haben sie mit machiavellistischem
Antrieb, politischem und sozialem Instinkt und einer gehörigen Portion
Selbstbewußtsein die gesellschaftliche Stimmung und damit zusammenhängende
Probleme erkannt, aufgegriffen und für sich instrumentalisiert. Sie
sind aber keinesfalls Verursacher der für sie günstigen Bedingungen.
Aus diesem Grund will ich die personalen Besonderheiten und Ähnlichkeiten
der drei Parteichefs nicht lange diskutieren und nur auf einen wichtigen
biographischen Unterschied verweisen: Anders als Jörg Haider und Jean-Marie
Le Pen hat Umberto Bossi keine Berührungspunkte mit der extremen Rechten.46
Distanz oder Nähe zur extremen Rechten sagt nicht nur etwas über
die Personen, sondern zugleich etwas über die Parteien aus, die in
den folgenden Kapiteln im Mittelpunkt stehen. Die bereits hier deutlich
gewordenen ideologischen Unterschiede sind noch weiter herauszuarbeiten.
Unabhängig davon tauchen in den zitierten Untersuchungen aber auch
Begriffe auf, die trotz parteipolitischer Differenzen äquivalente
Erfolgsbedingungen der Parteien vermuten lassen: Modernisierung, Unsicherheit,
Wandel der Industriegesellschaft und des Parteiensystems. Dies und die
Überprüfung meiner Thesen steht im Zentrum von Kapitel 9. Im
folgenden Teil werden die Parteien in ihrer Gründungs- und Konsolidierungsphase
vorgestellt. Im Fall FPÖ bedeutet dies eine Analyse des Nach-1986er-Zeitraums,
d.h. nach Haiders Antritt als Parteiobmann.