Susanne Falkenberg: Populismus und Populistischer Moment im Vergleich zwischen Frankreich, Italien und Österreich

Inhalt
Kap. 1
Kap. 2
Kap. 3
Kap. 4
Kap. 5
Kap. 6
Kap. 7
Kap. 8
Kap. 9
Kap. 10
Literaturverzeichnis

6.Front National, Lega Nord und FPÖ im Vergleich

Durch das heute allgegenwärtige Fernsehen und seine Tendenz, zu verkürzen und Worte oft nur noch als akustisches Geleit bildhafter Darstellungen einzusetzen, erscheinen Politik und Politiker synonym. Politische Prozesse, Interaktion und Kommunikation zwischen Bürgerschaft und Repräsentanz oder die Bedeutung des Politischen im scheinbar unpolitischen Alltagshandeln sind für das Fernsehen kaum ein Thema. Politik ist Parteipolitik. Mehr noch: Politik ist die Politik von parteipolitischen Führungsfiguren. Ich will an dieser Stelle nicht entscheiden, wem die Hauptverantwortung für diesen Reduktionismus zu geben ist, sondern lediglich feststellen, daß Medien und Politiker aufeinander eingespielt und voneinander abhängig sind. Es verwundert daher kaum, daß Umberto Bossi, Jörg Haider und Jean-Marie Le Pen weitaus bekannter sind, als Parteifreunde, divergierende Parteiflügel oder politische Programme. Die Politik von Front National, Lega Nord und der Freiheitlichen Partei Österreichs wird in erster Linie über ihre Führungsfiguren wahrgenommen und mit ihnen gleichgesetzt. Sie sind - nicht nur deshalb - wichtige und zentrale Personen, denen in meiner Arbeit zwar nicht das Hauptaugenmerk gilt, die ich jedoch im folgenden mit drei kurzen Portraits vorstellen möchte. Diesen persönlich-politischen Profilen folgt eine Auswertung sozial- und geschichtswissenschaftlicher Literatur über die drei Personen, ihre Parteien und deren ideologischen Klassifizierungen.

6.1.Front National

Kaum jemand, der bei Front National nicht sofort an seine Führungsfigur Jean-Marie Le Pen1 dächte. Der gebürtige Bretone und spätere Sorbonne-Student hatte schon frühzeitig begonnen, sich politisch zu engagieren. Er war Mitglied verschiedener akademischer Zirkel mit konservativ-nationalistischer Ausrichtung, meldete sich 1953 als Freiwilliger zum Indochinakrieg, kam aber nicht mehr zum Einsatz, da bei seiner Ankunft der Krieg bereits beendet war. 1956 wurde er Abgeordneter der Poujadisten, beteiligte sich am Algerienkrieg sowie - um den Preis seines Mandats - an der terroristischen OAS. In den Folgejahren kümmerte er sich hauptsächlich um den Vertrieb verbotenen Nazimaterials und mischte in verschiedenen rechtsextremen Organisationen mit, die allesamt bedeutungslos blieben. Nach mehreren Jahren politischer Abstinenz erschien er im Zusammenhang mit dem Front National erneut auf der politischen Bühne, meldete im 1972 gegründeten FN seinen Führungsanspruch an und setzte sich nach anfänglichen Flügelkämpfen und Streitereien als Parteichef durch. Machtwillen, Flexibilität und Eloquenz zeichnen den 67jährigen Le Pen aus, der besonders vor grossem Publikum durch Sprachbravour glänzt. Daß der Erfolg des Front National auch seinem Anführer gutgeschrieben wird, kann daher kaum verwundern und kommt in dem häufig verwandten Diktum "L'effet Le Pen"2 (der Le-Pen-Effekt) zum Ausdruck. Wo aber muß der Front National ideologisch verortet werden und was sind die Ursachen seines Erfolgs? Ob der Front National rechtsextrem ist, wird in Frankreich nicht zuletzt wegen des denotatorischen Disputs unterschiedlich beantwortet. Marieluise Christadler verweist dabei auf Pierre-André Taguieff, der den Begriff rechtsextrem als polemisch und wissenschaftlich unbrauchbar verwirft. Andere bemühen sich um eine Differenzierung dieses Begriffs.3 Dabei komme in den von rechtsextrem über ultrarechts bis rechtsradikal reichenden Abstufungen die Komplexität gegenrevolutionären Denkens und zudem das Bedürfnis nach einer Trennung des Rechtsextremismus vom Faschismus zum Ausdruck.4 In Bezug auf den Front National betont Michel Winock "das Wiederaufleben einer alten nationalpopulistischen Tradition",5 in der Elemente wie Dekadenzvorwürfe, der Antagonismus gegen die offizielle Politik, die Betonung des Plebiszitären und eine starke Integrations- bzw. Führungsfigur zusammentreffen.6 Paul Buzzi weist darüber hinaus auf die im Front National vertretene Strömung des katholischen Integrismus hin.7 "Diese zweite Linie beginnt mit der gegenrevolutionären, katholisch-royalistischen Rechten von 1789 und führt zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Action Française (...)".8 Stärker an den Bedingungen seines Erfolgs orientiert betonen etwa Nonna Mayer oder Pascal Perrineau den Charakter des FN als Protestpartei, die von der zunehmenden Desintegration der tradionellen Parteien profitiert.9 Immigration und Unsicherheitsgefühle sind weitere Stichwörter zur Erklärung des lepenistischen Erfolgs und zugleich wichtige Themen der Partei. Gleichwohl befinden sich ihre Hochburgen nicht innerhalb der problematischen Siedlungen, sondern eher an deren Rändern. Dies läßt Wahlmotive vermuten, die sich nicht direkt aus dem Zusammenleben verschiedener Kulturen, sondern aus der koexistenziellen Qualität und deren Außenwahrnehmung speisen. Zudem weisen Daniel Cohn-Bendit und Thomas Schmid in ihrem Buch Heimat Babylon darauf hin, daß Xenophobie alle Gesellschaften begleitet, "die von Modernisierungsprozessen erfaßt werden und in denen immer wieder der fremde Bote für die Botschaft genommen und zur Rechenschaft gezogen wird."10 Pascal Perrineau, Jean Viard, Hans-Gerd Jaschke nennen als wichtige Erfolgsursache des FN den Wandel der traditionellen kulturellen und sozialen Subsysteme, die im Verlauf der gesellschaftlichen Modernisierung ihre Integrationsfähigkeit eingebüßt haben. Dabei ist es dem FN in verschiedenen Kommunen sogar gelungen, die entstandene Lücke mit eigenen sozio-kulturellen Netzen zu füllen.11 Aus ökonomischer Perspektive schließlich wird die Anfang der 80er Jahre einsetzende Wirtschaftskrise hervorgehoben.12 Wo die Gründe für den Erfolg des FN zu suchen sind, wird noch zu klären sein. Daß sie aber nicht monokausal hergeleitet werden können, ergibt sich schon daraus, daß jeder politische Akteur in einem weitverzweigten sozialen, politischen und kulturellen Netz agiert.

6.2.Lega Nord

Hunde, die bellen, beißen nicht, behauptet der Volksmund. Auch der italienische. Und in der Tat läßt sich über die Bißfähigkeit Bossis trefflich streiten, seit er zwischen separatistischen Maximalismen und realpolitischen Kompromissen schwankt. Kein Zweifel indes besteht über die Härte des Tons und dessen provakative, oft vulgäre Färbung als Markenzeichen des enfant terrible der italienischen Politik. Bossis Biographie ist voll von Brüchen, oder besser Abbrüchen, denn sein Karrierwunsch als Musiker blieb ihm ebenso versagt wie ein Universitätsabschluß als Mediziner oder ein Traumjob als Elektrotechniker. Lediglich in seiner politischen Arbeit ist er (bislang) einigermaßen beständig, wenn auch nicht berechenbar. Überraschen mag die Tatsache, daß Bossi lange Zeit für Politik nichts übrig hatte. Dies änderte sich mit nachhaltigen Folgen für die italienische Innenpolitik erst durch seine Freundschaft mit dem ehemaligen Vorsitzenden der autonomistischen Union Valdotaine Bruno Salvadori: Umberto Bossi wollte Berufsbefreier werden. Versuchsweise übte er sich als Retter der beiden Städte Como und Varese, die er mit seiner 1979 gegründeten Unione nord-occidentale laghi per l'autonomia aus den Fängen der Lombardei befreien und ihnen zu hoheitlichen Rechten verhelfen wollte. Nachdem dieser Versuch ins Leere gelaufen war, verlangte er die Selbstbestimmung der gesamten Lombardei und gründete 1982 die Lega Autonomista Lombarda, die 1984 in der Lega Lombarda aufging. Lange Zeit hatte sich niemand so recht für Bossi interessiert. Nachdem ihn aber seine langsam größer werdende Anhängerschaft 1987 zum Senator wählte, wurde er "dank seiner frechen Klappe, seiner volkstümlich-ordinären Ausdrucksweise und seiner schrillen Schlipse schnell als Senatùr in ganz Italien berühmt".13 Über die Bedeutung Bossis als politische Führungskraft und Identifikationsfigur existieren verschiedene Ansichten. Fritz Plasser und Peter A. Ulram bestreiten indirekt Bossis Relevanz, wenn sie als zentralen Unterschied zwischen Lega und FPÖ hervorheben, daß die österreichische Partei in besonderem Maß von ihrer Führungsfigur geprägt sei.14 Zu einem anderen Schluß kommt Marc Gilbert, der den Erfolg der Lega auf Bossis Einfluß und seine Selbstdarstellungskompetenz zurückführt.15 Die Tatsache, daß er bei den Deputiertenkammerwahlen 1992 rund 250.000 Vorzugsstimmen abschöpfen konnte und damit meist gewählter Parlamentarier (Senator) wurde, gibt Gilbert recht. Anders als Haider, dem nach seiner Wahl zum Parteichef schon deshalb viel Aufmerksamkeit zuteil wurde, weil er einer im System verankerten Partei vorsteht, war Bossi über lange Zeit ein outsider. Die nationalen Medien haben sich mit wenigen Ausnahmen ebensowenig für ihn und seinen folkloristischen Verein interessiert wie die italienischen Parteien. Er hatte sich auf der piazza einen Namen gemacht, und sein Bekanntheitsgrad wuchs erst nach seiner Wahl zum Senator. Jedoch können weder Bekannt- noch Beliebtheit die zunächst schleichende und seit 1989 rapide Abkehr der Wähler von den traditionellen Parteien erklären. Innerhalb der Sozialwissenschaften existieren zahlreiche Untersuchungen, die nach den Gründen für den Erfolg der Lega suchen. Die Parteien- und Wahlforschung hebt den bereits seit Mitte der 70er Jahre zu konstatierenden Vertrauensschwund in etablierte Parteien hervor,16 bleibt aber in der Regel die Antwort schuldig, warum ausgerechnet eine Partei wie die Lega davon profitieren konnte. Roberto Biorcio betont in diesem Zusammenhang ihre Bedeutung als neuartige Partei, die ihre Akzeptanz vor allem aus ihrer Präsentation bezieht. Er definiert sie als politischen Akteur,17 der als Dienstleistungsbetrieb seine Angebote an den Nachfragen der Bevölkerung orientiert und mit ihr in ein scheinbar direktes Interaktionsverhältnis tritt. Dagegen verweisen andere nicht primär auf den Wandel des Parteiensystems, sondern auf seine durch Korruption verursachte Krise.18 Die auf den ersten Blick naheliegende und von der ausländischen Presse favorisierte Erklärung verliert jedoch bei genauer Betrachtung an Wert: Denn erstens herrschte in der italienischen Bevölkerung schon seit langem die Meinung vor, Politik und Parteien seien "schmutzig", und zweites waren die Ligen und die Lega bereits vor den Enthüllungen der gegen Korruption ermittelnden Richterschaft erfolgreich. Valeska von Roques und Jens Petersen betonen gleichermaßen den Nord-Süd-Gegensatz als wichtigen Grund für die Geburt und den Erfolg der norditalienischen Ligen bzw. der Lega Nord hervor.19 Dagegen betont die modernisierungstheoretische Perspektive den Wandel der Arbeits- bzw. Industriegesellschaft und die damit entstandenen neuen Bedürfnisse und Konflikte.20 Aufschlußreich sind die mehrdimensionalen Erklärungen Michael Brauns. Er nennt als wichtigste Gründe den durch Korruption bedingten Verschleiß des alten Systems und die von ihm hinterlassene Fiskalkrise, die von den antimeridionalen Ligen benutzt wurde, um eine Spaltung des Staates zu fordern. Diese Spaltung zielte vor allem darauf, den subventionsabhängigen Süden vom steuerpotenten Norden abzukoppeln.21 Die ideologischen Klassifikationen sind vielschichtig, wobei die Abstufungen - sezessionistisch, autonomistisch, regionalistisch bzw. neoregionalistisch und föderalistisch - aus der Entwicklung des Leghismo resultieren. Ob und inwieweit die Lega als rassistische Partei bezeichnet werden kann, ist eine umstrittene Frage. Sie wird überwiegend verneint, wenn unter Rassismus eine kulturell-ethnisch hergeleitete "Höher- bzw. Minderwertigkeit" verstanden wird. Definiert man jedoch Wohlstandschauvinismus als eine moderne Variante rassistischen Denkens, dann wird sie wie von Jens Petersen, Sibylle Stegmüller22 und Vittorio Moioli dementsprechend klassifiziert. Moioli bezeichnet den Rassismus der Lega als differenzialistisch: Indem sie vorhandene Ressentiments aufgreift und sie provokativ zuspitzt, sichert sie sich die Zustimmung der Bevölkerung und öffentliches Interesse. Damit wird zugleich Identität gestiftet, die sich aus der Abgrenzung nährt.23 Rolf Uesseler nennt dies "negative Identifikation".24 Obgleich die Lega vorhandene Ressentiments für propagandistische Zwecke instrumentalisiert, unterscheidet sie sich in dieser Hinsicht nicht von den übrigen italienischen Parteien.25 Auch in diesem Punkt muß die Entwicklung der Lega berücksichtigt werden. Noch bis Anfang der 90er Jahre wurden Vorurteile gegen Immigranten und Süditaliener noch scharf formuliert. Parallel zur nationalen Etablierung der Partei und ihrem Willen, innerhalb des Systems zu gestalten, wurden sie jedoch vergleichsweise milde vorgetragen.26 Weitgehende Einigkeit besteht darüber, daß die Lega keine Partei der extremen Rechten ist und unter dem Blickwinkel ihrer politischen Ziele - sie tritt für eine Tout-court-Privatisierung ein - als neoliberal bezeichnet werden kann.27 So unterschiedlich die Ergebnisse auch sind; ein Faktum wird von allen Sozialwissenschaftlern, Journalisten und von der Lega selbst hervorgehoben: Das Jahr 1989, der Fall der Mauer als definitives Ende des Kalten Krieges, war eine wichtige Voraussetzung für die Beschleunigung längst augenfälliger Erosionserscheinungen des alten Parteiensystems und Chance für politische Newcomer.

6.3.Freiheitliche Partei Österreichs

Haider. Ganz Österreich scheint fasziniert von diesem Mann. Kaum ein anderer Politiker, der so viel Staub aufwirbelt und damit Journalisten Topmeldungen beschert. Plumpe Geschmacksverletzungen, Tabubrüche, historische Wahrheitsverschiebungen oder provokativ-intelligente Zuspitzungen, mit denen er nicht selten ins Schwarze und damit den Nerv von Politikern trifft, sichern der wohl umstrittensten öffentlichen Figur Österreichs permanente Medienpräsenz. Entdeckt wurde das Rhetorik-Talent beim Jahrestreffen des Österreichischen Turnerbundes. Dieser ebenso politische wie sportliche Verein hatte 1966 Jörg Haiders Gedanken über die Bedeutung österreichischen Deutschtums mit dem Rednerpreis des Jahres prämiert.28 Damit weckte der Jugendliche das Interesse der Deutschen National Zeitung, die den Text nachdruckte, und des damaligen FPÖ-Vorsitzenden Friedrich Peter, der Haider in die Partei lockte. Neben seiner Parteiarbeit engagierte sich Haider zumeist an exponenter Stelle in zahlreichen rechtsextremen Organisationen. Darunter die Freiheitliche Jugend Oberösterreich und der Ring Freiheitlicher Jugend Österreichs. 1976 zog er nach Kärnten und übernahm in dem wichtigsten deutschnationalen Landesverband zahlreiche parteiinterne und parlamentarische Ämter; 1989 schließlich avancierte er dort zum Landeshauptmann (ein dem bundesdeutschen Ministerpräsidenten entsprechendes Amt). Nach nur zwei Jahren Amtsinhaberschaft wurde allerdings sein Rücktritt unumgänglich, nachdem er in einer hitzigen Haushaltsdebatte die Arbeitsmarktpolitik der Nationalsozialisten als "ordentlich" gelobt hatte. Seiner Karriere tat diese Provokation keinen Abbruch, denn zielstrebig wechselte er ein weiteres Mal seinen politischen Standort, zog nach Wien und wurde im Nationalrat Fraktionsvorsitzender seiner Partei. Seit 1986 hatte er bereits das Amt des Parteiobmanns inne. Der Rhetoriker Haider zieht nicht nur Anhänger, sondern auch seine politischen Gegner in Bann. So hatte sich eine Gruppe Klagenfurter Psychologen fakultätsintern "über das Stück Faszination und Aufregung, das wir beim Haider-Thema auch in uns selbst immer wieder spürten", geärgert und sich als Konsequenz dieses Unbehagens mit "Haiders Inszenierungserfolgen und Erfolgsinszenierungen" intensiver auseinandergesetzt.29 Die 1992 vorgelegte Studie richtet sich aufgrund ihrer Methoden30 in erster Linie an Sozialpsychologen und ist eine unter zahlreichen Untersuchungen, die sich mit Jörg Haider auseinandersetzen. Zunächst erstaunt über die Fülle von Publikationen zum Thema FPÖ und Haider, fiel mir bei genauerer Durchsicht die Dominanz des sprachanalytischen Diskurses auf. Er zielt hauptsächlich darauf, Jörg Haiders Affinität zum Nationalsozialismus herauszuarbeiten und zu beweisen, daß seine NS-Anspielungen überwiegend weltanschaulicher und nicht taktischer Natur sind.31 Die Anwendungshäufigkeit dieser Methode legt den Schluß nahe, daß der überwiegende Teil österreichischer Gesellschaftswissenschaftler den Erfolg der FPÖ nach 1986 in erster Linie auf die Person Haiders und auf eine Wählerschaft zurückführt, die sich mit seinen Äußerungen identifiziert. Eine Analyse von politischen oder sozio-ökonomischen Erfolgsbedingungen der Partei gerät so ins Hintertreffen. Den diesbezüglichen Forschungsstand würde ich bei aller Vorsicht als rudimentär bezeichnen. Darüber hinaus halte ich es für sekundär, ob die inkriminierten Äußerungen auf einem geschlossenen rechtsextremen Weltbild basieren oder stärker taktisch motiviert sind. Alleine die Tatsache, daß Haider seine Verlautbarungen häufig an den NS-Sprachgebrauch anlehnt und damit absichtsvoll an latent oder manifest vorhandene Affekte appelliert, ist Grund genug, an seiner demokratischen Integrität zu zweifeln. Aber auch jenen, die diese Forschungsmethode bzw. ihre Dominanz wie ich für problematisch halten, fällt es augenscheinlich schwer, andere Instrumente anzuwenden. So bemängelt Andreas Schedler die einseitige akademische Konzentration auf Haiders "Affinitäten und Ambivalenzen gegenüber (...) nationalsozialistischen Positionen (..)". Seine Kritik zielt jedoch lediglich gegen das Thema und nicht gegen die Methode, der er sich in seiner Arbeit über die "antipolitischen Stereotypen" Haiders ebenfalls bedient.32 So interessant und legitim die Beschäftigung mit dem FPÖ-Obmann auch sein mag: Allein seine Rhetorik und seine NS-Anspielungen, Sprachwitz oder Provokationen können den Erfolg der FPÖ nicht erklären. Insofern liegt es nahe, sich mit den Befindlichkeiten der übrigen Parteien und den Beziehungen zwischen ihnen und (Wahl-)Bürgerschaft auseinanderzusetzen, wofür eine zweite Forschungsrichtung namentlich steht.33 Sie weist nach, daß der Erfolg der FPÖ auf die schwindende Integrationskompetenz der beiden großen Parteien zurückzuführen ist. Dies wird auf der Basis umfangreichen Datenmaterials zumeist lediglich konstatiert und die Gründe dafür mit nur wenigen Stichwörtern (gesellschaftliche Modernisierung, Arbeitslosigkeit) umrissen. Aufschlußreicher dagegen ist die 1994er Studie aus dem Hause Plasser/Ulram, in denen die Politologen detailliert die sozio-ökonomischen Hintergründe des FPÖ-Erfolgs beleuchten.34 Nicht zuletzt wird der Erfolg nach 1986 auf die Haider unterstützende Boulevard-Presse zurückgeführt. Eine besondere Rolle spielt dabei die Kronenzeitung, deren Aufmacher sich häufig mit den jüngsten, zu Parolen verdichteten Botschaften Haiders decken.35 Die FPÖ wird mit unterschiedlichen Adjektiven belegt, und in vielen Untersuchungen wird die Frage, ob und inwieweit sie rechtsextrem ist, diskutiert. Aufgrund der Unterwerfungs- und Zermürbungstaktiken Haiders unterscheidet Hans-Henning Scharsach zwischen dem Parteiobmann, den er als rechtsextrem bezeichnet, und der weitgehend einflußlosen Mitgliederschaft, die er nicht pauschal der extremen Rechten zuschlagen mag. Er definiert die Partei deshalb als Führerpartei.36 Da aber auch bei der FPÖ Mitgliedschaft freiwillig und niemand am Austritt zu hindern oder zum Eintritt gezwungen ist, halte ich diese Differenzierung für fragwürdig. Dagegen bewerten Brigitte Bailer und Wolfgang Neugebauer die FPÖ als tendenziell rechtsextrem, weil sich nach 1986 ein "entscheidendes Anwachsen der traditionellen deutschnational-rechten bis rechtsextremen Kräfte" vollzogen hat.37 Die sich stärker mit den politischen Taktiken Haiders und der FPÖ auseinandersetzenden Beobachter bezeichnen die FPÖ dagegen als populistische, rechtspopulistische oder schlicht als Protestpartei. Fritz Plasser und Peter A. Ulram fusionieren verschiedene Begriffe zu einem umfassenden Ausdruck und definieren die FPÖ als radikale rechtspopulistische Partei. In Anlehnung an Hans-Georg Betz38 differenzieren sie zwischen dem radikalen, dem rechten und dem populistischen Merkmal. Radikal sind Parteien dieses Typs in ihrer Ablehnung sozio-kultureller und sozio-politischer Systeme und in der Befürwortung des Leistungsprinzips und des liberalen Marktes, "ohne jedoch die Legitimität der Demokratie offen in Frage zu stellen".39 Rechts sind sie aufgrund ihrer Ablehnung individueller und sozialer Gleichheit und wegen ihrer Ablehnung der sozialen Integration von Minderheiten. Sie sind populistisch, weil sie Angst und Unsicherheit für ihre Zwecke instrumentalisieren und an den "gesunden Menschenverstand" und den sogenannten "kleinen Mann" appellieren.40 Auch Franz Januschek bezeichnet die FPÖ als eine rechtspopulistische Partei, definiert den Begriff jedoch anders als Plasser/Ulram: Die Partei Haiders ist rechtspopulistisch "und zwar nicht nur der Geschichte der Partei wegen, sondern auch wegen der Inszenierung ihrer gegenwärtigen Politik. Dies gilt zum einen für den traditionellen Topos der rechtsextremen Politik, die Reinhaltung der Rasse, Nation oder auch nur 'Kultur' - ein Topos, der von der FPÖ durchaus bedient wird -, zum anderen aber auch für Anspielungen auf die nationalsozialistische Vergangenheit".41 Das Populistische selbst äußere sich in dem Willen der FPÖ, die Macht zu übernehmen und sich nicht lediglich an einer Koalitionsregierung zu beteiligen, womit sie letztlich auf die Durchsetzung ihrer Ziele verzichten und Glaubwürdigkeit verlieren würde.42 Bei der ideologischen Klassifizierung läßt sich eine gewisse Vorsicht konstatieren, die meines Erachtens auf die Entwicklung der Partei und die bis heute nicht eindeutig erkennbare Richtung zurückzuführen ist.43 Wie viele andere hatte Hans-Henning Scharsach nach 1986 eine Re-Radikalisierung bzw. eine Renaissance des aggressiven Deutschnationalismus festgestellt. Aber "geblendet und irritiert durch diesen vermeintlichen 'Rückfall' übersehen politische Öffentlichkeit, Gegner und wahrscheinlich auch große Teile in der eigenen Partei, daß Haiders Politik eine völlig neue Dimension enthält, die weit über die Reproduktion gestriger Ideen hinausreicht."44 Unklar bleibt bei Scharsach aber die Qualität des Darüberhinausreichens. Zwar wurde Haider mit Hilfe der Deutschnationalen zum Parteichef gewählt, und er stammt selbst aus diesem politischen Zusammenhang. Aber er will keine Reaktivierung der alten FPÖ, die auch in ihren guten Zeiten keine ernstzunehmende Konkurrenz für die anderen Parteien darstellte. Er will Anführer einer großen Partei oder Bewegung mit dem Ziel sein, in der nationalen Politik eine wichtige Rolle zu spielen. Unter machtpolitischem Aspekt befindet sich die FPÖ derzeit in ihrer wohl wichtigsten (Entwicklungs-)Phase, was gleichzeitig dazu führt, daß man sie ideologisch schwer einschätzen kann.

6.4.Zusammenfassung

Claus Leggewie konstatiert (wie zuvor schon Durkheim) völlig zu Recht, daß sich Soziales nur aus Sozialem und Politisches nur aus Politischem erklären lasse.45 Ich will damit nicht behaupten, daß Haider, Le Pen und Bossi unwichtig sind oder daß ihre Parteien auch dann erfolgreich gewesen wären, wenn ihnen unauffällige Personen vorgestanden hätten. Zweifellos haben sie mit machiavellistischem Antrieb, politischem und sozialem Instinkt und einer gehörigen Portion Selbstbewußtsein die gesellschaftliche Stimmung und damit zusammenhängende Probleme erkannt, aufgegriffen und für sich instrumentalisiert. Sie sind aber keinesfalls Verursacher der für sie günstigen Bedingungen. Aus diesem Grund will ich die personalen Besonderheiten und Ähnlichkeiten der drei Parteichefs nicht lange diskutieren und nur auf einen wichtigen biographischen Unterschied verweisen: Anders als Jörg Haider und Jean-Marie Le Pen hat Umberto Bossi keine Berührungspunkte mit der extremen Rechten.46 Distanz oder Nähe zur extremen Rechten sagt nicht nur etwas über die Personen, sondern zugleich etwas über die Parteien aus, die in den folgenden Kapiteln im Mittelpunkt stehen. Die bereits hier deutlich gewordenen ideologischen Unterschiede sind noch weiter herauszuarbeiten. Unabhängig davon tauchen in den zitierten Untersuchungen aber auch Begriffe auf, die trotz parteipolitischer Differenzen äquivalente Erfolgsbedingungen der Parteien vermuten lassen: Modernisierung, Unsicherheit, Wandel der Industriegesellschaft und des Parteiensystems. Dies und die Überprüfung meiner Thesen steht im Zentrum von Kapitel 9. Im folgenden Teil werden die Parteien in ihrer Gründungs- und Konsolidierungsphase vorgestellt. Im Fall FPÖ bedeutet dies eine Analyse des Nach-1986er-Zeitraums, d.h. nach Haiders Antritt als Parteiobmann.
Inhalt
Kap. 1
Kap. 2
Kap. 3
Kap. 4
Kap. 5
Kap. 6
Kap. 7
Kap. 8
Kap. 9
Kap. 10
Literaturverzeichnis