Susanne Falkenberg: Populismus und Populistischer Moment im Vergleich zwischen Frankreich, Italien und Österreich

Inhalt
Kap. 1
Kap. 2
Kap. 3
Kap. 4
Kap. 5
Kap. 6
Kap. 7
Kap. 8
Kap. 9
Kap. 10
Literaturverzeichnis

3. Populistischer Moment und populistische Politik -

3.1. Zielsetzung

Krise ist ein Phänomen, ohne das Populismus nicht zu begreifen ist. Gesellschaftliche Krisenereignisse können demnach einen populistischen Moment konstituieren, in dessen Folge bestimmte Reaktions- und Protestmuster zu erwarten sind. Der Begriff populistischer Moment wurde von Agnus Stewart im Rahmen seiner Analyse von Konflikten zwischen traditionellen und nicht-traditionellen gesellschaftlichen Segmenten eingeführt1 und von anderen, z.B. Lawrence Goodwyn oder Helmut Dubiel, übernommen.2 Damit sind bereits mehrere Begriffe bzw. Phänomene angesprochen, die zu präzisieren und deren Beziehungen zu untersuchen sind.

3.2. Moderne bürgerliche Gesellschaft3 und populistischer Moment

3.2.1. Einleitende Überlegungen

Wie jedes Kollektiv definiert sich auch Gesellschaft.4 Sie tut dies über ihre Verfassung sowie über ein dynamisches innergesellschaftliches Werte- und Normensystem, wobei die Segmente aufeinander bezogen und voneinander abhängig sind. Jede Gesellschaft verfügt darüber hinaus über ihrem Selbstverständnis und der sozialhistorischen Phase gemäße Kollektivierungsformen (Familie, Parteien, Vereine, Bürgerinitiativen etc.). Dieser Rahmen konstituiert verschiedene Formen von partikularen Identitäten, Rollenmustern und Orientierungen und als deren Resultat eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Identifikation mit dem System selbst (oder Massenloyalität, wie Habermas sagt).5

Werner W. Ernst beschreibt die dem bürgerlichen Staat immanente Gegensatzlogik, welche im Postulat moralischen Denkens und Verhaltens einerseits und partikularer Herrschaft bzw. korporatistischer Gesellschaftsorganisation andererseits zum Ausdruck kommt.6 Bestimmend an dieser "dualistischen Struktur" (Ernst) ist das Komplementäre dieser beiden Faktoren, deren Bestand dem Interesse der partikularen Herrschaft dient. Sozialprozesse und Individuen unterliegen somit strukturellen und psychologischen Zwängen, die über den Bezugsrahmen Identität legitimiert werden.7 Identität ist dabei das Resultat der Rezeption moralischer Kategorien und Werte sowie unterschiedlich stark ausgeprägte Machtkompetenz der einzelnen Gesellschaftsmitglieder durch und in verschiedenen Rollen. Damit wird erklärbar, warum systemimmanente oder durch externe Faktoren ausgelöste bzw. verstärkte Konflikte in der Regel keine Gefahr für den Bestand des Systems mit sich bringen. Ich differenziere hier zwischen systemstruktureller Krisen- und Konfliktregelung8 in demokratisch legitimierten Institutionen (vertikale Beziehung), bürgerschaftlichen Problemlösungen (horizontale Beziehungen)9 und systemideeller Konflikt"bewältigung". Dazu gehört ein weites Feld verinnerlichter Denkmuster, die dazu führen, daß Probleme nicht als Schwächen des Systems, sondern als Schwäche einzelner Personen oder Gruppen betrachtet werden: Konflikte werden damit ent-politisiert bzw. individualisiert. Dazu zählt: 1. der inzwischen etwas verhaltener formulierte Vorwurf, Arbeitslosigkeit sei selbstverschuldet; 2. die von den Massenmedien unterstützte Tendenz, Amtsmißbrauch und Korruption in Politik, Wirtschaft und Verwaltung unter dem Aspekt persönlichen Versagens einzelner und nicht unter strukturellen Gesichtspunkten zu beleuchten; 3. die Tatsache, daß Minderheiten, wo Wohnungs-, Arbeitsmarkt- und andere Probleme nicht mehr vereinzelfallt werden können, in die Rolle des Sündenbocks gedrängt werden. Wenn man so will, ist dies letztlich eine Form von Kollektiv-Individualisierung.10 Lövenich weist dabei zu Recht darauf hin, daß es im Interesse moderner bürgerlicher Gesellschaften liegt, Herrschaftsansprüche mit nicht-repressiven Mitteln durchzusetzen.11 Das gilt auch für die Überwindung von Krisen.

3.2.2. La crise (quelle crise?)

Krise wird vom Duden als "Entscheidungssituation, Wende-, Höhepunkt einer gefährlichen Entwicklung" definiert. Anders als im medizinischen Bereich, wo die Alternative Ab- oder Überleben heißt, können gesellschaftliche Krisen mehrere Entwicklungen nehmen.12 So ist eine Systemkrise, d.h. die unrechtmäßige, gewaltsame und/oder gegen den Mehrheitswillen der Bevölkerung vollzogene Außerkraftsetzung von Verfassungs- und Legitimationsgrundlagen eines Systems theoretisch umkehrbar und die Reanimation des alten bzw. die Konstituierung eines äquivalenten Rechts- und Gesellschaftssystems möglich. Allerdings kann eine faktische oder repräsentative Gesellschaftsmehrheit freiwillig auf ihren Verfassungsrahmen verzichten und damit eine relativ konfliktfreie Transformation einleiten. So z.B. geschehen bei der DDR-Integration in die Bundesrepublik Deutschland oder der via Referendum geborenen slowakischen Republik. Beidem ist eine Legitimationskrise der politischen Eliten und ihrer Strukturen vorausgegangen. Es gibt auch Krisenereignisse, die sich innerhalb eines Systems ereignen, ohne dessen Grundlagen zu tangieren. Diese Krisen werden durch gezielte Maßnahmen, etwa durch eine Korrektur bisheriger Verteilungsprinzipien oder die Wahrnehmung verfassungsrechtlicher Sonder- bzw. Ausnahmebestimmungen (z.B. im "Verteidigungsfall") überwunden oder nehmen einen anderen Verlauf.

Bleiben wir einmal bei der extremen Situation, daß eine Verfassung gewaltsam oder widerrechtlich durch Intervention von außen oder innen außer Kraft gesetzt wird. In einem derartigen Fall ließe sich mit einigem Recht von einer System- oder Staatskrise sprechen. Was aber, wenn dies von der Bevölkerung nicht als dramatisch empfunden oder sogar goutiert wird? Sicher wird es dafür Gründe wie eine vorausgegangene ökonomische Krise oder eine Legitimationskrise der gesellschaftlichen Eliten geben. Was aus staatsrechtlicher Perspektive entsprechend bezeichnet werden kann, muß von der Bevölkerung also nicht unbedingt als Krise empfunden werden. Allerdings ist kaum davon auszugehen, daß alle Gesellschaftsmitglieder die gleichen Interessen haben oder verfolgen. Was also, wenn eine Bevölkerungsmehrheit die gewaltsame oder widerrechtliche Systemtransformation befürwortet und eine Bevölkerungsminderheit darunter zu leiden hat? Unter diesen Bedingungen gäbe es Nutznießer und Benachteiligte oder Opfer, die unter der Entwicklung zu leiden haben und sich somit in einer (persönlichen) Krise befinden, die durch die Mehrheitsgesellschaft provoziert wird. Es ist ebenso vorstellbar, daß ein sozio-ökonomischer Prozeß von einem größeren Teil der Bevölkerung als Bedrohung und in diesem Sinn als Krise erlebt wird, ohne daß von staatsrechtlicher Seite oder von seiten bestimmter sozialer Gruppen eine Veranlassung besteht, mit diesem Begriff zu operieren. Wenn jedoch der Kreis der Betroffenen kontinuierlich steigt, dann ist mit dem Anwachsen von Frustrationen nicht nur in dieser, sondern auch in denjenigen Gruppen zu rechnen, die fürchten, in eine vergleichbare Lage zu gelangen.

Aber auch in diesem Fall muß differenziert werden. So überlegt Ulrich Beck, ob die heutigen Probleme nicht weniger "Ausdruck von Krisen, sondern von Siegen des Industrialismus" sind.13 Marginalisierung, 2/3-Gesellschaft, wachsende Arbeitslosigkeit und Armut wären demzufolge immanente Erscheinungen oder Folgen der Industriegesellschaft. Damit wäre gleichzeitig festgestellt, daß diejenigen, die sich aufgrund dieser Entwicklung in einer Krise befinden (oder sich selbst von einer Krise betroffen fühlen), eine systemgemäße Rolle einnehmen. Krise ist so betrachtet eine unabdingbare Folge des Industriekapitalismus. Oder ist es präziser, von Begleiterscheinung zu sprechen? Oder gar von einer notwendigen Voraussetzung, mit der bestimmte gesellschaftliche Transformationsprozesse eingeleitet, begleitet, begründet, gerechtfertigt oder erst möglich gemacht werden?

Im Rückblick auf die späten 80er und der 90er Jahre läßt sich feststellen, daß neoliberale Forderungen mit zunehmendem Selbstbewußtsein vorgetragen wurden. Nach der Erosion des sozialistischen Zusammenhangs braucht sich der Kapitalismus nicht mehr als die bessere Systemalternative zu präsentierten. Deshalb müssen sich die herrschenden Eliten bei ihren Entscheidungen auch keine Sorgen mehr über ein wachsendes Frustrationspotiental machen, das sich theoretisch linken systemantagonistischen Parteien oder Argumenten öffnet. Das zeitliche Zusammentreffen von neoliberaler Vehemenz und dem Ende des Sozialismus ist daher sicher kein historischer Zufall. Was aber passiert mit den Menschen, die durch die Auswirkungen neoliberaler Wirtschaftspolitik zunehmend verunsichert sind? Sie können in die Privatheit fliehen und die am eigenen Leib erfahrenen Probleme als individuell erleben oder persönlichem Versagen zuschreiben. Die so empfundenen Krisenmomente bleiben abgesehen von einer sinkenden Wahlbeteiligung ohne politische Konsequenzen; wenn man Politik einmal sehr eng mit Parlamentspolitik gleichsetzt. Es ist aber auch möglich, daß sich die Betroffenen weigern, sich selbst als Verursacher ihrer Probleme zu sehen, und sich Argumenten öffnen, die die Schuldigen bei gesellschaftlichen Minderheiten suchen.

Grundsätzlich können die politischen Eliten dadurch in Legitimationsschwierigkeiten kommen. Dies wäre der Fall, wenn ein überproportional großer Teil den Wahlen fern bliebe. Mit Blick auf die Vereinigten Staaten von Amerika muß allerdings eingeräumt werden, daß aus einer niedrigen Wahlbeteiligung (bislang) noch keine Legitimationsprobleme erwachsen sind. Anders verhält es sich, wenn Anti-Systemparteien in die traditionellen Strukturen eindringen und einen hohen Stimmenanteil an sich binden. In vielen europäischen Ländern läßt sich eine solche Tendenz erkennen. Die traditionellen politischen Parteien und demokratischen Strukturen können so in Legitimationsschwierigkeiten geraten, die sich zu einer Legitimationskrise auswachsen kann.

Krise ist demnach ein von Prozessen abhängiges Phänomen mit unterschiedlichen Bezugsformen. Deshalb ist stets zu fragen, von wessen Krise die Rede ist.14 Sie ist, wie Ekkart Zimmermann mit Recht feststellt, nicht allein ein quantitatives Phänomen.15 Andernfalls "hätte es in Holland mit der höchsten Arbeitslosigkeit westlicher Länder im Jahre 1936 erheblich mehr politische Turbulenz geben müssen als beispielsweise in Deutschland".16 Eine ökonomische (oder Verteilungs-)Krise kann also im äußersten Fall eine Systemkrise nach sich ziehen, muß es aber nicht. Das Schüren sozialer Ängste für politische Zwecke und mangelnder Verfassungs-Konsens spielen daher für die Richtung und den Verlauf eine erhebliche Rolle.17

Ich unterstütze die Definition Joachim Raschkes, für den Krise weder "die alleinige Zuspitzung objektiver Widersprüche ohne Krisenbewußtsein" noch ein lediglich "subjektives Unzufriedenheits- oder Unruhephänomen", sondern eine Kombination beider Faktoren ist.18 Allerdings möchte ich etwas hinzufügen: Der Verlauf einer Krise und die Qualität des Krisenbewußtseins hängt auch von den Interessen der gesellschaftlichen Handlungsträger und davon ab, wie sie strategisch damit umgehen. Binder et al. unterscheiden mit der Penetrations-, Legitimations-, Partizipations-, Verteilungs- und Identitätskrise fünf Krisen,19 die in modernen Gesellschaften durchaus auftreten, anders aber als in Entwicklungsländern nicht zusammen oder in schneller Abfolge. Aus diesem Grund ist das Entstehen einer Systemkrise unwahrscheinlich. Dabei wäre zu fragen, unter welchem Stichwort "Systemkrise" diskutiert wird und ob man dabei eher juristische oder ökonomische Kategorien zugrunde legt. Eine ökonomische Krise in liberalkapitalistischen Systemen ist Jürgen Habermas zufolge auch eine Systemkrise. Sie tritt im Zusammenhang mit ungelösten ökonomischen Steuerungsproblemen auf,20 wobei die "ökonomische Krise sich unmittelbar in eine soziale Krise (umsetzt)".21 Die Interessengegensätze unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen treten dabei zutage, und die "soziale Integration der Gesellschaft" ist in Frage gestellt.22 Systemtheoretisch betrachtet sind Krisen deshalb "anhaltende Störungen der Systemintegration".

In einer weitgehend über Arbeit und Leistung determinierten Gesellschaft haben Dauerarbeitslosigkeit, die Abqualifizierung ehemals bedeutender Berufsprofile, der Zwang, minderqualifizierte Arbeit anzunehmen oder sinkende Chancen beruflicher Qualifizierung weitreichende Folgen auf Sozialstrukturen, Rollenmuster, Identität und Wertorientierungen.23 Verifizierbare Daten über konjunkturelle Einbrüche oder industrielle Modernisierungsschübe reichen daher nicht aus, um schon von einer Krise zu sprechen. Hinzukommen muß das bereits erwähnte individuelle und/oder kollektive Empfinden, in einer Krise zu stecken.24 Dieses Empfinden läßt sich auch als Verlust von Sicherheit bezeichnen.25 Statusangst und Statusverlust, soziale Desorientierung, psychosoziale Streßerscheinungen, fortschreitender Mangel an Übersicht oder Perspektivlosigkeit sind hier die wichtigen Stichwörter.

Krisenempfinden stellt sich freilich nicht über Nacht ein, sondern ist ein Zusammentreffen von (berechtigten) sozialen und ökonomischen Ängsten und Mißtrauen gegenüber den politischen und wirtschaftlichen Handlungsträgern. Es ist dabei durchaus möglich, latente Unsicherheitsgefühle für politische und ökonomische Zwecke zu instrumentalisieren und sie in eine bestimmte Richtung zu lenken: Sozio-ökonomische Modernisierung, insbesondere wo mit ihr empfindliche Veränderungen verbunden sind, bedarf einer breiten Legitimation und lobbyistischer Überzeugungsarbeit bei Parteien, Verbänden, Medien und Gesellschaftsmitgliedern. Dabei muß unterschieden werden zwischen jenen, die sich individuell von einer Krise betroffen fühlen, und jenen, die das Gefühl haben, daß eine gesellschaftliche Krise vorhanden ist. Ich behaupte, daß gerade die nicht unmittelbar von der Krise Betroffenen zwei wichtige gesellschaftliche Funktionen erfüllen: 1. Von ihnen wird ein gesellschaftliches Stadium als Krise definiert, weil sie Gefahren für die gesellschaftliche Entwicklung oder für das System sehen. 2. Sie stellen diejenige Basis dar, die sozio-ökonomische Modernisierungsprozesse einfordert oder der Modernisierung gegenüber aufgeschlossen ist. In diesem Sinn bilden sie die Basis, die die Eliten zur Durchsetzung ihrer Ziele brauchen. Die beiden genannten Funktionen können sich ergänzen, sie können aber auch Gegensätze sein.

Die moderne und plurale Gesellschaft zeichnet sich durch komplexe Strukturen aus, in denen Regierung und Opposition, Kammern, Verbände, Medien sowie organisierte und nicht organisierte Bürger- und Unternehmerschaft interagieren und eine Balance herstellen. Wirtschaftliche Eliten als einflußreiche Lobbyisten müssen ihre partikularen Interessen mit den Interessen anderer gesellschaftlicher Akteure abstimmen. Ausnahmefälle wie zeitweiliger Stillstand institutionalisierten Interessenausgleichs, Spontan- oder Generalstreik (der ja auch institutionalisiert ist), Protestwahlverhalten oder Massendemonstrationen sind danach noch kein wirklicher Ausdruck von Krise. Der Streik ist ebenso legitim (und legal) wie massenhaftes Demonstrieren oder die Wahl einer nicht etablierten Partei. All diese Erscheinungen mögen aber Anzeichen eines gestörten Entwicklungsprozesses sein. Wie schon erwähnt kann eine ökonomische Krise auch eine Systemkrise nach sich ziehen.26

Neben zahlreichen historischen gibt es jüngere und vergleichsweise(!) undramatische Beispiele. So wurden 1994 im budgetär arg belasteten aber auch politisch desorientierten Italien drei Parteien (Alleanza nazionale, Forza Italia und Lega Nord) in die Regierung gewählt, die aus demokratischer Perspektive mehrfach skeptisch zu betrachten sind. Ich will damit nicht behaupten, daß Italien am Rande einer Systemkrise stand; aber sowohl die politisch-ideologische Herkunft der Parteien oder ihrer Anführer als auch ihre Ziele waren und sind nicht ohne politische Brisanz: Teilung der Republik als Kernforderung der Lega; das Ziel Berlusconis und Finis, das Parlament durch die Konstitution eines starken Präsidialamtes deutlich zu schwächen; keine demokratische Legitimation Berlusconis als Vorsitzender seiner "Instant-Partei",27 deren Statuten zudem für drei Jahre auf Eis gelegt worden sind;28 seine von ihm zwar bestrittene aber nachgewiesene Mitgliedschaft in der seit Jahren verbotenen weil verfassungsfeindlichen Geheimloge P2; die Vermischung politischer und privat-wirtschaftlicher Interessen durch Berlusconi, was nicht zuletzt dadurch zum Ausdruck kommt, daß die Führungselite seiner Fininvest-Holding von ihm mit zahlreichen öffentlichen Aufgaben betraut worden ist; die Reklamierung Istriens als angeblich italienisches Gebiet durch die Alleanza nazionale u.v.a.m. Mittlerweile befinden sich die genannten Parteien wieder in der Opposition. Zudem haben sie ihre politischen Zielvorstellungen zum Teil zurückgenommen oder modifiziert. Gleichwohl liegt die Gefahr derartiger Krisenmomente darin, daß unter ihrem Einfluß Organisationen und Politikstile begünstigt werden (können), die zwar in der Regel Übergangsphänomene bleiben und zumeist in das System integriert oder von ihm absorbiert werden können. Eine Garantie für derart systemgerecht ablaufende politische Prozesse gibt es indessen nicht.

Die wichtigsten Erkenntnisse sind zusammenfassend folgende:

1. Krise ist der Höhepunkt eines für das System bedrohlichen Prozesses.

2. Krise ist nicht allein ein quantitatives Phänomen.

3. Krise steht in unterschiedlichen Abhängigkeitsverhältnissen. Sie muß weder von allen Mitgliedern eines Segments als solche empfunden noch unter jedem Begriff als solche definiert werden (Wirtschafts-, Staats-, Identitätskrise etc.).

4. Der Verlauf einer Krise und die Qualität des Krisenbewußtseins ist auch davon abhängig, wie die gesellschaftlichen Eliten mit der Krise und ihren eigenen Interessen (strategisch) umgehen.

5. Eine Krise kann die Voraussetzung für weitere Krisen konstituieren.

3.2.3. Krise und Gemeinschaft

In modernen kapitalistischen Gesellschaften existieren nurmehr unbedeutsame Kräfte, die mit Krise Hoffnung auf revolutionäre Veränderungen verbinden. Derartige in Theorien gekleidete Wünsche haben sich als Illusion erwiesen; zudem hat die wirtschaftliche Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg ein Wohlstandswachstum mit sich gebracht, durch das zuvor systemantagonistisch vorgetragene politische und materielle Ansprüche befriedigt werden konnten. "Wohlstand - objektiv meist bescheiden, im Verhältnis zum eigenen Herkunftsmilieu jedoch beträchtlich - verschafft lang ersehnte Entfaltungsmöglichkeiten in Privatheit, Familie, und Freizeit. Es kommt zu einer 'Demokratisierung' ehemals exklusiver Konsum- und Lebenschancen."29 Die Überwindung einer Krise wird damit von allen Gesellschaftsmitgliedern erhofft.30 Georg Vobruba nennt das positive Anbindung von Interessen an den Gesellschaftsbestand, wodurch sich gleichzeitig die "Trägerschaft der gesellschaftlichen Bestandsinteressen verbreitert" hat.31

Krisen lassen sich aber selten rasch beseitigen. Ihre Auswirkungen müssen bis zur ihrer Überwindung mit Hilfe verschiedener Instrumentarien abgefedert werden. In derartigen Phasen erfreuen sich auch Gemeinschaft und der common sense32 einer besonderen Beliebtheit. Es kann im partikularen Interesse an ein als Gemeinschaft definiertes Segment appelliert werden, den Gürtel zum angeblich eigenen Schutz enger zu schnallen, sich auf moralische oder religiöse Werte zu besinnen oder sich schlicht auf den gesunden Menschenverstand zu verlassen.

Gemeinschaftliche Ideologien wie der aus den USA stammende Kommunitarismus erleben eine Renaissance. Die Anhänger des (Neo-)Kommunitarismus beklagen den Verlust moralischer Kategorien, den fortgeschrittenen Wissenschaftsglauben, die Entfremdung zwischen den Menschen und, summa summarum, die Hegemonie des Liberalismus.33 Andreas Beierwaltes zieht eine Linie des Kommunitarismus, die von protestantischen Einwanderern und ihrem 1789/91 kumulierten Protest gegen die Bundesverfassung über die von verarmten Farmern gegründete People's Party34 bis zu modernen Strömungen reicht, wobei er hier zwischen praktischem und philosophischem Kommunitarismus unterscheidet.35 Dessen Vertreter fordern eine Rückbesinnung auf traditionelle Tugenden,36 die Abkehr vom Individualismus oder wie zum Beispiel Robert Unger den "konterrevolutionären Kampf" gegen den Liberalismus mit dem Ziel "einer ordnungstiftende(n) Zerstörung falscher Konventionen".37

Während Beierwaltes den Kommunitarismus als notwendige Ergänzung des Liberalismus bezeichnet, kommt Stephen Holmes zu einem anderen Schluß: Der Grundfehler des Antiliberalismus - wie des Kommunitarismus als dessen "weiche" Erscheinung - besteht "neben der messianischen Aufladung des Gemeinschaftsbegriffs und einer moralischen Überbewertung des Sozialen darin, daß nicht hinreichend zwischen liberaler Theorie und liberaler Gesellschaft unterschieden wird".38 Ihm wird jedoch von Ludger Heidbrink vorgeworfen, den Fehler zahlreicher antiliberaler Strömungen insofern zu perpetuieren, als er ebenfalls auf der Ebene liberaler Theorie und nicht auf der Grundlage gesellschaftlicher Faktizität argumentiert. Er schließt seine kritische Auseinandersetzung mit Holmes mit der Feststellung, daß die antiliberale Kultur- und Gesellschaftskritik den Blick für die Unzulänglichkeit demokratischer Gesellschaften, "die nicht zuletzt in dem blinden Vertrauen auf die Heilkraft der liberalen Rationalität liegt", schärfen kann.39

Der Kommunitarismus sowie andere semi- oder antidemokratischen Strömungen postulieren eine über alle Partikularinteressen hinausgehende Gemeinschaft mit gemeinsamen Werten, die danach strebe, sich selbst zu erhalten, und die sich von anderen Gemeinschaften/Segmenten abgrenzt.40 Auch die Grundlagen der modernen bürgerlichen Gesellschaft - demokratische Legitimation und Repräsentation, formaljuristische Chancengleichheit, Partizipation, Wohlstand und Wohlfahrt etc. - verbinden die Bürger mit dem System. Ihnen ist die grundsätzliche Identifikation mit ihm und das Interesse an seinem Bestand gemein. Daraus zieht Vobruba den Schluß, daß damit auch "alle Gesellschaftsmitglieder zugleich Träger von und Adressaten für Gemeinschaftsideologie" seien.41 Allerdings darf aus dem zurecht postulierten gemeinsamen Interesse am Systembestand nicht die Existenz einer Gemeinschaft mit gleichen Interessen abgeleitet werden. Gemeinschaftsideologie wäre - auch bei großzügiger Auslegung des Begriffs - keine Ideologie, wenn alle gesellschaftlichen Fraktionen sie gleichermaßen artikulieren und internalisieren. Hier muß differenziert werden. Wer redet von Gemeinschaft, und welche Interessen stehen dahinter? Wer darf Mitglied einer Gemeinschaft sein, und wer muß draußen bleiben? Wird Gemeinschaft gegenüber anderen Gruppen oder Gemeinschaften als erhöht oder als benachteiligt empfunden? Ist sie temporärer Zweck oder gilt sie als vorausgesetzt? Zielen die Gemeinschaftsappelle gegen das Establishment oder werden sie aus ihm heraus formuliert?

Die Inhalte der Appelle mögen, gleich von wem sie stammen, mitunter identisch sein, aber die dahinter stehenden Absichten sind verschieden. Gemeinschaftsideologie von oben dient vor allem dem Ziel, eine klassenlose Gesellschaft vorzugaukeln. Sie richtet sich an jene, deren Wohlstandserwartungen, die in Wachstumsphasen befriedigt worden sind, nicht mehr erfüllt werden und in deren materiellen Besitzstand eingegriffen wird. Insofern kann die Gemeinschaftsideologie als eine Art Substitut für Wohlstandszuwachs bzw. dessen Bewahrung bezeichnet werden.42 Unter dem Strich kann die von Outsidern vorgetragene Gemeinschaftsideologie die gleiche Funktion erfüllen, es muß aber nicht in ihrem eigentlichen Interesse gelegen haben.

Neuere Untersuchungen über Wirtschafts- und Sozialpolitik, Wohlfahrtsstaat und moderne Gesellschaften kommen zu dem Schluß, daß populistische Politik eine Reaktion auf neoliberale Politik ist.43 Dabei kann der Neoliberalismus bei der Durchsetzung seiner Ziele populistische Taktiken anwenden oder provozieren. Diese Politik muß deshalb nicht zwingend "von oben" kommen, wie Pallaver in Anlehnung an den Fall Berlusconi meint.44 Populistische Gemeinschaftsappelle und -anrufungen45 müssen aber, schon allein um als berechtigt wahrgenommen zu werden, gegen das sogenannte Establishment zielen.46 Es bildet den Adressaten des mit den Appellen verbundenen Protests. Ihm wird Machtbesessenheit und Korrumpierbarkeit sowie die Komplizenschaft mit jenen Kräften vorgeworfen, die den Interessen des Volks entgegen handeln. Dies kann eine dirigistische Bürokratie, das Großbankenwesen, kosmopolitisches Denken oder Einwanderung sein.47 Mir erscheint es aber sinnvoll, nicht nur vom Appell zu sprechen, weil damit nur der Akteur im Mittelpunkt steht. Differenzierter ist "Gemeinschaftsbezug", denn die mit Gemeinschaft verbundenen Begriffe und Themen müssen den Bedürfnissen der angesprochenen gesellschaftlichen Gruppen entsprechen; wobei sicher auch diese Bedürfnisse gesteuert werden können. Komplementäre Elemente sind Abgrenzung, Ausgrenzung, Marginalisierung und Stigmatisierung.

3.2.4. Krise und Protest

Zusammenhang von Krise und Protest

Aus dem Vorhandensein einer problematischen gesellschaftlichen Phase läßt sich das Aufkommen politischen Protests nicht kausal ableiten. Ein Zusammentreffen ist an folgende Voraussetzungen geknüpft: 1. an individuelles/kollektives Krisenempfinden und 2. an das Mißtrauen gegenüber Parteien und deren Repräsentanten, das sich zudem in ein Mißtrauen auch gegenüber den herrschenden Strukturen ausweiten kann.48 Krise und Protest können demnach nicht in einem isolierten Verhältnis von Ursache und Wirkung betrachtet werden. Protest richtet sich gegen jemanden. Damit rückt der Protestadressat in den Blickpunkt des Interesses. Parteienrepräsentanten, vor allem aber mit Parteien identifizierte Systemrepräsentanten aus Parlament und Regierung stehen anders als andere Eliten stets im Zentrum der meist medialen Öffentlichkeit. Aufgrund ihrer Omnipräsenz werden sie von weiten Teilen der Gesellschaft folglich als die Macher des Systems angesehen,49 und sie begreifen sich aufgrund ihrer Stellung und trotz aller eingeräumten Sachzwänge50 selbst als solche. Sie werden daher als Verursacher von Krisen wahrgenommen oder verdächtigt, diese nicht bewältigen zu können oder in Kauf zu nehmen. Damit erfüllt die etablierte (Partei-)Politik eine Art Pufferfunktion zwischen (Wahl-) Bevölkerung und bürokratischen und wirtschaftlichen Eliten, die ich etwas überspitzt formuliert als die oben genannten Sachzwänge bezeichne.51 Sie steht zugleich im Spannungsfeld von Modernisierung und Stagnation. Aus diesem Grund sind (partei)politische Repräsentanten immer wiederkehrenden Mißtrauensschüben ausgesetzt. Die Tatsache, daß Protest sich zuerst und häufig ausschließlich gegen sie richtet, liegt in der Logik des Systems.52 Demgegenüber steht die Strategie der herrschenden Ökonomie, Gesellschaftsentwicklung als "Naturgewalt" darzustellen: "Einbruch im Wirtschaftswachstum", "prosperierende Konjunktur" und so fort.

Exkurs: Wandel des Parteiensystems

In vielen modernen Demokratien ist eine Veränderung der Parteiensysteme zu konstatieren.53 Dieser Wandel wird durch sinkende Wahlbeteiligung, größere Abstimmungsflexibilität plus Wahlenthaltung, verstärkte Wahl gemäßigter Parteien, Veränderungen der Selbstverortung auf der Links-rechts-Skala und die Etablierung parteipolitischer Neuerscheinungen angezeigt. Plasser und Ulram diskutieren unterschiedliche Erklärungsmodelle. Als wenig aufschlußreich und durch vergleichende internationale Studien zum Teil widerlegt bezeichnen sie dabei jene Modelle, die von einer programmierten Erosion (Decline-of-Parties-Theorien) oder einer fundamentalen Axialverschiebung westlicher Parteiensystem ausgehen.54 Bereits 1988 hatte Plasser den Ansatz von Russell Dalton, Scott Flanagan und Paul Allan Beck mit den Begriffen "modische Krisendiagnosen, suggestive Krisenbeschwörungen und spekulative Wandlungsprognosen" kritisiert.55 Ihr vielzitiertes Modell teilt Wandlungsdynamik von Parteiensystemen in verschiedene Phasen: Zeiträume relativ geringer Abstimmungsschwankungen (stable realignments) signalisieren ein stabiles Parteiensystem. Als innovative Phase (realignment) wird die Veränderung der Grundstruktur eines Parteiensystems bezeichnet. Von Erosion (dealignment) sprechen die Autoren, wenn Parteibindungen aufgrund einer Überlagerung klassischer Parteiendifferenzen durch neue thematische Konfliktlinien zunehmend schwächer werden.56

Neuere Ansätze der Parteienforschung fordern eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Wandlungsfaktoren (vorübergehende Veränderungen, beschränkter Wandel, genereller Wandel und Systemtransformation). So verlangt Mair, diese Erscheinungen insgesamt zu spezifizieren und zwischen "systemic change" und "party-related-change" zu differenzieren und dem Parteienwettbewerb sowie strategischen Entscheidungen der Parteien mehr interpretativen Raum zu geben.57 Insbesondere Konzepte, die auf hochaggregierten Datenreihen basieren, vermögen dies nicht. Vor allem geben derartige Daten nur bedingten Aufschluß über die gesellschaftlichen Hintergründe dieses Wandels.

Hans-Georg Betz nennt als wichtige Ursache für diesen Wandel den seit zwei Jahrzehnten anhaltenden Modernisierungsprozeß, der durch technische Innovation und Spezialisierung von Beschäftigungsprofilen einerseits und Überwindung der fordistischen Massenproduktion andererseits gekennzeichnet ist.58 Von Bedeutung ist zudem die Erweiterung des tertiären Sektors sowie die "Ausweitung des Wohlfahrtsstaates sowohl hinsichtlich des Anteils der staatlichen Transferleistungen am Bruttosozialprodukt als auch des Anteils der Beschäftigten im öffentlichen Dienst".59 Dieser Wandel mit nachhaltigen Folgen auf das Konsum- und Arbeitsverhalten, Lebensplanungen und Wertorientierungen hat vor allem linkslibertären und rechtspopulistischen Strömungen genutzt.60 Sie stellen die herkömmlichen Parteiensysteme in Frage, tragen aber auf der anderen Seite zu ihrer Re-Stabilisierung bei, indem sie selbst integrale Akteure dieser Systeme werden.61

Das durch institutionelle Rahmenbedingungen, exogene Prozesse und strukturelle Trends geprägt Parteiensystem verändert sich insbesondere in kritischen gesellschaftlichen Phasen. Die strategischen Entscheidungen der Parteieliten bestimmen dabei wesentlich Richtung, Tempo und Intensität des Wandels.62 Parteien und Wähler werden so zu sich wechselseitig verstärkenden Motoren sozio-politischer Veränderungen, durch sie aber gleichzeitig verunsichert und in ihrer Entscheidungskompetenz möglicherweise gelähmt. Dies bedeutet, daß Wandel nicht fließend, sondern ungleichzeitig verläuft. Ein den Wandel verstärkendes Moment kommt hinzu, wenn neue politische Formationen die Möglichkeit haben, in ein traditionelles Parteiengefüge einzudringen (wobei die Tatsache, daß sie in das System eindringen konnten, freilich selbst ein Indikator für Veränderungen ist).

Die meisten politischen Systeme Westeuropas offerieren den Bürgern in Bezug auf Abstimmungsentscheidungen nur wenige Möglichkeiten. Darauf kann durch eine höhere Bereitschaft zur politischen Teilnahme ("Einmischung") in Bürgerinitiativen und -bewegungen oder durch ein Votum für eine Partei reagiert werden, die sich für größere Bürgerkompetenzen ausspricht. Das Wählen rechter, "volksnaher" und antielitärer Protestparteien findet sich dagegen eher bei Gruppen mit verhältnismäßig geringer Partizipationsbereitschaft oder -möglichkeit. Protestwahlverhalten, wo es noch kein Stammwahlverhalten ist, dient dabei auch dem Zweck, der traditionell bevorzugten Partei auf indirektem Weg die Meinung zu sagen. Stichwort Denkzettelwahl. (Mit der erhöhten Bereitschaft, für unkonventionelle Parteien zu stimmen, deutet sich darüber hinaus eine Abkehr von der Elitenorientiertheit an.63) Rechte Protestparteien werden also unter Umständen trotz ihrer inhaltlichen Aussagen gewählt. Finden sie Zuspruch wegen ihrer Politik, so müssen folgende Aspekte berücksichtigt werden: 1. Die genannten Protestparteien sprechen emotionale Bedürfnisse an (Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, Wertschätzung64), die von den etablierten Parteien nicht mehr befriedigt werden. Der politische Inhalt wird indirekt transportiert. 2. Es ist aber auch möglich, daß politische Inhalte von rechten Protestorganisationen deshalb Zuspruch finden, weil sie bereits vorhandene, bislang aber tabuisierte oder überlagerte Meinungen thematisieren.65 Die beiden Punkte lassen sich nicht strikt voneinander trennen, da Meinungen Ergebnisse von Kommunikations- und Interaktionsprozessen sind.

Exkurs: Protest von Neuen Sozialen Bewegungen

An dieser Stelle möchte ich kurz die Unterschiede zwischen Neuen Sozialen Bewegungen66 und rechts orientierten Protestparteien ansprechen,67 weil in verschiedenen, vor allem journalistischen Beiträgen häufig beides als populistisch bezeichnet wird.

Erweiterung von Bildungschancen und zunehmende soziale Absicherung waren wesentliche Voraussetzungen, unter denen sich Neue Soziale Bewegungen entwickeln konnten.68 Die industrielle Modernisierung in der Nachkriegszeit und der dadurch stetig wachsende Wohlstand ermöglichten eine Aufweichung vormals fester sozialer Gefüge, in denen "soziale Schicht, Einkommenslage, Beruf, Ehepartner und politische Einstellung meist aus einem sozialen Guß waren."69 Zugleich haben Wachstum und Wohlstand die Kritiker- und Protestgeneration produziert, die sich gegen die Wachstumsphilosophie richtet. Die Angst vor Krieg und Umweltzerstörung hat aber in der Regel nicht lähmend gewirkt, sondern Menschen zur politischen Teilnahme motiviert, die zur Erweiterung der Erfahrungshorizonte führte; neue (kollektive) politische, soziale und kulturelle Identitäten wurden gefunden. Im Votum für rechts orientierte Protestparteien kommt dagegen die (individuelle bzw. individualisierte) Angst vor dem Verlust der materiellen und sozialen Basis zum Ausdruck.70 Schon alleine der zeitlich/ökonomische Vergleich der Erfolge dieser und jener Strömungen verweist auf diese Unterschiede. Zudem teile ich die Auffassung Joachim Raschkes, wonach die Entstehungsgrundlagen alternativer Bewegungen sich einem "wie weit auch immer gedehnten (..) Krisenbegriff entziehen", es sei denn man würde jeden Interessen- und Wertekonflikt als Krise bezeichnen.71

Die Organisationen populistischen Protests

Eine Analyse der Bedingungen populistischer Politik sagt noch nichts über ihre unmittelbaren Träger aus. Zunächst ist festzuhalten, daß der populistische Moment in der Regel keine eigenen Organisationen kreiert. Vielmehr ist davon auszugehen, daß bereits länger existente Organisationen kurz- oder mittelfristig begünstigt werden und unter Umständen in das jeweilige Parteiensystem dauerhaft eindringen. Daraus ergibt sich auch die ideologische, taktische und formative Verschiedenartigkeit der von diesen Momenten profitierenden Akteure und die Schwierigkeit, sie unter einen einheitlichen Begriff zu fassen. Schließlich würde sich die Katze mit der Behauptung, daß die Nutzniesserinnen populistischer Momente populistische Parteien wären, in den Schwanz beißen.

Canovan, Puhle und andere haben bereits ein Merkmal genannt, durch das sich diese Organisationen auszeichnen und das ihren politischen Standort markiert: Sie agieren außerhalb des sogenannten Establishments, und sie agieren gegen das Establishment.72

Maria Antonietta Confalonieri sumiert sie unter den Begriff "politische Familie", ohne davon auszugehen, daß alle strukturellen, ideologischen und rhetorisch-strategischen Merkmale identisch sind oder sein müssen.73 Die von ihr als xenophob und populistisch bezeichneten Familienmitglieder sind durch eine grundsätzliche Anerkennung demokratischer Prinzipien bei Favorisierung plebiszitärer Entscheidungsformen bestimmt.74 Confalonieris Absicht, zu bündeln und dabei Unterschiede zuzulassen, ist ein weitreichender, aber auch problematischer Typologisierungsversuch. Die von ihr genannten Merkmale dieser politischen Familie sind für eine Klassifikation zu unpräzise. Vor allem führt sie nicht näher aus, aus welchem Grund sie diese Organisationen als populistisch bezeichnet, womit wir bei der Problematik des Sich-im-Kreise-Drehens angelangt sind. Zudem bleibt sie die Antwort schuldig, wo die Grenze zwischen der demokratischen und der antidemokratischen Rechten verläuft, wobei diese Grenzen mehrfach zu ziehen wären: einerseits innerhalb der nicht etablierten Rechten und andererseits zwischen ihr und ihren Segmenten und der - ebenfalls nicht homogenen - institutionalisierten Rechten.

Andreas Schedler favorisiert den Begriff "antipolitische Parteien", die durch Mobilisierung gegen das politische Establishment determiniert sind. Ihrer politischen Botschaft zufolge sind alle anderen Parteien gleich: "Nicht Wettbewerb, Kartellbildung treibt sie an. Daß sie im Plural auftreten, ist nur Illusion (...). In Wirklichkeit steht der Gegner im Singular. Regierung und Opposition sind identisch, ihre Konfrontation ein blosses Schattenboxen."75 Problematisch finde ich die bei Schedler zum Ausdruck kommende Annahme, daß etablierte (Parlaments-)Politik "politisch" und gegen sie opponierende Politik "unpolitisch" sei. Vor allem vernachlässigt er taktische Entscheidungen der sogenannt unpolitischen Akteure, die (auch) aufgrund der Dominanz traditioneller Parteien und Politiken auf die von ihm ausgeführten Stilmittel zurückgreifen, um auf sich aufmerksam zu machen und ihr Vorhandensein zu legtimieren. Politische Newcomer präsentieren sich oft schon allein wegen ihres Neuseins als Generalopposition und können nach einigen Wahlerfolgen durchaus ihren Platz im Parteiensystem finden und dort (auch konstruktiv) agieren (etwa deutsche und österreichische Grüne oder die skandinavischen Fortschrittsparteien, die er neben zahlreichen anderen Parteien unter diesen Begriff gefaßt hat). Im Grunde basiert dieser "Typ", auch wenn der Begriff "antipolitisch" populär geworden ist, auf einem Minimum an Merkmalen. Sie sind wenig scharf, und zudem lassen sich aus ihnen weder ideengeschichtliche noch solche Erkenntnisse gewinnen, die Aufschluß über die Intentionen der so bezeichneten Organisationen geben. Kehren wir also zu meiner Ausgangsüberlegung zurück, wonach ein populistischer Moment keine organisationskreierende Wirkung hat. Daß die davon profitierenden Organisationen sich nicht unter einen strengen Begriff fassen lassen, hat nicht zuletzt mit ihrer bereits zuvor bestehenden Unterschiedlichkeit zu tun. Es wäre geradezu aberwitzig zu vermuten, daß separatistisch/föderalistisch denkende Parteien ein erfolgreiches Äquivalent in Frankreich oder anti-wohlfahrtsstaatliche Formationen im angelsächsischen Raum einen Platz fänden. Die Liste nationaler und nicht einfach globalisierbarer Spezifika ließe sich mühelos fortsetzen. Sicherlich existieren zwischen den Parteien zum Teil bedeutende weltanschauliche Übereinstimmungen. Rechtsextrem, äußerst rechts, rechts - dies alles sind Begriffe, die aber nicht für alle Parteien zutreffen. (Rechte) Protestpartei wiederum kann nur für eine grobe Kennzeichnung, für eine pragmatische Unterscheidung, nicht aber typologisierend verwandt werden. Dies mag einer der Gründe dafür sein, daß sich (rechts-)"populistisch" so großer Beliebtheit erfreut, obgleich es konzediertermaßen schon ein wenig mehr ist als eine bloße Verlegenheitsbezeichnung. Ich gebe Confalonieri insofern Recht, als diese Parteien sich demokratisch präsentieren müssen (Wahlteilnahme) und die Legitimation der liberalen Gesellschaft nicht explizit in Frage stellen dürfen; gleichzeitig sind sie gezwungen, gegen den etablierten Politikbetrieb zu ag(it)ieren, um als tatsächliche Alternative dazustehen.

Drei wichtige Parteitypen, die unter dem Eindruck gesellschaftlicher Krisenereignisse erfolgreich geworden sind, lassen sich unterscheiden. Grundlage dieser Unterteilung sind ihre zentralen Issues.

1. Anti-Wohlfahrtsstaat-Parteien76 wie in Skandinavien77 oder die schweizerische Autopartei)78;

2. Anti(zentral)staatliche Parteien (z.B. Vlaams Blok,79 verschiedene norditalienische Ligen bzw. Lega Nord);

3. Nationalistische und identitätsorientierte Parteien (z.B. bundesdeutsche "Republikaner",80 Front National, Forza Italia81).

Aufgrund spezifischer gesellschaftspolitischer Bedingungen erst einmal zu Erfolg gelangt (oder im Einzelfall entstanden), unterwerfen sich die genannten Organisationen genau wie andere Parteien dem Konkurrenzkampf um Stimmen und Mandate. Populistische Politik wehrt sich zwar "zunächst gegen den korporatistischen Geist und setzt auf die 'Anständigkeit' der einfachen Menschen. In der Praxis politischen Handelns jedoch sieht sich der Populismus zu korporatistischer Politik gezwungen."82 Die Hoffnung, derartige Zwänge umgehen bzw. durchbrechen zu können, nennt Ernst schlicht einen Denkfehler.83

3.3. Populismus tendenziell rechtspopulistisch

Eine Traditions- oder etablierte Partei84 kann trotz aller wahrnehmbaren Veränderungen des Wählerverhaltens immer noch ein Wählerpotential mobilisieren, das traditionell und tendenziell dieser Organisation stärker als der jeweiligen Konkurrenz zuneigt. Dieses Potential fehlt insbesondere den vergleichsweise jungen Protestformationen. Sie können zwar durchaus weit zurückreichende ideologische Wurzeln haben. Allerdings fehlt ihnen zumindest zu Beginn ihrer elektoralen Karriere eine numerisch relevante und gewachsene Stammwählerschaft. Sie sind - auch weil die traditionellen Positionen von anderen Akteuren seit langem besetzt sind - weit stärker als andere Akteure gezwungen, ihre Programmatik und Aussagen an aktuellen Befindlichkeiten (oder Befindlichkeitsstörungen) zu orientieren, wenn sie ihren elektoralen und parlamentarischen Besitzstand wahren oder ausbauen wollen. Dabei bedienen sie sich durchaus alter, überlagerter oder tabuisierter Themen und Ressentiments. Es gibt Organisationen, denen es gelungen ist, anhaltende Konfliktlinien für sich zu nutzen und zugleich ein Thema dauerhaft zu besetzen.85 Andere sind parallel zur Überwindung oder Abschwächung einer Krisenphase wieder relativ bedeutungslos geworden.86 Dies muß aber nicht zwingend ihre völlige Atomisierung bedeuten. Im Falle neuer Konfliktlinien können sie durchaus wieder in Erscheinung treten, wie z.B. die norwegische Fortschrittspartei, die inzwischen als etablierte Partei bezeichnet werden kann.

In den bisherigen Ausführungen ist bereits die Relevanz gesellschaftlicher Krisenereignisse und der strategisch-rhetorische Umgang mit ihnen für den elektoralen Erfolg populistisch agierender Organisationen betont worden. Die sich in diesen Phasen manifestierenden Unsicherheitsgefühle innerhalb der Gesellschaft bzw. einzelner Segmente korrespondieren, von Grundängsten einmal abgesehen, mit den tatsächlichen Risiken des industriellen Systems. Gleichzeitig werden diese Risiken durch die Strukturen eben jener Gesellschaften bis zu einem gewissen Grad minimalisiert bzw. kompensiert.87

Sicherheit "war zweifellos schon immer eine der grundlegenden Wertideen wohlfahrtsstaatlicher Gesellschaften".88 Deshalb ist die Angst vor dem Verlust von sozialer, ökonomischer oder ökologischer Sicherheiten auch ein besonders geeignetes Betätigungsfeld für populistische Politik. "Den Wettkampf um die Ausbeutung von Angst und Furcht gewinnt nur, wer diesen mehr oder minder diffusen Gefühlen einen eindeutigen Anhaltspunkt gibt".89 Dabei liegt es im Interesse des politischen Systems, daß diese Ängste nicht auf das System selbst, sondern auf angebliche Bedrohungen von außen gelenkt werden. Dafür stehen namentlich z.B. internationale und organisierte Kriminalität, Masseneinwanderung und auf einer etwas abstrakteren Ebene auch der islamische Fundamentalismus. Die Abhängigkeit populistischer Politik von Krisen(erscheinungen) und von Sicherheitsbedürfnissen, die sich unter dem Eindruck von Krisen potenzieren, ist den Strategen der hier relevanten Parteien kaum verborgen geblieben. Dies bedeutet, daß sie auch in für sie weniger günstigen Perioden an latent vorhandene Ängste appellieren müssen, um mit den so erzeugten (Miß-)Stimmungen zu balancieren und eine Gemeinschaft von Betroffenen gegen äußere und innere "Sicherheitsrisiken" zu konstituieren. Es muß mithin differenziert werden zwischem einem populistischen Moment und einer dadurch provozierten Politik, die sich auch dann zu behaupten versucht, wenn Krisenerscheinungen überwunden werden oder abgeschwächt sind. Sich im normalen Spannungsfeld bewegende Themen müssen dabei zu Konflikten stilisiert werden, um daraus die Legitimation der eigenen Politik ableiten zu können.90 Aufgrund dieser Abhängigkeiten von Stimmungen neigt die populistische Taktik nicht nur zur Vereinfachung von Problemen, sie lebt geradezu davon. Dies bedeutet Verzicht auf Aufklärung und konstruktive Kritik, Innovation und Kreativität. Populistische Politik ist, da sie mit Ängsten spekuliert, im Grunde archaisch. Aus diesem Grund vertrete ich die These, daß populistische Politik und die sich ihrer bedienenden Organisationen tendenziell rechtspopulistisch sind.

3.4. Etablierte Politik und Populismus

In der Literatur werden vielfach Politikstile von etablierten Parteien und deren Repräsentanten als populistisch bezeichnet. Meinen bisherigen Ausführungen ist zu entnehmen, daß ich diese Auffassung nicht teile. Zwar mag der Appell an das Zusammenstehen der Gemeinschaft und die Berufung auf die Leute oder das Volk zur politischen Auseinandersetzung gehören. Diesen Appellen fehlt aber ein entscheidendes Merkmal: Sie zielen nicht gegen das etablierte politische System insgesamt, sondern gegen parteipolitische Konkurrenz innerhalb dieses Kontextes, gegen einzelne Gesetzesnormen oder gegen die Bedeutung eines gesellschaftlichen Akteurs, nicht aber gegen seine Existenz.91

Erinnert sei hier an die Urteile des deutschen Bundesverfassungsgerichtes, mit denen der staatlich verordnete Kreuz-Zwang in Schulen für verfassungwidrig und die Meinung, Soldaten seien Mörder, für verfassungskonform erklärt wurde. Die Richtersprüche haben zum Teil zu heftigen Auseinandersetzungen geführt; der Bestand des Gerichtes wurde von einzelnen Verbalinjurien abgesehen jedoch nicht in Frage gestellt.92

Populistische Politikmuster können aber im Rahmen etablierter Politik entstehen oder aus ihr erwachsen. Ein Beispiel dafür ist der ehemalige Freidemokraten Manfred Brunner, der sich parallel zur Vollendung des EG-Binnenmarktes an die Spitze dagegen gerichteten Protests zu setzen versuchte.93 Noch bemerkenswerter in diesem Zusammenhang ist die FPÖ. Sie hat in ihrer Parteigeschichte schon viele Stadien durchlaufen: Das der marginalisierten Partei, später das der etablierten Regierungspartei und unter Haider das der selbsternannten Opposition gegen die sogenannten Altparteien, zu denen sie wegen ihres langen Bestehens eigentlich auch zu zählen ist.

3.5. Das Interesse an populistischer Politik

Die Frage "Wem nutzt dies?" ist immer eine der spannendsten. Da populistisch agierende Parteien in Krisensituationen eine Funktion als zeitweiliges Auffangbecken haben können, möglicherweise anderen Akteuren Impulse geben, sie vielleicht zum Nach- oder Umdenken inspirieren oder eine Diskussion über die Hintergründe ihres Erfolgs bewirken, ist die Frage nach ihrem gesellschaftlichen Nutzen verhältnismäßig einfach zu beantworten: Abstrakt betrachtet liegt der Nutzen populistischer Politik im Interesse des Systems und damit im Interesse weiter Teile der Gesellschaft.94 Aber eben nur abstrakt betrachtet. Und wenn sie ein Übergangsphänomen bleibt. Kann sie überhaupt mehr sein als das? Da Populismus keine Ideologie, sondern überwiegend eine Taktik ist, die von verschiedenen, bereits skizzierten Organisationen angewandt wird, kann sie gar nicht mehr als eine temporäre Erscheinung oder eine Begleiterscheinung sein. Populistische Politik ist abhängig von und verknüpft mit der Ideologie oder den Absichten der jeweiligen Organisation. Wenn es ihr - theoretisch - gelänge, hegemoniefähig zu werden, so wäre das System über eine bestimmte Ideologie oder Grundhaltung bestimmt; es wäre vielleicht ein rassistisches, ein nationalistisches oder ein föderalistisches (Lega Nord), aber kein "populistisches System".

Wer aber sind - so es sie gibt - die konkreten Profiteure? In vielen Beiträgen über Populismus scheint die Antwort klar: Populistische Politik nutzt in erster Linie den wirtschaftlichen Eliten. Oder etablierten Parteien, die mit Hilfe populistischer Vereinfachung Gesetze auf den Weg bringen, die ohnedies ihren Absichten entgegenkommen. Ein anschauliches Beispiel dafür ist die europäische Diskussion über Immigration und Immigrationsbeschränkung. Doch gerade in diesem Bereich läßt sich feststellen, daß ein emotionalisiertes Klima Parteien und ihre Vertreter zum symbolischen, juristischen und politischen Handeln gegen die von ihnen (mit) provozierten Stimmungen zwingt. So hat beispielsweise die österreichische Regierung parallel zu der von der FPÖ initierten Volksabstimmung "Österreich zuerst"95 ein äußerst rigides Einwanderungsgesetz diskutiert und später verabschiedet, das den Vorstellungen der FPÖ weitgehend entsprach. Sowohl der Gesetzes- als auch der Referendumsinitiative sind die entsprechenden hitzigen Auseinandersetzungen vorausgegangen. Eine unmittelbare Folge davon war die erhöhte Gewaltbereitschaft gegen Immigranten, die schließlich zur Gründung der Initiative "SOS-Mitmensch" führte, in der zahlreiche, auch prominente Bürger aktiv sind. 1995 schließlich wurde das rigide Gesetz (auch auf internationalen Druck) erheblich entschärft. Ich habe dieses Beispiel herausgegriffen, um zu unterstreichen, daß populistische Politik nicht unbedingt den politischen Interessen etablierter Parteien entgegenkommt. Diese können, wie das Beispiel ebenfalls verdeutlicht, durch die Adaption solcher Themen auch in Legitimationsschwierigkeiten kommen. Ein anderer Zusammenhang ergibt sich auf seiten der Industrie, die vielleicht ein Interesse daran haben mag, daß Probleme zu ihren Gunsten vereinfacht und zudem Forderungen erhoben werden, die sie selbst nicht ohne weiteres artikulieren kann oder will: Erinnert sei hier an die bundesdeutschen Industrie, die auf die wachsende Gewaltbereitschaft gegen "ausländische Inländer" mit Kampagnen geantwortet hat, die auf die Notwendigkeit liberaler Einwanderungspolitik verweisen, und die mit Blick auf innerbetrieblichen Frieden und Protest aus dem Ausland von Politikern entsprechend einwanderungsfreundliche Maßnahmen fordern, die diese zum Teil gar nicht erbringen wollen.

Zu behaupten, daß populistische Politik und deren gemeinschaftsappellativen, fremden- und verbändefeindlichen Forderungen unmittelbar im Interesse dieser oder jener Fraktion läge, wäre also eine grobe Vereinfachung. Daß diese Politik allerdings jenen nutzt, die zur "richtigen" Zeit mit den "richtigen" Themen aufwarten und somit Konstrukteure ihrer eigenen Karrieren samt der dazugehörenden Privilegien sind, ist eine einfache Erkenntnis. Sie sollte aber auch nicht unberücksichtigt bleiben.

3.6. Zusammenfassung

Populistische Politik läßt sich nur im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Krisenereignissen begreifen. Krise ist dabei das Zusammentreffen von einem unter zumeist konjunkturellen Zwängen verlaufenden tiefgehenden sozio-ökonomischen Wandel und die dadurch bedingten oder ermöglichten Veränderungen sozialer, politischer und ökonomischer Leitbilder. Bei den besonders betroffenen gesellschaftlichen Gruppen kann dies zur nachhaltigen und mehrschichtigen Verunsicherung über ihren gesellschaftlichen Stellenwert führen. Diese Voraussetzungen konstituieren einen populistischen Moment.

Die entstandenden Konfliktlinien werden durch den Gemeinschaftsrekurs zeitweilig neutralisiert und potentiell systemkritischer Protest in eine ungefährliche Richtung gelenkt. Gemeinschaftsideologie fungiert dabei als Substitut für reduzierte materielle und immaterielle Sicherheiten. Einerseits wird an eine imaginäre Gemeinschaft mit dem Ziel ihres Zusammenhalts appelliert. Andererseits stößt der Appell auf die Bereitschaft oder den Wunsch der angesprochenen Segmente, sich einer durch gleiche Lebensbedingungen, Interessen und Ansichten determinierten Gruppe zugehörig zu fühlen. Populistische Gemeinschaftsappelle grenzen dabei nicht nur bestimmte soziale Gruppen, sondern auch das politische Establishment als nicht zur Gemeinschaft gehörig oder gegen sie agierend aus.

Krisenerscheinungen sind eine wichtige Handlungs- und Legitimationsgrundlage populistischer Politik, die etablierte Parteien und ihre Repräsentanten verdächtigt, diese zu verursachen oder zu verschärfen. Eine Gesellschaft, in der die Thematisierung antagonistischer Klassen und Interessen überholt ist, entwickelt notwendigerweise spezifische Formen politischen Protestes. Krise wird nicht als systemimmanent begriffen, sondern lediglich fragmentarisch mit der Folge einer mehr oder weniger bewußten Wahrnehmung von Vakuen.96 Dies entspricht den Funktionsmechanismen der modernen bürgerlichen Gesellschaftskonzeption.97

Populistische Politik formuliert ihre Maximen unter der Prämisse moralischer und organisatorischer Erneuerung der Politik und ist zugleich gezwungen, sich den Spielregeln der von ihr abgelehnten Politik zu unterwerfen. Die Forderung nach moralischer Erneuerung von Politik und Gesellschaft wird im Kontext vermeintlich gleicher Interessen einer postulierten Gemeinschaft formuliert. Gemeinschaftsappelle gehen einher mit sozialer Ausgrenzung und Protest gegen die politischen Eliten und ihre Strukturen. Hierbei handelt es sich um die Wesensmerkmale der aus dem populistischen Moment resultierenden Artikulations- und Handlungsmuster, die ich als populistische Politik bezeichne. Sie fungiert als eine Art Puffer zwischen den Segmenten, die sich verändern und denjenigen, die durch diese Veränderung verunsichert und protestbereit sind.


Inhalt
Kap. 1
Kap. 2
Kap. 3
Kap. 4
Kap. 5
Kap. 6
Kap. 7
Kap. 8
Kap. 9
Kap. 10
Literaturverzeichnis