Politikbilder und Habitus : Eine soziologische Untersuchung von Politiklehrer*innen in Deutschland und Israel

Sowohl in Deutschland als auch in Israel zeigen sich teils heftige Auseinandersetzungen um die konkrete Ausgestaltung und den Lehrplan schulischer politischer Bildung. Hinzu kommt, dass in beiden Staaten die Shoah eine erhebliche Bedeutung in der Begründung politischer Bildung zur Stärkung der Demokratie einnimmt. Weniger in den Blick geraten ist bisher, welchen Eigenlogiken dabei das pädagogische Personal politischer Bildung folgt und wie ihre pädagogischen Ziele mit ihrem Blick auf den Gegenstand Politik zusammenhängen. So wurde in der vorliegenden Studie danach gefragt, (1) welche Politikbilder sich unter Politiklehrer*innen in Israel und Deutschland finden lassen und inwiefern sie über den Habitus vermittelt sind und (2) ob die Shoah darin eine prägende Rolle einnimmt bzw. welche Bezüge zum Politikbild hergestellt werden.

Politikbilder wurden hier als kollektive Orientierungen untersucht, die auf die Gesamtheit der auf Politik bezogenen Einstellungen und Haltungen verweisen und über den Habitus vermittelt werden. Empirisch wurde dies mit einem qualitativen Forschungsdesign umgesetzt und zwei erweiterte Gruppendiskussionen („Gruppenwerkstätten“, Bremer 2004) mit Politiklehrer*innen in Nordrhein-Westfalen (Berufskolleg und Gymnasium) sowie zwei Gruppenwerkstätten mit Civics-Lehrer*innen in Israel (jüdisch-säkularer und arabischer Schulsektor) ausgewertet. Theoretisch knüpfte das Vorhaben an Arbeiten zur Milieuspezifik pädagogischen Handelns und pädagogischer Haltungen an (u.a. Lange-Vester 2015), die auf Bourdieus Konzeption des sozialen Raums (1982, 2016 [1985]) und des politischen Felds (2001a) sowie auf die Milieustudien von Vester et al. (2001) zurückgreifen.

In der vergleichenden Untersuchung mit Politiklehrer*innen in Deutschland und Israel konnten insgesamt vier unterschiedliche Politikbildsyndrome freigelegt werden, die mit bestimmten Habituszügen korrespondieren und unterschiedliche pädagogisch-politische Ziele der Lehrer*innen nach sich ziehen:

  1. Selbstsichere und hierarchische Habituszüge stehen in Verbindung mit einem vertrauend-bewahrenden („verteidigenden“) Politikbild und dem Ziel, Schüler*innen an verfasste Politik heranzuführen.
  2. Selbstsichere und egalitäre Habituszüge gehen mit einem vertrauend-veränderungsorientierten („reformerischen“) Politikbild einher, das im Unterricht darauf fokussiert, die politische Partizipation und Emanzipation der Schüler*innen als kritisch-mündige Bürger*innen zu fördern.
  3. Unangepasste und egalitäre sowie deutlich sozialkritische Habituszüge korrespondieren mit einem distanziert-veränderungsorientierten („aufbegehrenden“) Politikbild und zielen auf die politische Selbstbestimmung und Autonomie der Schüler*innen ab, mit der Absicht, politische Verhältnisse zum Besseren zu wenden.
  4. Angepasst anmutende und fatalistische Habituszüge verweisen auf ein distanziert-bewahrendes („resigniertes“) Politikbild, bei dem Lehrer*innen sich u.a. darauf beschränken, den Schüler*innen eine angemessene politische Ausdrucksweise zu vermitteln und dabei möglichst genau die Vorgaben des Curriculums umsetzen.

Die Ergebnisse dieser Studie zeigen auf, dass der milieuspezifische Habitus und der damit verbundene Blick auf das politische Feld recht unterschiedliche Wahrnehmungen von Politik, unterschiedliche Denkweisen und in diesem Zusammenhang auch unterschiedliche (politische bzw. politikbezogene) Handlungen bedingt. Dieses allgemeine Ergebnis lässt sich sowohl in Israel als auch in Deutschland bestätigen. Bezugnehmend auf die Auseinandersetzungen um politische Bildung bestätigt die Studie damit, dass der Blick auf Politik durch Milieu und Habitus geprägt ist.

Im Vergleich der länderspezifischen Ergebnisse fällt auf, dass die Lehrer*innen im israelischen Sample überwiegend in Distanz zum politischen Feld stehen, während die Streuung im deutschen Sample größer ist: hier stehen einige Lehrer*innen ebenso in Distanz, andere aber auch in Nähe zum politischen Feld. Schließlich legen die Ergebnisse nahe, dass die Lehrer*innen in ihren Politikbildern einen habitusspezifischen Umgang mit der Shoah entwickelt haben, welche sie als historische Referenz- und Projektionsfolie ‚verwenden‘ und im Politik- bzw. Civics-Unterricht mit ihren eigenen gegenwartsbezogenen pädagogischen Zielen ‚einsetzen‘. Dies erfolgt in Israel und Deutschland allerdings nach unterschiedlichen Logiken.

In Germany as well as in Israel there are deep disputes about the specific ideology of the school curriculum for civic education. In addition, in both states the Shoah is of considerable importance in justifying a civic education that strengthens democracy. So far, less attention has been paid to the own agendas of the civics teachers and how their educational goals and views of politics are interrelated. Therefore the present study addressed two research questions: (1) Which political views can be found among civics teachers in Israel and Germany and to what extent are they shaped by the habitus?, and (2) Does the Shoah play a formative role in it, or what references to the political views can be established?

Political views were examined as collective orientations that refer to the totality of attitudes related to politics and that are shaped by the habitus. For this study a qualitative research design was developed, composing two extended focus groups (“group workshops”, Bremer 2004) with civics teachers in North Rhine-Westphalia/Germany (one at a vocational school/Berufskolleg and one at a high school/Gymnasium) as well as two focus groups with civics teachers in Israel (Jewish-secular and Arab school sectors). The theoretical basis tied in with German-speaking studies on milieu-specific pedagogical acts and pedagogical attitudes (including Lange-Vester 2015) that are based on Bourdieu's conception of social space (1982, 2016 [1985]) and the political field (2001a) as well as the German study on social milieus by Vester et al. (2001).

In this comparative study with civics teachers in Germany and Israel, a total of four different political views‘ syndromes were uncovered, which correspond to certain habitus and result in different pedagogical and political goals of the teachers:

  1. Self-confident and hierarchical habitus traits are connected with a trustful-preserving ("defending") view of politics and the goal of introducing pupils especially to formal politics.
  2. Self-confident and egalitarian habitus traits go hand in hand with a trustful and change-oriented (“reformist”) view of politics that fosters political participation and political emancipation of the pupils in order to become critical and responsible citizens.
  3. Unadjusted and egalitarian as well as clearly socially critical habitus traits correspond to a distanced change-oriented (“rebellious”) view of politics and aim at the political self-determination and autonomy of the pupils with the intention of turning politics for the better.
  4. Adapted-appearing and fatalistic habitus traits refer to a detached-conserving ("resigned") view of politics, in which teachers limit themselves to teaching an appropriate political expression to the pupils and to implementing the curriculm as accurately as possible.

The results of this study show that the milieu-specific habitus steering the views of the political field, causes quite different perceptions of politics, different ways of thinking about politics, and different (political or politics-related) actions. This general result can be confirmed in both Israel and Germany. Concerning the debates about civic education, the study confirms that the view of politics is shaped by milieu and habitus.

Comparing the country-specific results, it is noticeable that the teachers in Israel (Jewish-Secular as well as Arab) can be positioned predominantly at a distance from the political field, while the dispersion is greater in Germany: here some teachers are also positioned at a distance, but others are also close to the political field. Finally, the results suggest that the teachers have developed a habitus-specific approach to the Shoah in their political views. They 'make use‘ of the Shoah as a historical reference and projection in order to pursue their own contemporary educational goals. In Israel and Germany, however, this takes place according to different logics.

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