Sprachgefühle : wissenschaftliches und alltagsweltliches Sprechen über 'Sprachgefühl' – zur Geschichte, Gegenwart und Vieldeutigkeit eines Begriffs

Ein Wort ist Gegenstand dieser Untersuchung: Sprachgefühl. Nicht nur im Alltagsgespräch, wenn Sprache und ihr Gebrauch zum Thema gemacht werden, wird es verwendet, auch in der Sprachwissenschaft ist es seit deren Bestehen als akademischer Disziplin bekannt. Sein Status als wissenschaftlicher Terminus ist allerdings umstritten: Sprachgefühl gilt als „vernachlässigter Begriff“ (Knobloch 1980, 51), als „ein Begriff [...], oder besser gesagt: [als] ein Ausdruck, ein Terminus [...], der in Linguistik, Sprachpsychologie und -pathologie ebenso unablässig und unbesorgt verwendet wird wie im Alltag, ohne daß indes über seinen Inhalt und Umfang volle Klarheit bestände“ (Kainz 1956, 297). Dieses Schicksal begleitet Sprachgefühl von seinen Anfängen bis heute: Jedes Verständnis verweist auf Vorbedingungen, insbesondere eine jeweilige Auffassung von Sprache, die in einen übergeordneten Zusammenhang – eine wissenschaftliche Theorie, ein zeittypisches Denken etc. – eingebettet ist. Sprachgefühl bezeichnet sowohl in der Wissenschaft als auch im Alltag einen dehnbaren Begriff. Diese Untersuchung will sich daher dem wissenschaftlichen und alltagsweltlichen Sprechen über Sprachgefühl und damit diesen sowie weiteren Fragen widmen: Welchem Bezeichnungsbedürfnis und welchen Voraussetzungen verdanken sich das Wort Sprachgefühl und sein früher Gebrauch? Wie wurde in der Folge und wie wird heute wissenschaftlich über das Sprachgefühl gesprochen? Welches sind die Hintergründe eines jeweiligen Verständnisses? Wie ist Sprachgefühl von verwandten Termini abzugrenzen? Und: Welchen Verständnisweisen von Sprachgefühl begegnet man im alltagsweltlichen Sprechen, dies auch außerhalb solcher Kontexte wie der Sprachberatung? Welches Denken über Sprache gibt sich zu erkennen? Ist eine Berufung auf das Sprachgefühl nicht mehr als ein „Versatzstück normativer Berufung“ (Rath 1985, 142), zielt es „in erster Linie auf das Korrekte“ (Kainz 1956, 367)? Ist Sprachgefühl tatsächlich kein Wort „für Lieschen Müller“ (Gauger/Oesterreicher 1982, 15), sondern „für Dr. Elise Müller“ (15)? Welches sind die Unterschiede wissenschaftlicher und alltagsweltlicher Verständnisweisen, wo liegen Gemeinsamkeiten? Es wird sich vor allem eines zeigen: Sprachgefühl bündelt zahlreiche Vorstellungen über Sprache – nicht nur in der Wissenschaft, deren Gegenstand sie ist, sondern auch im Alltag ihrer Sprecher.

The subject of this study is the word sprachgefühl. It is not only used in everyday conversation, when language and its use are made the subject of discussion, but it has also been a term in linguistics since the establishment of that field as an academic discipline. Its status as an academic term is, however, controversial: sprachgefühl is considered a ‘neglected’ term (cf. Knobloch 1980, 51), a term that is frequently used in linguistics and everyday life without full clarity about its content (cf. Kainz 1956, 297). This fate has accompanied sprachgefühl from its beginnings to the present day: each understanding refers to preconditions, especially to a particular conception of language, which is embedded in a larger context – a scientific theory, typical contemporary thinking, etc. Sprachgefühl is a flexible term both in science and in everyday life.This study will be devoted to the scientific and everyday discourse about sprachgefühl, entailing the following and other questions: What need for designation and what preconditions account for the word sprachgefühl and its early use? How has sprachgefühl since been discussed and how is it scientifically discussed today? What is the background of each particular understanding? How can sprachgefühl be distinguished from related terms? And: Which ways of understanding sprachgefühl are encountered in everyday speech, including contexts outside those of language counselling? What kind of thinking about language reveals itself? Is a reference to sprachgefühl nothing but a reference to standard language norms? Is the German term Sprachgefühl only known to speakers with a certain level of education? What are the differences between scientific and everyday understandings, where are the similarities? One thing above all will become clear: sprachgefühl brings together numerous ideas about language – not only in the science whose object it is, but also in the everyday lives of its speakers.

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