Druckersprachen und gesprochene Varietäten : der Zeugniswert von Bämlers "Melusinen"-Druck (1474) für eine bedeutende Frage der Sprachgeschichte

Der Melusine-Roman des Augsburger Druckers Johann Bämler
von 1474 besitzt für Sprachwissenschaftler einen besonderen Erkenntniswert, weil an ihm zwei Setzer gearbeitet haben, die sich in ihrer Sprache auffällig unterscheiden. Dadurch wird dieser Text zu einem aufschlussreichen Zeugen für die kontrovers diskutierte Frage, welche Rolle dem Buchdruck für die Entstehung einer einheitlichen deutschen Sprache zukommt. Nach der älteren Auffassung ist die Vereinheitlichung der verschiedenen Regionalsprachen vom Buchdruck ausgegangen, nach der neueren haben sich die gesprochenen Prestigesprachen der Regionen im Rahmen der frühneuzeitlichen Modernisierung einander angenähert, wobei der Buchdruck für die Durchsetzung dieser sprachlichen Neuerungen gesorgt hat. Vor diesem Fragehorizont werden die Sprachunterschiede zwischen den beiden Setzern mit dem Verfahren der graphematischen Systemanalyse beschrieben, wobei sich zeigt, dass im vokalischen Bereich 14, im konsonantischen Bereich elf zum Teil auffällige Sprachkontraste bestehen. Daran wird deutlich, dass weder der Druckherr noch die Setzer die Intention verfolgt haben, eine einheitliche Sprachform zu verbreiten. Umgekehrt lässt sich nachweisen, dass die Setzer bei ihrer Bearbeitung der Vorlage lautsprachliche Muster unterschiedlicher Vorbildvarietäten in den Druck hereingetragen haben. Aus den Ergebnissen ergibt sich daher insgesamt, dass der Buchdruck zu dieser Zeit und wohl auch später nicht der Auslöser für die Sprachvereinheitlichung war, dass er aber durch die Verbreitung der zukunftsträchtigen Innovationen gesprochener Varietäten einen entscheidenden Anteil daran hat.

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