Erweiterte Materialmodellierung zur Spritzgießsimulation unter Berücksichtigung zulässiger Schmelzebeanspruchung hochgefüllter Thermoplaste

Das Spritzgießverfahren als das wichtigste (diskontinuierliche) Urformverfahren ermöglicht die Herstellung von komplexen Kunststoffprodukten auch aus hochgefüllten, elektrisch leitfähigen Thermoplasten. Aufgrund des rheologischen, thermodynamischen und mechanischen Verhaltens der gefüllten gegenüber der ungefüllten Schmelze verändert sich jedoch der Werkzeugfüllvorgang und es bildet sich während der Formfüllung keine homogene Schmelzefließfront aus. Inwieweit diese Veränderung, welche auf das Überschreiten maximal zulässiger Beanspruchungen der Schmelze in Folge von zu großen komplexen Scher- und Dehnbeanspruchungen zurückgeführt wird, vom Füllstoffsystem bzw. -anteil, der Formteilgeometrie und den Prozessparametern abhängt, steht im Fokus der Untersuchung. Diese Ergebnisse stellen die praktische Grundlage der erweiterten Materialmodellierung dar, mit der eine Methode zur Unterbindung des Überschreitens zulässiger Schmelzebeanspruchungen an der Schmelzfließfront und damit die Sicherstellung einer gleichmäßigen Formfüllung hochgefüllter Thermoplaste erarbeitet wird. Eine homogene Schmelzefließfront hochgefüllter Thermoplaste ist sowohl die Voraussetzung der für einen Serienprozess notwendigen Prozessfähigkeit beim Spritzgießen als auch für die Gültigkeit von Spritzgießsimulationsergebnissen. Die Basis zu deren Berechnung anhand von Scherströmungen wiederum ist die im Rahmen dieser Arbeit durchgeführte Materialcharakterisierung und deren Überführung in konsistente, prozessnahe Materialmodelle zur Beschreibung der Materialeigenschaften aus makromechanischer Sicht. Die anschließende Auswertung der Simulationsergebnisse führt dazu, dass durch die erweiterte Materialmodellierung über die konsequente Kombination von Experiment und Simulation die Schmelzebeanspruchung nicht nur klassifiziert, sondern auch quantifiziert wird. Die mikroskopische Untersuchung der beiden morphologisch differierenden Grafittypen und des hiermit (und mit Ruß) unterschiedlich stark gefüllten Polypropylens zeigt die Ausgangssituation für die Formfüllversuche mit dem Spritzgießverfahren. Die Formfüllversuche werden mit einer zentral angespritzten Scheibe- und einer über einen Bandanguss angebundenen Rechteckplatten-Kavität durchgeführt. Somit können die sich bei zwei verschiedenen Strömungsfällen (Scherströmung mit überlagerter uniaxialer vs. biaxialer Dehnströmung) ausbildenden Schmelzefließfronten verglichen werden. Die optische Erfassung der Schmelzefließfront im Werkzeug ermöglicht deren Klassifikation als homogen oder inhomogen und liefert damit einen ersten Anhaltspunkt über die Schmelzebeanspruchung. Zudem führen die Variation von Schmelzetemperatur (max. Zylindertemperatur), Einspritzvolumenstrom und Werkzeugtemperatur (isotherm vs. variotherm) zu einer Einschätzung des Einflusses der Prozessparameter auf die Schmelzefließfrontausbildung der Compounds. Es wird deutlich, dass die Klassifikation der Schmelzefließfront sowohl für einen gegebenen Füllstoffanteil bei beiden Werkzeuggeometrien wie auch bei variierenden Prozessparametern identisch bleibt und damit die Schmelzebeanspruchung kaum bis gar nicht über die Prozessführung beeinflusst werden kann. Mit den Ergebnissen zur Dehnbarkeit der gefüllten Schmelzen unter vereinfachten Bedingungen (Rheotens-Versuch) kann dieses Phänomen erklärt werden – die Dehnbarkeit der gefüllten Schmelzen hängt primär vom Füllstoffanteil ab. Die weitere Untersuchung der Compounds im mikroskopischen Bereich mit dem REM-Verfahren zeigt, dass die Morphologie der Grafitpartikel durch den Einfluss auf die Füllstoff-Matrix-Haftung den Volumenanteil der Füllstoffe determiniert, der für den Wechsel von Kohäsions- zu reinem Adhäsionsversagen beim Schmelze(-strangab-)riss verantwortlich ist. So werden die Grenzen beim Spritzgießen durch eine inhomogene Fließfront bei Volumenanteilen von 40 % (natürlicher Grafit) bzw. 50 % (sphärischer Grafit) bestätigt. Die Grenzen liegen nahe derer, die ein Material als hochgefüllt definieren. Diese Ergebnisse zeigen, dass hinsichtlich der Schmelzebeanspruchung besonders die Dehnprozesse relevant sind und daher im Vordergrund der weiteren Untersuchung stehen müssen. Durch die konsequent weiter geführten mikroskopischen Untersuchungen werden auch bei vermeintlich homogenen Fließfronten erste Inhomogenitäten sichtbar. Inwieweit sich diese nach Einwirken des Nachdruckes noch auf bspw. die mechanischen Eigenschaften auswirken, steht nicht im Fokus dieser Arbeit und kann daher in weiterführenden Arbeiten erörtert werden. Bei der Ermittlung der physikalischen, thermodynamischen und rheologischen Eigenschaften zur Formulierung von Materialmodellen für die Spritzgießsimulation wird verstärkt auf die Messbedingungen und Überführungsmöglichkeiten in die Simulationsumgebung eingegangen. Zusätzlich werden die über die Spritzgießsimulation auf Basis der Scherströmung berechneten Dehnprozesse zur Quantifizierung der für eine homogene Schmelzefließfront maximal zulässigen Schmelzebeanspruchung ausgewertet. Die errechneten Dehngeschwindigkeiten an der Fließfront stellen deren Maß dar. Es wird gezeigt, dass die ermittelten maximalen mittleren Dehngeschwindigkeiten unabhängig vom Material und der Temperatur jedoch abhängig vom Einspritzvolumenstrom sind. So werden im untersuchten Variationsbereich des Einspritzvolumenstroms Dehngeschwindigkeiten von ca. 185-250 1/s erreicht. Wie die Versuche und Messungen bestätigen, führen diese prozessspezifischen Dehngeschwindigkeiten bei hochgefüllten Compounds bereits zur Überschreitung der maximal zulässigen Schmelzebeanspruchung. Zur Reduzierung der Schmelzebeanspruchung auf ein ertragbares Niveau und damit der Erzielung einer homogenen Fließfront kommen sowohl Maßnahmen wie die Reduktion der Einspritzvolumenströme und der Füllstoffanteile als auch die Wahl der geeigneten Füllstoffmorphologie in Frage. Restriktionen stellen dabei die Materialeigenschaften an sich, wirtschaftliche Prozesszeiten und -komplexitäten sowie Vorgaben über notwendige Füllstoffanteile dar. Weiter gilt es zu überprüfen, ob darüber hinaus mit der Verfahrensvariante Spritzprägen und dem zusätzlichen Einspritzen in die Werkzeugtrennebene das Schmelzebeanspruchungsniveau so stark herabgesetzt werden kann, dass auch bei hochgefülllten Thermoplast-Compounds lediglich homogene Schmelzefließfronten resultieren. Da bereits aus der Extrusion die Wichtigkeit sehr langsamer und gleichmäßiger Extrusionsgeschwindigkeiten zur Unterbindung von seitlichen Rissen bekannt ist, ist es fraglich, ob dies mit dem Spritzgießen oder dessen Verfahrensvarianten generell möglich ist.
Injection molding as the most important (batch) forming process enables the production of complex polymer products, including highly filled, electrically conductive thermoplastics. Because of the rheological, thermodynamic and mechanical behavior of the melt, the mold filling behavior changes. The flow front is not homogenous anymore. The change of the mold filling behavior is attributed to the exceedance of maximal, permissible melt stresses in consequence of excessive complex shear and strain processes during filling. The focus of the investigation is the question of the extent to which the filler system or filler volume fraction, part geometry and process parameters are relevant in this regard. These results represent the practical basis of the extended material modeling, whereby a method to prevent the exceedance of permissible melt stresses at the melt front is developed, ensuring a uniform mold filling of highly filled thermoplastics. This is both, the prerequisite for the process capability required for a series process in injection molding and for the validity of injection molding simulation results. The basis for the calculation of these based on shear flows is in turn the material characterization and its conversion into consistent, process-oriented material models for the description of the material properties from a macro-mechanical point of view. The subsequent evaluation of the simulation results taking into account extended material modeling with the consistent combination of experiment and simulation allows classifying and quantifying melt stresses. The microscopic examination of two morphologically differing types of graphite and the herewith (and with carbon black) to a different extent filled polypropylene shows the starting point for the mold filling tests using the injection molding process. Mold filling tests are carried out with a central-gated disc and a film-gated rectangular plate cavity. Thus, the melt flow fronts forming in two different flow cases (shear flow with superimposed uniaxial vs. biaxial extensional flow) can be compared. The optical recording of the flow front in the mold allows its classification as homogeneous or inhomogeneous. Thus, a first indication of the melt stress is supplied. In addition, the variation of melt temperature (maximum cylinder temperature), injection flow rate and mold temperature (isothermal vs. variothermal) leads to an assessment of the influence of process parameters on the flow front formation of the compounds. It becomes clear that the classification of the melt flow front for a filler content remains the same for both mold geometries as well as for varying process parameters. Thus, the melt stress can hardly or not be influenced by the process control. This phenomenon can be explained with the results of the drawability of the filled melts under simplified conditions (Rheotens experiment) – the drawability of the filled melts depends primarily on filler content. Further investigation of the microstructure of the compounds with the SEM method shows that the morphology of the graphite particles determines the volume fraction of the fillers due to the influence on the filler-matrix adhesion, which is responsible for the change from cohesion to pure adhesion failure at melt (strand) break. Hence, the limits of an inhomogeneous flow front during injection molding are confirmed at volume fractions of 40 % (natural graphite) and 50 % (spherical graphite) respectively. These limits are close to those that define a material as highly filled. These results show that with regard to melt stress, especially the stretching processes are relevant. Therefore, the focus of the further investigation is on these stretching processes. Due to consistently advanced microscopic examinations, first inhomogeneities become visible even in supposedly homogeneous flow fronts. The extent to which these have an effect e.g. on mechanical properties even after the impression of holding pressure is not the focus of this work and can therefore be discussed in further work. The determination of physical, thermodynamic and rheological properties to formulate material models for injection molding simulation in reference to measurement conditions and transfer possibilities into the simulation environment is examined additionally. Furthermore, strain processes calculated by the injection molding simulation based on the shear flow are used to quantify maximal permissible melt stresses in order to accomplish a homogeneous melt flow front. The calculated strain rates at the flow front represent its measure. It is shown that the determined maximum average strain rates are independent of material and temperature, however, dependent on injection volume flow rate. Thus, in the studied range of injection volume flow rates, strain rates of about 185-250 1/s can be achieved. These process-specific elongation rates already result in the exceedance of the maximum permissible melt stress for highly filled compounds, as confirmed by the tests and measurements. In order to reduce melt stresses to a tolerable level and thus, to achieve a homogeneous flow front, measures such as the reduction of injection volume flow rate and filler volume fraction as well as the choice of suitable filler morphology come into question. Restrictions represent the material properties per se, economic process times and complexities as well as specifications about necessary filler loadings. Furthermore, it is necessary to examine if the melt stress level can be reduced in such an extent that only homogeneous melt flow fronts result even with highly filled thermoplastic compounds processed with the process variant injection compression molding and an additional injection into the mold parting surface. Since the importance of very slow and uniform extrusion rates for preventing lateral cracks is already known from extrusion, it is questionable whether this is generally possible with injection molding or its process variants.

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