Zum Verhältnis von Wissensentwicklung und Begründung in der Mathematik – Beweisen als didaktisches Problem

Das Buch, geschrieben 1978, behandelt die Frage, wie Entwicklung und Begründung mathematischen Wissens zusammenhängen und miteinander interagieren. Wie kann Wissen speziell an Schnittstellen seiner Entwicklung begründet werden? Solche Schnittstellen treten sowohl in der Entwicklung der Wissenschaft, als auch sehr häufig in Lernprozessen auf.

Kapitel I analysiert den Unterschied zwischen der kontemplativen Wissenschaftsauffassung der (griechischen) Antike und der neuzeitlichen dynamischen „operativen“ Wissenschaftsauffassung. Für die Mathematik war das entscheidende Ereignis die Herausbildung der Algebra. Hier wird auf die fundamentale Studie von Jacob Klein (1936) rekurriert. Im zweiten Abschnitt wird dann diskutiert, welche neuartigen Begründungsprobleme in der Mathematik des 19. Jahrhunderts auftreten. In seiner „Ausdehnungslehre“ von 1844 hat Hermann Graßmann auf sie in origineller Weise reagiert, indem er jedes Kapitel in zwei Teile „A. Theoretische Entwickelung“ und „B. Anwendung“ zerlegt hat.

Kapitel II diskutiert die 1971 von J. D. Sneed publizierte Konzeption der logischen Struktur von Theorien der mathematischen Physik. Der von ihm entwickelte logische Formalismus löst das „Problem der theoretischen Terme“. Es ist eine vieldiskutierte Frage, ob die zweite Newtonsche Grundgleichung

„Kraft = Masse x Beschleunigung“

ein Naturgesetz oder eine Definition ist. Die Antwort ist ein „weder noch“. Während Beschleunigungen direkt bestimmt werden können, steht keine Möglichkeit zur Verfügung, Kraft und Masse unabhängig von der Gültigkeit der Newtonschen Mechanik zu messen. Aber müsste die Gültigkeit der Newtonschen Mechanik nicht zuerst durch Messungen bewiesen werden? Das sieht nach einem Zirkelschluss aus. In der Wissenschaftstheorie spricht man von der Theorienbeladenheit der Beobachtungssprache. Sneeds Formalismus löst dieses Problem, indem er empirische Theorien (und damit auch die mathematische Physik) nicht als ein System von Aussagen betrachtet, sondern als ein Paar (K, I), bei dem K eine Menge von vorausgesetzten Formeln, den sogenannten „Strukturkern“, bezeichnet und I eine prinzipiell in die Zukunft offene „Menge intendierter Anwendungen“ bedeutet. Unter den Variablen, die in den Formeln des Strukturkerns auftreten, gibt es einerseits „nicht-theoretische Terme“, deren Messung vorab in einer anderen Theorie definiert ist, und „theoretische Terme“, deren Messung nur unter Voraussetzung der Gültigkeit der fraglichen Theorie möglich ist. Daher spricht das vorliegende Buch von einer „Begründung von der Zukunft her“. Wissen wird nicht auf vorheriges Wissen zurückgeführt, sondern auf eine Theorie, die sich erst noch bewähren muss.

Sneed’s Konzeption bezieht sich auf empirische Theorien, an eine Anwendung auf die Mathematik hat er nicht gedacht. Das aber wird im vorliegenden Buch in Kapitel III versucht.

Kapitel III thematisiert das Auftreten scheinbar zirkelhafter Definitionen in der Mathematik. Dabei handelt es sich 1. um die sogenannten „imprädikativen Definitionen“, 2. um Hilberts Auffassung von Axiomen als implizite Definitionen der in ihnen vorkommenden Begriffe und 3. um W. V. O. Quine’s Diskussion des mathematischen Variablenbegriffs. Es wird gezeigt, dass alle drei Fragenkomplexe nur dann befriedigend behandelt werden können, wenn man Theorien nicht nur als Systeme von Aussagen betrachtet, sondern auch den Anwendungsbezug, die Außenperspektive, einbezieht. Zudem besteht eine weitgehende Analogie zwischen den theoretischen Termen in empirischen Theorien und der Hilbertschen Auffassung von Axiomen als impliziten Definitionen der in ihnen vorkommenden Begriffe.

Das IV. Kapitel enthält Schlussfolgerungen für die didaktische Diskussion des "Beweisens". Anhand von Beispielen wird die zentrale Rolle eines variablen Gegenstandsbezugs beim Beweisen Probleme gezeigt.

Written in 1978 the book treats the question of how development and justification of mathematical knowledge are related and interact. How can knowledge be justified at interfaces and cuts of its development? Such interfaces occur in mathematical research as well as very frequently in learning processes.

Chapter I analyzes the difference between the (Greek) ancient contemplative view of science and the modern dynamical ‘operative’ view. In mathematics, the decisive event was the origin and evolution of algebra. The argumentation is mainly based on a seminal study of Jacob Klein (1936). In a second section the chapter discusses which new problems of justification of mathematical knowledge occurred in the 19th century. In his “Ausdehnungslehre” (1844) Hermann Graßmann has reacted to these problems in an especially original way by dissecting every chapter in the two parts “A. Theoretical development” and “B. Application”.

Chapter II discusses J. D. Sneed’s conception of the logical structure of theories of mathematical physics, published in 1971. It is a frequently treated question whether Newton’s second law

“force = mass x acceleration”

is a law of nature or a definition. The answer is “neither-nor”. Whereas acceleration can be directly measured there exists no possibility of measuring force and mass which does not presuppose the validity of Newtonian mechanics. But is it then not necessary to prove in advance this validity by measurements?. This looks like a vicious circle. In philosophy of science this is called the ‘theory - ladeness of observations’. Sneed’s formalism solves this problem by considering mathematized empirical theories (and thus also theories of mathematical physics) not as a system of statements but as a pair (K, I) where K designates a set of presupposed formulae, the so-called ‘structural core’ and I a ‘set of intended applications’ which is in principle open to future. Among the variables which occur in the structural core there are ‘non-theoretical terms’ whose measurement is defined in another theory and ‘theoretical terms’ which can only be measured by presupposing the validity of the theory under discussion. Therefore, the present book speaks of a ‘justification from the future’. Knowledge is not reduced to former knowledge but to a theory whose validity has to be proved successful.

Sneed’s conception refers to empirical theories he did not intend to apply it to mathematics. But this is done in the present book.

Chapter III analyzes the occurrence of apparently circular definitions in mathematics. These involve 1. the so-called ‘impredicative definitions’, 2. Hilbert’s view of axioms as implicit definitions of the concepts comprised by them, and 3. W. V. O. Quine’s discussion of the concept of mathematical variables. It is shown that all three sets of questions can only be dealt with satisfactorily if theories are not only viewed as systems of statements, but also include the reference to application, that is the external perspective. In addition, there is an extensive analogy between the theoretical terms in empirical theories and Hilbert's conception of axioms as implicit definitions of the terms occurring in them.

Chapter IV contains conclusions for the didactic discussion of "proof". Examples are used to show the central role of a variable reference to applications in problems of proof.

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