Das Teilsystem der aus-Verben in Lernerwörterbüchern für "Deutsch als Fremdsprache" : Mit Vorschlägen für ein pädagogische Lexikographie
Bei der inhaltlichen Zusammenfassung möchte ich solche Themen hervorheben, bei denen ein Systemlernen zu empfehlen ist. ▪ Bei der Aussprache unterscheidet die Phonetik drei Realisierungen: die Standardlautung, die Umgangslautung, die Überlautung. Je nach Sprach- und Sprechsituation lernt der Muttersprachler alle Aussprachevarietäten (P. Eisenberg) kennen. Das kann auch beim Fremdsprachler, der in Deutschland lebt, so sein. Deutschlerner in fremden Ländern hören, lesen, sprechen die Standardlautung, doch auch die Überlautung; sie ist jedenfalls häufiger als bei vielen Muttersprachlern. Bei den aus-Verben kann man von Lernerleichterungen und Lernschwierigkeiten sprechen. • Lernerleichterung: Alle aus-Verben haben den gleichen Wortakzent, alle gehören zu den trennbaren Verben. Es gibt also zwei wichtige Regelmäßigkeiten. • Lernschwierigkeit: Da das Präfi x ‚aus-’ betont wird, haben die Basisverben nur einen Nebenakzent und werden oft nicht so deutlich gesprochen. Auch die Infinitivendung -en [ən] oder [n]ist nur schwach artikuliert; im Unterricht ‚Deutsch als Fremdsprache’ arbeiten Lehrer oft mit der Überlautung [εn] und mit Nebenbetonungen, dadurch sind die Wörter besser zu verstehen. Die Lernerwörterbücher kennen diese praktischen Unterscheidungen nicht. ▪ Mit den Themen ‚Bedeutungsbeschreibung’ und ‚Wortbildungsbedeutung’ habe ich mich besonders beschäftigt (vgl. Kap. 3.2 und 3.4). Wichtig ist die Beobachtung, dass die Lernerwörterbücher bei vielen aus-Verben mit mehrfachen Beschreibungen arbeiten: Umschreibung, Kollokation, Synonym, Antonym, Satzbeispiel und Komposita. Einfache Bedeutungsbeschreibungen kommen selten vor. Am häufi gsten werden die Umschreibungen gebracht, seltener sind die Satzbeispiele. Auch zu den Anordnungen der Einzelbedeutungen läßt sich etwas sagen: die Reihenfolge ‚konkret’ vor ‚abstrakt’ kommt am häufigsten vor. ▪ Schwer zu beurteilen ist das Problem der Polysemie. In den beiden Großwörterbüchern gibt es viele aus-Verben mit vier, fünf, sechs, sieben und mehr Einzelbedeutungen. Im Langenscheidts Großwörterbuch ist die semantische Differenzierung, von Kritikern auch
‚Aufsplitterung’ genannt, am stärksten. Im PONS Basiswörterbuch haben die aus-Verben meist nur eine oder zwei Bedeutungen, eine starke Reduktion, ein anderes Extrem. Die starke Polysemie kann den Nachschlagevorgang verlangsamen und erschweren. Viele Artikel werden umfangreicher, zu umfangreich. Dazu sagt H. E. Wiegand (2000, 1150):
„Je mehr Einzelbedeutungen (Sememe) eines Lemmazeichens angesetzt werden, um so mehr Subkommentare müssen formuliert werden; und um so länger und unübersichtlicher werden die Artikel.“ Einige Kritiker empfehlen eine stärkere Homonymisierung (Wolski), meinen sogar, dass die homonymische Aufgliederung günstiger für den Lernprozess sei. Zur ganzen Diskussion über die Polysemie möchte ich eine Beobachtung hinzufügen: Langenscheidts Großwörterbuch verbindet die Gliederung nach Einzelbedeutungen mit der Gliederung nach syntaktischen Strukturformeln. Man weiß nicht immer, was zuerst war: die Einzelbedeutungen oder die Strukturformeln. ▪ Die Vernetzung der Wortbildungskonstruktionen zu Wortbildungsbedeutungen ist in der Wortbildungslehre ein wichtiges Thema (Wellmann, Fleischer/Barz). In den Lernerwörterbüchern fi ndet man diese semantische Vernetzung nur bei der Beschreibung der Präfixe (vgl. Kap. 1.5: ‚Das Wort ‚aus’ in der deutschen Sprache’). Bei den aus-Verben bilden die Richtungsverben (‚Richtung nach außen’) und die Perfektiva die größten Gruppen;
kleinere Gruppen bilden die Ornativa (‚auszementieren’), Faktitiva (‚ausbessern’) u.a. Nicht übersehen darf man, dass viele Wörter sich nicht zuordnen lassen. Die Wörterbücher arbeiten mit Umschreibungen, z.B. ‚auslesen’: ‚zu Ende lesen’ usw. Bei vielen Ableitungen sind die Wortkombinationen verblasst: ‚ausmustern’; bei Substantivzusammensetzungen gibt es mehr motivierte Bildungen: ‚Zahnarzt’, ‚Schularzt’, ‚Hörbuch’ u.v.a. Trotzdem bieten Wortbildungsbedeutungen die Möglichkeit, Einzelwörter als Systemwörter zu verstehen. ▪ Die letzten Anmerkungen führen zur Frage der ‚Durchsichtigkeit’ bzw. der ‚Undurchsichtigkeit’ von Ableitungen und Zusammensetzungen, anders ausgedrückt: zur Frage, ob und wann Wörter motiviert, teilmotiviert oder unmotiviert sind. Im Kapitel 3.4 habe
ich diese Frage diskutiert, Beispiele gegeben. Bei ausländischen Deutschlernern liegt die Motivationsschwelle anders, höher als bei Muttersprachlern. Sogar falsche Motivierungen sind möglich, z.B. ‚ausleben’ als ein Wort für ‚sterben’ zu verstehen. ▪ Die Herausgeber beider Großwörterbücher arbeiten mit den Beschreibungsbegriffen
Synonym und Antonym; was wichtig ist, sie kennzeichnen sie: bei de Gruyter mit den Abkürzungen SYN und ANT, bei Langenscheidt mit den Symbolen ≈ und ↔. Die kleinen Symbole sind schwerer zu fi nden, doch sie liegen auf einer anderen Darstellungsebene. Die beiden Taschenwörterbücher arbeiten auch mit den Kennzeichnungen ≈ und ↔. Vielleicht ist die Merkfähigkeit größer. Alle Kritiker loben die Kennzeichnungen der Synonyme und Antonyme, vielleicht auch deshalb, weil die meisten muttersprachlichen Wörterbücher sie nicht besonders kennzeichnen. Noch etwas anderes: Antonyme und Synonyme verbinden
Einzelwörter semantisch mit vielen anderen Wörtern und geben Hilfen bei allen Sprachaktivitäten, nicht nur beim Sprechen und Schreiben, auch beim Hörverstehen und Leseverstehen. ▪ Von den Kritikern gelobt wird auch die Kennzeichnung der Kollokationen bei Langenscheidt:
<einen Wunsch, sein Bedauern aussprechen>. Auch die Wichtigkeit für ‚Deutsch als Fremdsprache’ wird hervorgehoben. Wer Kollokationen kennt, weiß mehr über den syntagmatischen Gebrauch von Wörtern. Doch viele Kollokationen müssen mit den Einzelbedeutungen gelernt werden: <für oder gegen jdn. aussagen>. Auch hier ist zu bedauern, dass muttersprachliche Wörterbücher diese festen Verbindungen nicht kennzeichnen. ▪ Wahrscheinlich gehören die besonderen Kennzeichnungen für Synonyme, Antonyme, für Kollokationen zu den Fortschritten der ‚pädagogischen Lexikographie’. Dazu gehören auch die Kennzeichnungen für Wortfamilien und Wortfelder im Wörterbuch von de Gruyter. Im Anhang (S. 1291-1308) sind etwa 80 Wortfelder zusammengestellt worden,
leider nur als Wortsammlungen, nicht in ihren Strukturen. Einige ‚Infofenster’ innerhalb der Wörterlisten könnten die Funktionen von Wortfeldern verdeutlichen. Im Kapitel 5.1 habe ich ein Wortfeld (‚Präfi xverben der Bewegung’) entworfen und mit wichtigen Beispielen
versehen. Die Hinweise auf Wortfamilien sind noch zahlreicher: bei 142 von 148 aus-Verben, also fast bei allen: ‚auslachen’ zu ‚lachen’, ‚auslasten’ zu ‚Last’, ‚ausreichen’ zu ‚reich’ usw. Auch eine Ausweitung, eine Bereicherung über das Einzelwort hinaus! Müller/Augst
bemerken (Wiegand 2, 248), dass die „Durchsichtigkeitsschwelle für Nichtmuttersprachler tiefer angesetzt“ werden müsse; es gebe bei de Gruyter also zu viele Verweise auf Wortfamilien. An gleicher Stelle sich sprechen die Autoren für „größere lexikographische Anstrengungen“
aus, für einzelne „Semantisierungshilfen“ und (S. 254) für eine Konzentration auf „wortbildungsaktive Kernwörter“. Ich habe eine Anregung von I. Barz aufgegriffen und im Kapitel 5.2 das Präfi x ‚aus-’ und andere Präfi xe als Kernwörter von Wortfamilien genutzt.
Kapitel 6 ▪ Zu den auffälligsten Besonderheiten in Langenscheidts Großwörterbuch gehört die Arbeit mit syntaktischen Strukturformeln. Zusammenfassend kann man sagen: Bei allen aus-Verben wird (fettgedruckt) dargestellt, mit welchen obligatorischen und fakultativen Ergänzungen Sätze gebildet werden können. Ein Beispiel für „Grammatik im Wörterbuch“, wie Bergenholtz sie seit langem gefordert hat. ▪ Verhältnismäßig neu ist die Diskussion über die Angebote der ‚kulturellen Orientierung’ in Lernerwörterbüchern. Die Untersuchungen von U. Haß und P. Kühn habe ich fortgesetzt und auf Arbeitsbücher für DaF bezogen. Die Ergebnisse sind nicht besser als die bei den genannten Autoren. Wenn subtil, subversiv, superb, Surrogat lemmatisiert werden, Stichwörter wie super, Supermarkt, Telefonzelle, Handy, Internet u.a. nicht angeboten werden (so im Wörterbuch von de Gruyter), dann stimmt etwas nicht. ▪ Ähnliche Beobachtungen habe ich in Bezug auf die Lemmaauswahl in den Lernerwörterbüchern gemacht. In den Sammelbänden (Wiegand 1 und 2) werden die Fragen (zu) allgemein behandelt, meist zu den Themen der Produktions und der Rezeptionssprache. „Etwa 17 000 bis 20 000 Stichwörter“ heißt es im Vorwort bei de Gruyter („66 000 Stichwörter“
bei Langenscheidt). Auch hier ist bei de Gruyter die Auswahl problematisch, wenn im Jahre 2000 Wörter wie Autowerkstatt, Reinigung, Tennisplatz, E-Mail, Nachkriegszeit u.v.a. fehlen (vgl. Kap. 4.5).
Zwischen ‚aushandeln’ und ‚auskosten’ bringt das Langenscheidt Großwörterbuch auf einer Seite 26 aus-Verben, darunter für Fremdsprachler so schwierige wie ‚ausharren’, ‚aushecken’ (planen), ‚ausklinken’, ‚ausklügeln’ (ausdenken), ‚ausknobeln’ (ein Problem
lösen). Das Wörterbuch von de Gruyter nennt auf dieser Strecke nur 16 aus-Verben. An anderen Stellen wurde schon von Lücken in diesem Großwörterbuch gesprochen; hier fehlen ‚ausheilen’, ‚aushöhlen’, ‚aushungern’, ‚ausklammern’ u.a., auch wichtige Vernetzungen wie ‚Aushändigung’, ‚Aushebung’, ‚Ausklammerung’. Kurz gesagt, in diesem Wörterbuch fehlen viele Wörter, auf die der Fremdsprachler nicht verzichten kann; bei jenem sind viele aufgeführt, die er nicht gebrauchen kann. Für schlimmer halte ich die Lücken in dem Großwörterbuch von 1329 Seiten. ▪ Da das Lernerwörterbuch des Verlags de Gruyter ‚nur’ 20 000 Stichwörter enthält (dies auf 1329 Seiten), kann es mehr für die Lexikographie einzelner Wörter tun. Auch wenn ‚Handy’ fehlt, auf fast zwei Seiten wird vieles zum Wortschatz, zur Wortfamilie, zum Wortgebrauch des Lexems ‚Hand’ gesagt. Mit den Beschreibungsbegriffen zu ‚Wortfeld’ und ‚Wortfamilie’, zu ‚Metapher’ macht es Fortschritte im Aufgabenbereich der Lexikographie. ‚Kollokationen’ und ‚Satzstrukturen’ werden allerdings nicht besonders gekennzeichnet. ▪ Beide Großwörterbücher verstehen und beschreiben Wörter in ihren Teilsystemen des deutschen Wortschatzes, d.h. sie sagen viel zu den syntagmatischen und paradigmatischen Beziehungen der Wörter, so dass man viele Einzelwörter als Systemwörter erkennen kann.
Das geschieht in muttersprachlichen Wörterbüchern kaum, d.h. dort werden Systemzusam-menhänge wie Synonym, Antonym, Feld, Familie u.a. nicht besonders gekennzeichnet, sie isolieren die Einzelwörter. Hier sehe ich einen Fortschritt bei den Lernerwörterbüchern. ▪ Manche Systembeschreibungen ermöglichen ein Systemlernen mit Hilfe des Wörterbuchs. Im Kap. 5 habe ich einige praktische Vorschläge gemacht, wie Systemlernen möglich ist, z.B. zu den Aufgabenbereich Wortfeld, Wortfamilie, Vernetzung, Zeitungslesen. ▪ In einigen Kapiteln habe ich versucht, andere Präfi xverben (‚an-’, ‚auf-’, ‚durch-’) mit Formen und Inhalten der aus-Verben zu vergleichen. Manches, was zum Teilsystem der aus-Verben gesagt wird, ist auf andere Teilsysteme übertragbar. (vgl. Kap. 1.3, 5.1, 5.2). Wenn man die Zahlen der häufi gsten Präfi xverben (ab-, an-, auf-, aus- u.a.) addiert, so ergibt
sich eine beachtliche Summe von über 2000 Verben. ▪ Immer wichtiger wurden für mich als Auslandsgermanistin die 49(!) Beiträge zur
Lexikographie, die H. E. Wiegand 1998 und 2002 in 2 umfangreichen Sammelbänden (zus. 1094 Seiten) herausgegeben hat. Alle diese Beiträge beschreiben und diskutieren ‚Perspektiven der pädagogische Lexikographie’ in Bezug auf die beiden Großwörterbücher. Manche dieser Beiträge haben meine Untersuchungen angeregt. Vor allem konnte ich die Ergebnisse meiner Arbeit mit anderen Forschungsergebnissen vergleichen, den Erkenntnisfortschritt vergleichen und richtig einschätzen. ▪ Bei der Bearbeitung der Hauptthemen stieß ich auch auf viele Nebenthemen; hier einige Beispiele: das Vorkommen der aus-Verben in historischen Wörterbüchern – die Grammatikalisierung in verwandten Sprachen – das Vorkommen in Wortkonkordanzen – nationale und regionale Besonderheiten – Beobachtungen zur Fremdwortfrage – aus-Verben in Taschenwörterbüchern u.a. Vor allem konnte ich in vielen Kapiteln etwas zur Verbesserung der pädagogischen Lexikographie sagen. Wie das Vorwort sagt, konnte ich mir beim Beginn der Beschäftigung mit einer Wortbildungskonstruktion nicht vorstellen, dass es so viele Aspekte der Analyse und so vielfältige Ergebnisse gibt.