Arbeitslosigkeit Älterer in Europa : individuelle, kontextuelle und konzeptuelle Einflussfaktoren im Ländervergleich

Die gesellschaftliche Alterung stellt Europa vor zunehmende wirtschaftliche, wohlfahrtsstaatliche und soziale Herausforderungen. Angesichts eines rückläufigen Anteils an Personen im erwerbsfähigen Alter wird der verstärkten Erwerbsintegration Älterer eine große Bedeutung beigemessen, um die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit, die individuelle Existenzsicherung und die Nachhaltigkeit der sozialen Sicherungssysteme langfristig gewährleisten zu können. Das vorhandene Erwerbspotenzial Älterer wird bislang jedoch nicht voll ausgeschöpft: Während es gut gelingt, ältere Beschäftigte länger am Arbeitsmarkt zu halten, gelingt es weniger gut, ältere Arbeitslose (wieder) dauerhaft in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Dies wird auf ein doppeltes Integrationsproblem älterer Arbeitsloser zurückgeführt: das Problem der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt und das Problem einer nicht dauerhaften Integration in den Arbeitsmarkt, d. h. das Problem des vorzeitigen Ausscheidens aus dem Arbeitsmarkt.

Bislang haben sich jedoch nur wenige Untersuchungen mit diesem doppelten Integrationsproblem befasst. Es gibt nur wenige theoretische und empirische Forschungsarbeiten, die sich speziell auf ältere Arbeitslose konzentrieren - und noch weniger Forschungsarbeiten, in denen ältere Arbeitslose als heterogene Gruppe verstanden werden. Dies gilt insbesondere für eine länderübergreifende Perspektive. Darüber hinaus wurde kaum evaluiert, welchen Einfluss das zugrundeliegende Arbeitslosigkeitskonzept auf die Ergebnisinterpretation und die Ableitung von Politikempfehlungen nimmt.

Ziel dieser Dissertation ist es daher, die spezifische Situation älterer Arbeitsloser genauer in den Blick zu nehmen, indem individuelle, kontextuelle und konzeptuelle Einflussfaktoren auf Altersarbeitslosigkeit theoretisch modelliert und ländervergleichend analysiert werden. Die vier zentralen Forschungsfragen dieser Arbeit lauten:

  1. Wie können Arbeitslosigkeit(sübergänge) Älterer theoretisch modelliert werden?
  2. Welchen Einfluss haben kontextuelle Einflussfaktoren auf die (Langzeit-) Arbeitslosigkeit Älterer?
  3. Was beeinflusst Arbeitslosigkeitsübergänge Älterer?
  4. Welchen ILO-Erwerbsstatus haben selbstdefiniert Arbeitslose?

Nach einer ausführlichen Darstellung von zentralen Arbeitslosigkeitskonzepten sowie verschiedenen Theorien zu makrostrukturellen Ursachen und individuellen Determinanten von Arbeitslosigkeit wird der Forschungsstand zu individuellen, kontextuellen und konzeptuellen Einflussfaktoren dargelegt.

Bezugnehmend auf die erste Forschungsfrage wird zunächst ein theoretischer Rahmen für die Analyse von Arbeitslosigkeit(sübergängen) Älterer entwickelt: das IKK-Modell. IKK steht dabei für individuell, kontextuell und konzeptuell, da grundlegend angenommen wird, dass Arbeitslosigkeit bzw. Forschungsergebnisse zu Altersarbeitslosigkeit durch das Zusammenspiel individueller, kontextueller und konzeptueller Einflussgrößen bedingt sind. Im Rahmen des IKK-Modell werden zwei Einflussebenen auf die Arbeitslosigkeit(sübergänge) Älterer identifiziert: die inhaltlich-empirische Ebene, die Zusammenhänge auf der Realebene in Form von Return-, Remain- und Retire-Faktoren (R-Faktoren) fokussiert, und die forschungsmethodisch-konzeptuelle Ebene der doppelten Kontextabhängigkeit der wissenschaftlichen Betrachtung dieser Zusammenhänge auf der Metaebene.

Für die Beantwortung der zweiten Forschungsfrage wird mithilfe einer fuzzy-set Qualitative Comparative Analysis für 10 europäische Ländern zu drei verschiedenen Zeitpunkten (2005, 2010 und 2015) erforscht, inwiefern das Ausmaß von Arbeitslosigkeit und Langzeitarbeitslosigkeit Älterer durch kontextuelle R-Faktoren beeinflusst wird. Die Ergebnisse zeigen, dass Arbeitslosigkeit und vor allem Langzeitarbeitslosigkeit Älterer nicht durch einzelne kontextuelle Faktoren bedingt werden, sondern dass verschiedene Konstellationen von Kontextfaktoren mit hoher bzw. niedriger (Langzeit-)Arbeitslosigkeit in Verbindung stehen.

Im Rahmen der dritten Forschungsfrage werden mit Daten des European Labour Force Survey (2006-2015) für 23 Länder kontextübergreifende und kontextspezifische Return-, Remain- und Retire-Faktoren für ältere Arbeitslose herausgearbeitet. Untersucht wird, welche individuellen und kontextuellen Faktoren begünstigen, dass eine vorjahresarbeitslose Person ein Jahr später wieder eine Beschäftigung aufgenommen hat, weiterhin arbeitslos ist oder den Arbeitsmarkt verlassen hat. Aus den Resultaten können sowohl ländergruppenübergreifende als auch ländergruppenspezifische Return-, Remain- und Retire-Faktoren abgeleitet werden.

Inwiefern die zugrundeliegende Arbeitslosigkeitsdefinition auf die Einschätzung der Prävalenz von Altersarbeitslosigkeit einwirkt, wird im Zusammenhang mit der vierten Forschungsfrage analysiert. Anhand von Daten des European Labour Force Survey (2006-2015) für 29 Länder wird exploriert, ob Personen, die sich selbst als arbeitslos definieren, auch gemäß der Klassifikation der International Labour Organization arbeitslos sind oder ob sie dort als inaktiv gelten. Die Ergebnisse zeigen, dass sich beide Arbeitslosigkeitskonzepte bei der Erfassung von Altersarbeitslosigkeit signifikant voneinander unterscheiden, wobei das Ausmaß dieser Unterschiede merkmals- und länderspezifisch deutlich variiert.

Insgesamt verdeutlichen die Ergebnisse dieser Dissertation, dass Altersarbeitslosigkeit ein komplexes soziales Phänomen ist, das durch mehrfache Heterogenität und einen Mehrebenencharakter gekennzeichnet ist. Bei den „älteren Arbeitslosen“ handelt es sich weniger um eine homogene als vielmehr um eine heterogene Gruppe, deren Zusammensetzung, Präferenz-, Anreiz- und Möglichkeitsstrukturen je nach räumlich-zeitlichen Kontext variieren. Vergleichbare Präferenz-, Anreiz- und Möglichkeitsstrukturen führen jedoch nicht zwangsläufig auch zu ähnlichen Arbeitslosenzahlen bzw. Arbeitslosigkeitsübergängen, weswegen Äquifinalität bei der Erforschung von Arbeitslosigkeit(sübergängen) Älterer intensiver in den Blick genommen werden sollte. Darüber hinaus muss stärker berücksichtigt werden, dass dem herangezogenen Arbeitslosigkeitskonzept und dem räumlich-zeitlichen Kontext, in dem das Konzept verwendet wird, eine zentrale Bedeutung bei der Erforschung von Altersarbeitslosigkeit zukommt. Diesen zentralen Erkenntnissen folgend, schließt die Arbeit mit einem Plädoyer für die integrative Betrachtung von individuellen, kontextuellen und konzeptuellen Einflussfaktoren bei der Erforschung von Arbeitslosigkeit(sübergängen) Älterer.

There is widespread agreement in politics and science that the increased labour market integration of persons aged 50+ is extremely important for individual and societal wellbeing as well as for covering the current and future costs of social security systems. However, the existing labour force potential of older workers has not been fully exploited so far as many face unemployment at the end of their working lives. This is attributed to a twofold integration problem: the problem of re-integration back into employment and the problem of a non-permanent integration into the labour market, i.e. the problem of early labour market withdrawal.

So far there is little theoretical and empirical research that focuses specifically on the older unemployed - and even less research that understands the older unemployed as a heterogeneous group. This is especially true for a cross-national perspective. Moreover, there has been little evaluation regarding the influence of the underlying unemployment concept on the interpretation of results and the derivation of policy recommendations.

Due to these theoretical and empirical research gaps, this dissertation aims to explore individual, contextual and conceptual factors influencing old-age unemployment and to analyse them in a cross-national comparison. The four central research questions of this dissertation are:

  1. How can unemployment (transitions) of older people be theoretically modelled?
  2. How do contextual factors impact (long-term) unemployment of older workers?
  3. Which factors influence unemployment transitions of older workers?
  4. What is the ILO-employment status of self-defined unemployed?

After a detailed presentation of central unemployment concepts as well as various theories on structural causes and individual determinants of unemployment, the state of research on individual, contextual and conceptual unemployment determinants is elucidated.

Based on these explanations and with reference to the first research question, a theoretical framework for the analysis of unemployment (transitions) of older workers is developed: the IKK model. IKK is an acronym for “individuell”, “kontextuell” and “konzeptuell”, since it is fundamentally assumed that unemployment and research findings on old-age unemployment are conditioned by the interplay of individual, contextual and conceptual factors. Within the framework of the IKK model, two levels of influence are identified: the substantive-empirical level, which focuses on interrelationships at the “real world” in the form of return, remain and retire factors (R factors), and the research-methodological level, which considers the twofold context-dependence of the scientific observation of these interrelationships at the meta-level.

To address the second research question, a fuzzy-set Qualitative Comparative Analysis for 10 European countries at three different points in time (2005, 2010 and 2015) is conducted to explore, how the extent of unemployment and long-term unemployment among older workers is influenced by contextual R factors and their interaction. The results show that unemployment and especially long-term unemployment are associated with different combinations of contextual factors.

With regard to the third research question, data from the European Labour Force Survey (2006-2015) is used to identify cross-contextual and context-specific return, remain and retire factors for older unemployed in 23 European countries. It is examined which individual and contextual factors influence whether a person who was unemployed in the previous year returns to work, remains unemployed or leaves the labour market one year later. The results reveal both cross-country and country-specific R factors.

The extent to which the underlying unemployment definition affects the prevalence of old-age unemployment is analysed in the context of the fourth research question. European Labour Force Survey data (2006-2015) for 29 countries is used to investigate whether people who define themselves as unemployed are also unemployed according to the classification of the International Labour Organization or whether they are considered inactive. The results show that both unemployment concepts differ significantly from each other in capturing age unemployment – with the magnitude of these differences varying by individual characteristics and particularly strongly in cross-country comparison.

Overall, the results of this dissertation illustrate that old-age unemployment is a complex social phenomenon characterized by multiple heterogeneities and a multi-level character. There is no homogeneous group of "older unemployed"; rather, the group of older unemployed is heterogeneously composed. The group composition and the respective preference, incentive and opportunity structures of the older unemployed are highly context-specific. Also, comparable preference, incentive and opportunity structures do not necessarily lead to similar unemployment rates or unemployment transitions and vice versa. Equifinality thus plays a prominent role in research on unemployment (transitions) of older workers. Furthermore, the dissertation emphasizes that the unemployment concept used and also the spatio-temporal context in which the concept is used are of central importance in the scientific investigation of unemployment among the elderly. The thesis therefore concludes with a plea for the integrative consideration of individual, contextual and conceptual factors in the study of unemployment (transitions) of older workers.

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