Den Baum des Lebens verstehen : Modellierung der Fähigkeiten im Umgang mit evolutionären Stammbäumen

Phylogenetische Stammbäume, die diagrammatische Darstellung evolutionärer Verwandtschaft, sind eine biologiespezifische Darstellungsform die in Lehre, Wissenschaftskommunikation und Forschung eine kaum zu unterschätzende Rolle spielen. Verschiedene Studien konnten allerdings zeigen, dass Lernende aller Bildungsebenen große Schwierigkeiten zeigen, Stammbäume korrekt zu lesen und zu interpretieren. Insbesondere sind eine große Anzahl an typischen Fehlern und Lernendenvorstellungen bekannt, eine große Rolle spielen hier Vorstellungen, die auf teleologischen Vorstellungen beruhen (siehe Veröffentlichung 1).

            In der Vergangenheit gab es verschiedene Ansätze, das Konstrukt des Stammbaumlesens zu systematisieren, dabei wurden auf Grundlage theoretischer Überlegungen und persönlicher Erfahrung verschiedene Fähigkeitsmodellierungen erstellt. Diese Modellierungen wurden nur selten empirisch untersucht und beziehen sich in ihrer Genese nicht aufeinander. Daher wurde basierend auf diesen bestehenden Arbeiten das Synthetic Tree-Reading Model, kurz STREAM entwickelt (siehe Veröffentlichung 2). Dieses Modell besteht aus sechs Fähigkeitsstufen, die in einem hierarchischen System angeordnet sind. Es soll die Fähigkeiten von Novizen bis Experten abbilden können. Praktisch kann das Modell dazu genutzt werden, die Fähigkeiten von Lernenden zu diagnostizieren, sowie Interventionen oder Forschungsprojekte zu entwickeln, die alle Teilbereiche des Stammbaumlesens abbilden.

            Als Grundlage für die Erstellung eines Erhebungsinstruments für diese Fähigkeitsstufen wurde eine Analyse aktueller Universitätslehrwerke durchgeführt. Hier wurden auf Basis einer Studie von Catley und Novick (2008) insgesamt 1197 Abbildungen aus 11 deutschen und 11 amerikanischen Lehrwerken auf ihre Darstellung evolutionärer Stammbäume untersucht (siehe Veröffentlichung 3). Diese Untersuchung folgte zwei zentralen Fragen: 1. Hat sich die Darstellung evolutionärer Stammbäume in amerikanischen Universitätslehrwerken seit der Erhebung von Catley und Novick (2008) gewandelt? 2. Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede zeigen sich in der Darstellung evolutionärer Stammbäume in deutschen und amerikanischen Lehrwerken?

Es zeigte sich eine Abnahme lernhinderlicher und schwierigkeitsinduzierender Merkmale der Stammbäume in der amerikanischen Literatur. Darüber hinaus konnten einzelne kleine, aber signifikante Unterschiede zwischen deutschen und amerikanischen Darstellungen gezeigt werden. Insgesamt zeigten sich jedoch große Übereinstimmungen in der Darstellung von Stammbäumen in den Lehrwerken beider Länder.

Im weiteren Verlauf der Arbeit wird eine empirische Testung des STREAM bei deutschen Studierenden vorgestellt (siehe Veröffentlichung 4). Basierend auf den theoretischen Grundlagen (Veröffentlichung 1 und 2) sowie der Analyse der Abbildungen in Lehrwerken (Veröffentlichung 3) wurde ein 28-Item Multiple-Choice Single-Select Erhebungsinstrument entwickelt. Dieses Instrument wurde mit Lautem-Denken-Interviews validiert und zur Erhebung der Stammbaumlesefähigkeit bei 455 Studierenden von vier deutschen Universitäten eingesetzt. Zur Analyse des STREAM wurden die Daten mithilfe der Item-Response-Theory (IRT) ausgewertet. Die Ergebnisse dieser Studie widersprechen der theoriebasierten hierarchischen Systematisierung der Teilfähigkeiten. Die Schwierigkeit der Items der einzelnen Teilfähigkeiten folgen keiner direkten Hierarchie und ihre Konfidenzintervalle überlappen substanziell. Darüber hinaus konnte durch eine Dimensionsanalyse gezeigt werden, dass die einzelnen Teilfähigkeiten besser als distinkte Konstrukte aufgefasst werden sollten, denn als ein lineares Konstrukt. Auf Basis dieser Erkenntnisse wird eine Überarbeitung des STREAM vorgestellt.

Um eine praktische Anwendung von Ergebnissen dieser Studie bieten zu können, wurde eine Lernumgebung zum Lesen elementarer Stammbäume konstruiert. Mithilfe von Abbildungen von elf Drachen sowie vereinfachten Darstellungen eines genetischen Codes dieser fiktiven Kreaturen können Lernende verschiedene Konzepte des Arbeitens mit evolutionären Stammbäumen erarbeiten. Zentral ist dabei die Erkenntnis, dass eine phänotypische Klassifikation von Organismen fehleranfälliger sein kann als eine Klassifikation über die Gensequenz.

Die vorlegende Arbeit bietet durch die präsentierten Ergebnisse Anwendungsoptionen für die Lehre sowie Anknüpfungspunkte für weitere Forschungen. Das Wissen um die Darstellung evolutionärer Stammbäume in Lehrwerken kann dazu dienen, Lernende gezielt auf die Interpretation komplexer oder mehrdeutiger Merkmale, die in der Literatur genutzt werden vorzubereiten. Zusätzlich kann das Wissen um die Prävalenz verschiedener Merkmale von Lehrbuchautoren genutzt werden, um die nächste Generation von Lehrbüchern anzupassen. Die Modellierung des STREAM soll so für die Konstruktion von Lernumgebungen im Bereich des Stammbaumlesens als eine lernförderliche Strukturierung der Inhalte genutzt werden können. Im Kontext der fachdidaktischen Forschung kann das vorgestellte Modell mit dem zugehörigen Instrument zur Erhebung der Stammbaumlesefähigkeit von Lernenden eingesetzt werden. Zusätzlich kann der Zusammenhang dieser Fähigkeit mit anderen Konstrukten untersucht werden.
Phylogenetic trees, the diagrammatic depiction of evolutionary relatedness, are a biologyspecific type of representation. Their role in education, communication and research can hardly be overestimated. Despite their importance, numerous studies have shown, that students on all educational levels struggle with reading and interpreting evolutionary trees correctly. Different authors reported a wide range of typical mistakes in reading evolutionary trees as well as typical learners’ conceptions. Especially teleological ideas play a crucial role in this context (see publication 1).
There have been multiple approaches of researchers to systemize the concept of Treereading and based on theoretical considerations and teaching experience several skills and skill systems have been published. These approaches have not been empirically tested and hardly reference each other. Based on these works, the Synthetic Tree-Reading Model (STREAM) was developed (see publication 2). The STREAM consists of six skill levels, describing the skills from beginner in tree-reading up to experts. It can be used to diagnose the skill of learners, and a basis for designing learning material, interventions and research projects with the aim of addressing all aspects of tree reading.
As a basis for constructing a testing instrument, contemporary university-level
textbooks were analyzed. Based on a study from Catley and Novick (2008) a total of 1197 figures from eleven German and eleven US-American textbooks have been analyzed regarding the representation of evolutionary trees following two main research interests: Firstly, investigating in how far the depiction of evolutionary trees in university level textbooks changed since the study conducted in 2008 by Catley and Novick. Secondly, comparing the
evolutionary trees in modern German and US-American textbooks. Considering the intranational comparison, the number of trees with characteristics which can be obstacles to learning or increase a trees difficulty or complexity, decreased in contemporary books compared to the 2008 sample. Considering the international comparison, several significant
differences between the samples could be found, however, the effect size of these differences was typically small. In general, trees in German and US-American textbooks are presented in a comparable way.
Based on the preliminary theoretical works (publication 1 and 2) and the textbook analysis (publication 3) a 28-item multiple-choice single-select testing instrument for the STREAM was designed. The instrument was analyzed using think-aloud interviews. It was then applied to 455 biology students of four German universities (see publication 4). Students’ responses were analyzed following Item-Response-Theory (IRT). Results from this study
contradict the hierarchical organization of the STREAM which was based on the literature. Not only does the difficulty of the items of the different skills not follow a clear hierarchical organization, the skills’ confidence intervals also strongly overlap. Conducting a dimensional analysis showed, that the skill levels are better seen as distinct dimensions. Based on these results, a revised version of the STREAM is presented.
In order to provide a practical application of some of the results of this study, a learning environment for tree-reading was developed. Using pictures of 11 dragons and simplified gene sequences of these creatures, students can acquire several skills. The most important concept taught by this material is the idea that a classification based on phenotypical features is typically
more error-prone than classifications based on genetic information.
The present work offers a variety of practical applications and perspectives for education and research. The knowledge about the representation of evolutionary trees in educational literature can be used by educators to specifically bring up the topic of ambiguous or difficult properties of evolutionary trees used in the literature. Additionally, authors of textbooks can
use the insights from this study to alter the representation of evolutionary trees in the next generation of textbooks. The STREAM can be used in designing learning environments in the field of tree-reading by giving a structure for the course content. Furthermore, educators can get a better view on which aspects comprise tree-reading. In the context of educational research,
the STREAM and the corresponding instrument can be used to assess the tree-reading skills of students as well as investigating these skills with other constructs.

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