Parlamentarische Repräsentation in der Einwanderungsgesellschaft : Innerparteiliche Selektionsprozesse von Bundestagskandidatinnen und -kandidaten mit Migrationsgeschichte

Die parlamentarische Repräsentation von Menschen mit Migrationsgeschichte ist ein Thema, das im postmigrantischen Kontext immer mehr Beachtung in den letzten Jahren gefunden hat. Im aktuellen Bundestag (Stand 2021) sind Menschen mit Migrationsgeschichte deskriptiv unterrepräsentiert. Mit anderen Worten: Der prozentuelle Anteil an Menschen mit Migrationsgeschichte in der (Wahl-) Bevölkerung stimmt nicht mit ihrem Anteil unter den Bundestagsabgeordneten überein. Die Parlamentarismusforschung untersucht die Ursachen für diese deskriptive Unterrepräsentation von Gesellschaftsgruppen in Parlamenten. Politikwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler argumentieren, dass nicht nur die tatsächliche Wahl, sondern auch der im Vorfeld stattfindende innerparteiliche Selektionsprozess von Kandidatinnen und Kandidaten die deskriptive parlamentarische Repräsentation von diesen Gruppen prägen. Parteien übernehmen quasi exklusiv die Funktion der Rekrutierung und der Aufstellung vom politischen Personal. Indem sie Kandidatinnen und Kandidaten selektieren, stellen sie den Wählerinnen und Wählern nur eine Auswahl an Politikerinnen und Politikern zum Angebot. Um die deskriptive Zusammensetzung des Bundestags nachzuvollziehen, rücken daher deutsche Parteien und ihre Aufstellungsmechanismen in den Vordergrund.

 

Die Forschung in der vorliegenden Arbeit fokussiert sich auf die Parteien der CDU und der SPD und setzt sich mit ihren Selektionsprozessen und ihrem Einfluss auf die deskriptive Repräsentation von Menschen mit Migrationsgeschichte im Bundestag auseinander. Die Zahl der Studien, die sich mit dem Nominierungsprozess von Bundestagskandidatinnen und -kandidaten beschäftigen, hat insbesondere in den letzten Jahren zugenommen. Die parteiinternen Regeln und Praktiken des Aufstellungsprozesses wurden immer weiter aufgedeckt. Jedoch hat die Migrationsgeschichte als Selektionsmerkmal bisher kaum Aufmerksamkeit erregt. Diese Arbeit untersucht, inwiefern beide Parteien während der innerparteilichen Selektionsprozesse auf die postmigrantische Forderung nach einer verstärkten deskriptiven parlamentarischen Repräsentation von Menschen mit Migrationsgeschichte eingehen. Mit anderen Worten geht es darum, ob und inwiefern CDU- und SPD-Politikerinnen und -Politiker aufgrund ihrer Migrationsgeschichte eine andere besondere Art von Unterstützung bei ihrer Kandidatur für eine Bundestagswahl erhalten. Da es nicht nur eine Migrationsgeschichte gibt, sondern Migrationsgeschichten werden in der Öffentlichkeit unterschiedlich wahrgenommen, sind diese Fragen umso mehr relevanter.

 

34 leitfadengestützte Interviews wurden mit CDU- und SPD-Akteurinnen und Akteuren im Kontext der Bundestagswahl 2017 durchgeführt. Sowohl Kandidatinnen und Kandidaten mit Migrationsgeschichte, als auch Orts-, Kreis- und Landeselite aus beiden Parteien wurden interviewt. Dokumente wie Parteitagsbeschlüsse und Parteistatuten flossen in die Analyse unterstützend ein. Die Auswertungen legen nahe, dass sich postmigrantische Repräsentationsansprüche nur begrenzt auf die Parteien, ihre Regeln und Selektionspraktiken auszuwirken scheinen. Sowohl bei der Rekrutierung, als auch bei der Wahlkreisaufstellung und Listenplatzierung wurden keine empirischen Hinweise dafür gefunden, dass eine Migrationsgeschichte alleine ein neues institutionalisiertes Merkmal des Selektionsprozesses darstellt. Die in der Literatur identifizierten Kriterien des Aufstellungsprozesses werden weiterhin als entscheidende, unumgängliche Regeln wahrgenommen. Nichtsdestotrotz zeigt die Auswertung ebenfalls, dass eine Migrationsgeschichte in bestimmten Kontexten und in intersektionaler Kombination mit den bereits institutionalisierten Merkmalen eine positive Rolle im Selektionsprozess spielen kann. Diese Untersuchung liefert also empirische Hinweise dafür, dass eine ‚migrantisierte‘ Migrationsgeschichte ein zusätzlicherBonus für Aspirantinnen und Aspiranten sein kann, wenn diese die weiteren Anforderungen des Auswahlprozesses erfüllen. Damit beleuchtet diese Arbeit neue Perspektiven für die Forschung über die Karrierewege und die Repräsentation von Menschen mit Migrationsgeschichte in Parlamenten. Sie verdeutlicht, wie sich mit dem intersektionalen Ansatz ein wertvolles Instrument bietet, um die Hindernisse und Chancen für eine gerechtere deskriptive parlamentarische Repräsentation von Gruppen zu erläutern.

The parliamentary representation of immigrant-origin citizens has received increasing attention in the recent years, especially in the current post-migrant context. In the Bundestag, as of March 2021, immigrant-origin citizens are descriptively (Pitkin, 1967) underrepresented. In other words, the percentage of immigrant-origin citizens in the (electoral) population is not matched by their share among parliament members in the Bundestag. Parliamentary research has investigated the causes of the descriptive underrepresentation of groups in parliaments. Political scientists argue that not only the election itself, but also the intra-party candidate selection process that takes place in the run-up to the election shapes the descriptive parliamentary representation of groups. Parties have a quasi-monopoly on recruiting and nominating political elite. By selecting candidates, they are providing voters with a pre-selected group of future parliament members. To understand the descriptive composition of the Bundestag, further research on parties and their candidate selection mechanisms is needed.

 

This research focuses on the political parties of the Christian Democratic Union (CDU) and the Social Democratic Party of Germany (SPD), their selection processes, and their influence on the descriptive representation of immigrant-origin citizens in the Bundestag. Even though the number of studies dealing with the candidate nomination process has increased, especially in recent years, and the internal party rules and practices of the nomination process have been investigated, immigrant-origin as a selection criterion has received little attention. This research examines the extent to which both parties address the post-migrant demand for increased descriptive parliamentary representation of immigrant-origin citizens. In other words, this research questions whether and to what extent immigrant-origin politicians from the CDU and SPD receive a different kind of support when running for a federal election because of their immigrant-origin. These questions are even more relevant since there is not only one immigrant-origin, but rather, immigrant-origins are highly heterogenous and are perceived differently by the public.

 

For this purpose, 34 guided interviews were conducted with CDU and SPD political actors in the context of the 2017 German federal election. Immigrant-origin candidates, as well as interviews with local, district and state elites from both parties. Documents, such as party statutes, were used to support the analysis. The results suggest that post-migrant representative claims seem to have a limited impact on parties, their rule and selection practices. No empirical evidence was found, either in recruitment or in constituency and list placement, that immigrant-origin constitutes in itself a new institutionalized criterion of the selection process. The selection criteria previously identified in the literature continue to be perceived as crucial party rules, regardless of the candidate's origin. Nevertheless, the analysis also shows that in certain contexts and in intersectional combination with the institutionalized criteria, immigrant-origin can play a positive role during the selection process. This study provides empirical evidence that a 'migrantized' immigrant-origin can be perceived as an additional asset for aspirants if they meet further requirements of the selection process. Thus, this work sheds light on new perspectives for research on the career paths and representation of immigrant-origin citizens in parliaments. It illustrates how the intersectional approach can be a key to explaining the obstacles and opportunities for more equitable descriptive group representation in parliaments. 

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