Steigerung der Lernwirksamkeit von inszenierten Unterrichtsvideovignetten durch Komplexitätsreduktion

In der Lehrkräftebildung stellen Unterrichtsvideos ein vielversprechendes Werkzeug dar, um die Wahrnehmung von Unterrichtssituationen zu trainieren und Klassen-führungswissen zu erwerben (C. Kramer, König, Kaiser, Ligtvoet & Blömeke, 2017). Angehende Lehrkräfte sind durch die Betrachtung von Unterrichtsvideos jedoch häufig kognitiv überfordert (Syring et al., 2015), da sie das Unterrichtsgeschehen komplex abbilden. Im Vergleich zu erfahrenen Lehrkräften übersehen angehende Lehrkräfte häufiger relevante Unterrichtsereignisse (Van den Bogert, van Bruggen, Kostons & Jochems, 2014) oder konzentrieren sich eher auf unwesentliche Details (Santagata, Zannoni & Stigler, 2007). Es ist daher fraglich, wie die Lernwirksamkeit von Unterrichtsvideos – hier zum Thema „Klassenführung“ – gesteigert werden kann, sodass Lernende bei der Betrachtung unterstützt werden können.

Die vorliegende Arbeit baut auf den Überlegungen der Cognitive Load Theory (Sweller & Chandler, 1994) auf. Demnach ist das menschliche Arbeitsgedächtnis begrenzt, während das Langzeitgedächtnis eine unbegrenzte Anzahl an Informationen speichern kann. Kommt es zu einer Überforderung des Arbeitsgedächtnisses, z. B. durch eine Fülle an Informationen, können diese nicht mehr adäquat verarbeitet werden (sog. Cognitive Overload; Paas & Sweller, 2014), und eine Speicherung im Langzeitgedächtnis wird erschwert. Lehramtsstudierende verfügen im Vergleich zu erfahrenen Lehrkräften über ein geringeres domänenspezifisches Vorwissen und weniger ausgebaute kognitive Schemata, weshalb sie weniger Informationen auf einmal kognitiv verarbeiten können (vgl. Wolff, Van den Bogert, Jarodzka & Boshuizen, 2014). Damit neue Informationen im Langzeitgedächtnis gespeichert werden können, sollte eine Überforderung des Arbeitsgedächtnisses vermieden werden. Signaling und Segmenting bieten hier vielversprechende Ansätze, um die Komplexität von Lernmaterialien zu reduzieren (Mayer & Fiorella, 2014; Mayer & Pilegard, 2014). Das Signaling soll dazu verhelfen, die Wahrnehmung von Lernenden mithilfe von Signals auf lernrelevante Informationen zu lenken. Lernende werden somit dabei unterstützt, relevante von irrelevanten Informationen abzugrenzen und zu selektieren. Das Arbeitsgedächtnis kann damit eine geringere Menge an Informationen verarbeiten, wodurch eine kognitive Überlastung vermieden werden kann (Mayer & Fiorella, 2014). Das Segmenting hilft hingegen dabei, Lerninformationen zu gliedern und zu strukturieren. Die Lerninformationen werden dazu in Teile segmentiert, welche sequentiell präsentiert werden. So können die Lernenden bei der Betrachtung des folgenden Segments bereits von zuvor erworbenen kognitiven Schemata profitieren und die kognitive Belastung kann reduziert werden (Mayer & Pilegard, 2014). Wie Meta-Analysen zeigen, wirkt sich das Signaling positiv auf die Lernmotivation, die Lernzeit, lernrelevante Blickfixierungen und die kognitive Belastung von Lernenden aus (S. Schneider, Beege, Nebel & Rey, 2018), während das Segmenting einen positiven Einfluss auf die kognitive Belastung und den Wissenserwerb (Wiedergabe und Transfer) von Lernenden besitzt (Rey et al., 2019).Darüber hinaus zeigen empirische Studien, dass die Abnahme von instruktionaler Unterstützung (Fading; Van Merriënboer, Kirschner, & Kester, 2003) bei zunehmendem Wissenserwerb kognitiv entlastend und damit lernförderlich wirkt (vgl. Pollock et al., 2002; Kingry, Havard, Robinson & Islam, 2015). Doch obwohl der positive Einfluss von Signaling, Segmenting und Fading instruktionaler Unterstützung empirisch belegt werden konnte, gibt es nur wenige Studien, welche den Einsatz bei komplexen Videos fokussieren; die Gruppe der Lehramtsstudierenden wird dabei sogar nahezu gänzlich vernachlässigt (z. B. Moreno, 2007). Die vorliegende Arbeit befasst sich daher mit der Frage, inwiefern sich Signaling und Segmenting sowie Fading instruktionaler Unterstützung bei Videovignetten als lernförderlich erweisen. Um die Annahmen der Cognitive Load Theory zu überprüfen, wurden Daten zu dem Klassenführungswissen und der kognitiven Belastung bei Lehramtsstudierenden erhoben. Zudem wurde das situative Interesse der Studierenden ermittelt, da es als erklärende Variable für den Lernzuwachs dienen kann (Hidi & Renninger, 2006). Außerdem wurden Daten zur empfundenen Authentizität des Videomaterials erhoben, um Aussagen über die Qualität des Videomaterials treffen zu können.

In den Studien wurden inszenierte, d. h. nach einem Drehbuch produzierte Videovignetten verwendet, die im Teilprojekt „CLIPSS“ (www.clipss.de) des Projekts „ProViel“ der Universität Duisburg-Essen entwickelt worden sind (Wolfswinkler & van Ackeren, 2020). Die Videovignetten wurden zum Zwecke der vorliegenden Arbeit nachträglich technisch bearbeitet (Signaling und/oder Segmenting). Da die Inszenierung der Videovignetten von den Betrachtenden als „künstlich“ empfunden werden könnte, befassen sich Studie I und II mit der empfundenen Authentizität des Videomaterials, welche als Qualitätsmerkmal von Unterrichtsvideos gilt (Gartmeier, 2014). Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass das entwickelte Videomaterial trotz Inszenierung von den Betrachtenden als (eher) authentisch eingeschätzt wurde. Dennoch zeigen sich kleine Unterschiede im Grad der empfundenen Authentizität zwischen einzelnen Videovignetten, was aufgrund der unterschiedlichen Videoinhalte (Vokabelabfrage/Klassenregeln/Biologie-Experiment) und Varianten (eher gelungene/kritische Klassenführung) erwartungskonform ist (Studie II). Keine Unterschiede bestehen hingegen in der empfundenen Authentizität zwischen bearbeiteten (mit Signaling/mit Segmenting/mit Signaling und Segmenting) und unbearbeiteten (ohne Signaling und ohne Segmenting) Videovignetten (Studie I).

In Studie III wurde der Frage nachgegangen, inwiefern eine Komplexitätsreduktion durch das vorliegende Signaling und Segmenting zu einem Lernzuwachs bei videobasierten Trainings mit angehenden Lehrkräften führt. Es wurde zudem untersucht, welchen Einfluss die Art der Komplexitätsreduktion auf die kognitive Belastung und das situative Interesse der Studierenden besitzt. Dazu wurden innerhalb eines 2 x 2-experimentellen Designs die Faktoren „Signaling“ (mit/ohne) und „Segmenting“ (mit/ohne) in den Videovignetten variiert. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass eine Komplexitätsreduktion durch Signaling das Lernen mit Videovignetten förderte, eine Komplexitätsreduktion durch Segmenting hingegen zu einer Beeinträchtigung des Lernzuwachses und des situativen Interesses führte. Während des Videotrainings führten Signaling und Segmenting zu einer Abnahme der empfundenen Aufgabenschwierigkeit (= Teilaspekt der kognitiven Belastung).

In Studie IV lag der Fokus auf der Frage, inwiefern abnehmendes Signaling und abnehmendes Segmenting (Fading instruktionaler Unterstützung) zu einem Lernzuwachs bei videobasierten Trainings mit Lehramtsstudierenden führen. Außerdem wurde der Einfluss des Fadings auf die kognitive Belastung der Studierenden untersucht. Anhand eines 2 x 2‑experimentellen Designs wurden die Faktoren „Signaling“ (konstant/abnehmend) und „Segmenting“ (konstant/abnehmend) in den Videovignetten variiert. Die Datenauswertung zeigt, dass die gemeinsame Implementation von abnehmendem Signaling und abnehmendem Segmenting das Lernen mit inszenierten Unterrichtsvideovignetten unterstützte. Während des Videotrainings führte abnehmendes Segmenting zu einer geringeren kognitiven Belastung der Lernenden.

Die Studienergebnisse stützen überwiegend die Annahmen der Cognitive Load Theory (Sweller & Chandler, 1994): Lehramtsstudierende wiesen einen größeren Lernzuwachs auf, wenn sie mit komplexitätsreduzierten Videovignetten (Signaling) trainiert wurden (Studie III). Zudem wiesen Studierende einen größeren Lernzuwachs auf, wenn abnehmendes Signaling und abnehmendes Segmenting gemeinsam implementiert wurden (Studie IV). Während des Videotrainings wirkten sich beide Formen der Komplexitätsreduktion – Signaling und Segmenting sowie abnehmendes Signaling und abnehmendes Segmenting – positiv auf die kognitive Belastung der Studierenden aus, wenn sie getrennt voneinander implementiert wurden. Es zeigten sich Limitationen des Segmen-tings bezüglich des Lernzuwachses und des situativen Interesses, welche diskutiert werden (Studie III).

Insgesamt zeigt sich, dass die Lernwirksamkeit der Videovignetten durch Maßnahmen der Komplexitätsreduktion gesteigert werden konnte. Die vorliegende Arbeit liefert daher wichtige Erkenntnisse, um angehende Lehrkräfte bei der Videobetrachtung zu unterstützen und das Lernen mit komplexen Videomaterialien zu optimieren.

In teacher education, video vignettes are a promising tool for training the perception of classroom situations and acquiring classroom management knowledge (C. Kramer et al., 2017). However, beginning teachers are often cognitively overwhelmed when watching classroom video vignettes (Syring et al., 2015), as they depict classroom events in a complex way. Compared to experienced teachers, beginning teachers often tend to overlook relevant classroom events (Van den Bogert et al., 2014) or focus on more irrelevant aspects (Santagata et al., 2007). It is questionable how the learning effectiveness of classroom video vignettes – here on the topic of “classroom management” – can be improved so that learners can be supported when watching them.

The present work is based on the assumptions of Cognitive Load Theory (Sweller & Chandler, 1994). According to this theory, human working memory is limited, whereas long-term memory can store an unlimited amount of information. If the working memory is too demanded, e.g., by an abundance of information, the information cannot be processed adequately (so-called Cognitive Overload; Paas & Sweller, 2014), which hampers the storage in long-term memory. Compared to experienced teachers, teacher students have less domain-specific prior knowledge and therefore less developed schemata. Due to this, they can cognitively process less information at a time (Wolff et al., 2014). Since the observation of videos on classroom management involves a high degree of complexity, it is important to avoid a cognitive overload of teacher students’ working memory so that new information can be stored in schemata of long-term memory. Here, signaling and segmenting are promising to reduce the complexity of learning materials (Mayer et al., 1999; Mayer & Fiorella, 2014; Mayer & Pilegard, 2014). Signaling enables to guide novices’ perception to learning-relevant information by help of signals. In this way, learners can be supported in selecting relevant from irrelevant information, the working memory can process a smaller amount of information, and a cognitive overload can be avoided (Mayer & Fiorella, 2014). Conversely, segmenting helps to chunk and structure learning information. For this purpose, the information is segmented into parts that are presented sequentially. In this way, learners can already benefit from previously acquired cognitive schemas when dealing with the following segment and the cognitive load can be reduced (Mayer & Pilegard, 2014).

Findings of meta-analyses show that signaling can have positive effects on learning motivation, learning time, learning-relevant fixations, and cognitive load of learners (S. Schneider et al., 2018). Conversely, segmenting can have positive effects on learners’ cognitive load and knowledge acquisition (reproduction and transfer) (Rey et al., 2019). Furthermore, empirical studies show that a decrease of instructional support (fading; Van Merriënboer et al., 2003) is cognitively relieving with increasing knowledge acquisition, which is conducive to learning (Pollock et al., 2002; Kingry et al., 2015). However, although a positive influence of signaling, segmenting, and fading instructional support can be confirmed, there is little empirical evidence on their use in complex videos, and the group of teacher students is almost entirely neglected (e.g., Moreno, 2007). Thus, the present work is based on the question whether signaling and segmenting as well as fading of signaling and segmenting have positive effects on learning. Therefore, data on cognitive load and knowledge acquisition were collected from teacher students. Additionally, teacher students’ situational interest was determined, as it could explain learning gain (Hidi & Renninger, 2006). Furthermore, data on the perceived authenticity of the video material was collected in order to make statements about the quality of the video vignettes.

For the present studies, video vignettes were used produced according to a script. The so-called staged video vignettes were developed in the subproject “CLIPSS” (www.clipss.de) of the project “ProViel” at the University of Duisburg-Essen (Wolfswinkler & van Ackeren, 2020). For reducing the complexity of the video vignettes, they were technically processed (signaling and/or segmenting). However, since staging classroom situations could be perceived as “artificial” by viewers, Study I and II address the perceived authenticity of the video vignettes, which is considered to be an important quality aspect of classroom videos (Gartmeier, 2014). Despite being staged, the results indicate that the developed video material was assessed as (rather) authentic by the students. Nevertheless, small differences in the degree of perceived authenticity emerged between the video vignettes, which is in line with expectations due to the different video contents (vocabulary query/class rules/biology experiment) and variants (rather successful/critical classroom management) (Study II). In contrast, there were no differences in perceived authenticity between processed (with signaling/with segmenting/with signaling and segmenting) and unprocessed (without signaling and without segmenting) video vignettes (Study I).

In Study III, the focus is on the question whether a complexity reduction through signaling and segmenting leads to an increase in knowledge acquisition (learning gain) in video-based training with teacher students. Additionally, it was examined what kind of influence the type of complexity reduction has on students’ cognitive load and situational interest. Within a 2 x 2-experimental design, the factors “signaling” (with/without) and “segmenting” (with/without) were varied in the video vignettes. The results indicate that complexity reduction by signaling improved learning with video vignettes, while complexity reduction by segmenting impaired learning and situational interest. During video-based training, signaling and segmenting led to a decrease in perceived task difficulty (one aspect of cognitive load).

Study IV addresses the question whether fading of signaling and segmenting leads to an increase in knowledge acquisition (learning gain) in video-based training with teacher students. Furthermore, the influence of fading on learners’ cognitive load is examined. Within a 2 x 2-experimental design, the factors “signaling” (continuous/faded) and “segmenting” (continuous/faded) were varied in the video vignettes. The data showed that the joint implementation of faded signaling and faded segmenting improved learning with video vignettes. Furthermore, fading of segmenting led to reduced learners’ cognitive load during video-based training. 

The results of the present work are mainly consistent with the assumptions of the Cognitive Load Theory (Sweller & Chandler, 1994): Teacher students have a greater learning gain when they are trained with complexity-reduced video vignettes (signaling; Study III). Additionally, they have a greater learning gain when faded signaling and faded segmenting are implemented during video-based training (Study IV). However, during video-based training, both complexity reductions – signaling and segmenting as well as faded signaling and faded segmenting – have beneficial effects on learners’ cognitive load. Potential limitations of segmenting on the learning gain and situational interest are discussed (Study III).

Summing-up, the results of the present work reveal that the learning effectiveness of video vignettes can be increased by signaling and segmenting as well as fading of instructional support. Thus, the present work provides important insights to support teacher students during video observation and, thus, to optimize learning with complex video materials.

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