Kinder- und Jugendreisen: Ein nonformaler und informeller Bildungsort? : vom Wandervogel bis zur kommerziellen Vermarktung – ein historischer Zugang

Kinder-und Jugendreisen finden in der Freizeit statt. Daher ist das Kinder-und Jugend-reisen als ein Teil der Freizeitpädagogik zu verstehen. Erst durch die Entwicklung von Freizeit konnten sich auch Kinder-und Jugendreisen entfalten.684Freizeitpädagogik be-schreibt u.a. die Entwicklung von Freizeit als Erholungsmaßnahme von der Arbeit bis hin zur (aus heutiger Sicht) sinnorientierten Phase.685Eine Definitionfür Kinder-und Jugendreisen zu finden,scheint heute kaum möglich.686Unter Kinder-und Jugendreisen werden hier daher alle Formen der Gruppenreisen jun-gerMenschen ohne Begleitung durch Erziehungsberechtigte verstanden. Dabei wird auf eine starre Alterseingrenzung verzichtet. Klassenfahrten sind nicht Teil der Betrachtung, da sie zum formalen Bildungssystem gehören.Der Forschungsstand zum Kinder-und Jugendreisen ist defizitär. Die wenigen vorliegen-denErgebnisse zeigen, dass Jugendreisen nachhaltige und prägende Ereignisse für junge Menschen darstellen. Besonders soziale und interkulturelle Kompetenzen können durch die Teilnahme gestärkt oder ausgebaut werden. DiverseStudien zeigen ebenfalls, dass den Betreuenden auf Jugendreisen eine besonders wichtige Aufgabe zukommt.Der Arbeit liegt ein Bildungsbegriff zugrunde, der sich nicht an Normen und Werten ori-entierenkann, da die Arbeit einen Blick in verschiedene historische Epochen wirft, in denen je eigene Normen und Werte gesellschaftlich prägend waren. Bildung wird hierdaherfolgendermaßen verstanden:Bildung [...]hat eine autonome Lebensführung in möglichst allen Lebensbereichen in einem kon-kret gegebenen gesellschaftlich-kulturellen Kontext zum Ziel. Dies umfasst die eigenständige Le-bensführung mit Blick auf eine berufliche Existenz ebenso wie mit Blick auf Partnerschaft, eigene Kinder, aber auch mit Blick auf die soziale Teilhabe, gesellschaftlichen Zusammenhalt sowie die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit.687Nonformale und informelle Bildungsdimensionen werden in den Programmen der Kin-der-und Jugendreisen anhand von fünfKriterien identifiziert. Basis bilden die in der 684Vgl. Unterkapitel 3.1 dieser Arbeit.685Vgl. Nahrstedt, 1990 und Freericks/Hartmann/Stecker, 2010.686Vgl. Unterkapitel 3.2 dieser Arbeit.687Bundesministerium für Bildung und Forschung, 2004, 209„Konzeptionellen Grundlage für einen Nationalen Bildungsbericht“688dargelegtenfünf Dimensionen:−Übernahme von Verantwortung,−Wirkungdes eigenen Handelns erfahren,−Aneignung und Gestaltung von Räumen,−Aneignung und Gestaltung kultureller Praxis,−Bewältigung der Lebensaufgaben.Als Forschungsmethode ist weiterhin eine historische Rekonstruktion nötig. In den un-terschiedlichen historischen Epochen hatten Begriffe unterschiedliche Bedeutungen bzw.wurden abweichende Begriffe verwendet. Um die Forschungsfragen zu beantwor-ten, muss die Semantik der jeweiligen Epoche verstanden werden.Die Funktionen des Jugendreisens können sehr unterschiedlich begründet werden. In der Arbeit wird aus dem historischen Überblickherauseine funktionale Analyse für jede Epoche vorgenommen, dieeine funktional differenzierte Gesellschaft voraussetzt, wie sie seit dem Aufstieg des Bürgertums in der Kaiserzeit angenommen werden kann. Hier wird die funktionale Analyse benutzt, um Kinder-und Jugendreisen in ihrer Eigenart von möglichen funktionalen Äquivalenten der jeweiligenhistorischen Epoche abzugrenzen. In den betrachteten historischen Epochen hatten Jugendreisen unterschiedliche Funkti-onen. Zur wilhelminischen Zeit prägteneben der aufkommenden Arbeiterjugend vor al-lem die Wandervogelgruppe das Jugendreisen. In der ersten Zeit derJugendreisen hat-ten sie in der Form des Wandervogels die Befreiung derMitglieder von einer erstarrten, ständebewussten Wohlstandgesellschaftzum Gegenstand. Jugendreisen in dieser Epo-che ermöglichtejungen Menschen das einfache Leben in autonomen Jugendgruppen.Es kann festgehalten werden, dass der Wandervogel und damit der Beginn des Ju-gendreisens in Deutschland Teil des Funktionssystems (Jugendbewegung) waren, das in der Gesellschaft die Jugend als eigenständige selbstbestimmte Lebensphase etabliert hat.Zur Zeit der Weimarer Republik setztesich der Wandervogel in der Bündischen Jugend fort. Auch die Arbeiterjugend wuchs zunehmend. In den Schulen wurdelangsam eine 688Vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung, 2004, innovativere (beeinflusst durch die Reformpädagogik) Didaktik eingeführt. Jedoch be-stand die Funktion des Jugendreisensfort, Kindern und Jugendlichen für einen kurzen Zeitraum eine autonome Lebensführung zu ermöglichen. Dies zeigte sich vor allem in den von der Arbeiterjugend veranstalteten Kinderrepubliken:Kinder sollten reale Selbstverwaltung erleben und so demokratisches Zusammenleben erlernen. Mit dieser Praxis stellten sich die Kinderfreunde gegen die Alltagspraxis in der Weimarer Republik, die Kinder immer noch als unmündige PersonenohneMitspracherecht begriff. Zur Zeit des Nationalsozialismus wurden alle freien Jugendgruppen verboten. Nur die Hitlerjugend und der Bund Deutscher Mädel duften als Jugendverbändebestehen blei-ben bzw. wurden von der NS-Regierung überhaupt erst etabliert, gefördert und kontrol-liert. Hier finden sich auf den ersten Blick keine nonformalen Bildungschancen. Die Funk-tion war ganz klar: Die jungen Menschen sollten gleichgeschaltet werden, um dem Re-gime zu dienen.Nach dem Zweiten Weltkrieg und während der Teilung Deutschlands wurdein der DDR erneut von staatlicher Seite nur ein Jugendverband etabliert, die „Freie Deutsche Ju-gend“ (FDJ). Neben der FDJ bestanden zwar auch einige kleine Kirchenjugendgruppen,die angesichts ihrer geringen Größehier kaum Beachtung finden. Die Funktion der FDJ ist klar beschrieben: Die Jugendlichen sollten zu sozialistisch angepassten Staatsbürgern erzogen werden. Auch hier finden sich keine gewünschten oder begünstigten nonfor-malen und informellen Bildungsabsichten. Nach 1949 entwickelten sich in der BRD viele reiseorientierte Jugendgruppen neu oder lebten wieder auf. Daneben schufen der Bund und die Länder Anreize für die Veranstal-tung von Jugendreisen im Rahmen neuzugründender Jugendorganisationen. Der Sta-tus,„jugendlich“ zu sein und damit eigene Lebensformen in Anspruch nehmen zu kön-nen,wurde etwas Selbstverständliches. Dadurch wurden typische Abgrenzungshaltun-gen gegenüber ständischen Normen aus der Vergangenheit vom Beginn des 20. Jahr-hunderts abgelöst und der Charakter des Jugendreisens musste sich nicht mehr daran orientieren, sondern konnte sich eigenen Zielen zuwenden. Neben der Arbeiterjugend, der Bündischen Jugend und den kirchlichen Jugendverbänden breiteten sich nun auch andere Jugendverbände, wie z. B.die Naturfreunde,rasch aus. Vor allem wurden nun immer mehr Auslandsreisen getätigt. Von staatlicher Seite wurden die Feriendienste gefördert, sodass auch Jugendliche verreisenkonnten, die keinem Verband angehörten. Diese staatlich geförderten Programme hatten vor allem das Ziel, das Ansehen Deutsch-lands imAusland durch das Entsenden der jungen Generation wiederherzustellen und zur Völkerverständigung beizutragen. Die staatliche Förderung und pädagogische Kon-zeptualisierung der Bildung durch Reisen kann als wesentlicher Beitrag zur gesellschaft-lichen Reformverstanden werden. Der Ernst des informellen Lernens war insofern ge-währleistet, als Jugendreisen noch nicht unter dem Vorzeichen von „Spaß“standen, son-dern als Bildungsinstrument allgemein akzeptiert waren.In den 1960er Jahren ermöglichten die staatlichen Förderungen Jugendlichen eine freie Auswahl zwischen Angeboten subventionierter und damit günstiger Reisen. Die Reise-angebote werden immer komfortabler, Zeltlager wurden von Bungalowdörfern und Ju-gendherbergen von einfachen Hotels abgelöst. Mit dieser Diversifizierung derTeilnah-meoptionen trennen sich die Geschichten der „klassischen“internationalen Jugendar-beit und des „klassischen“Jugendreisens. Jugendreisen orientierten sich immer mehr am Erwachsenen-Tourismus. Ihre Funktion bestand nach wie vor imautonomen, selbst-organisiertenLeben in der Jugendgruppe und der zeitweisenAbgrenzung von den tradi-tionellen familiäreren und schulischen Strukturen. Daneben wurden weitere Bildungs-ziele aufgesetzt, wie das Kennenlernenvon Land und Leuten, das Erlernen einer Sprache oder das Aneignen andererWissensgebiete. In den 1980er Jahren wurden die staatlichen Förderprogramme für das Jugendreisen drastisch gekürzt. Viele Pädagogen gründeten nun kleine Vereine, um unabhängig von Fördermitteln weiterhin Reisen für junge Menschen anzubieten. Daher bestehen ab die-sem Zeitpunkt (bis heute)staatlich geförderte Programme nebenkommerzielle agie-rende Vereine und Firmen. Wo früher noch eine Ablehnung puren Vergnügens und eine Betonung der Bedeutung von Bildung in der Freizeit vorherrschten, gilt reines Vergnü-gen in der Freizeit nunalsNormalität. Unter diesen Bedingungen verlieren die Bildungs-dimensionen der Verantwortung und der sozialen Kompetenz etc. nichtjedochihre pä-dagogische Relevanz:Sie bleiben in den Konzepten der kommerziellen Veranstalter pä-dagogisch betreuterJugendreisen als Lernzielevorhanden, richten sich aber nur noch auf die Vervollständigung des Individuums, nicht mehr auf übergeordnete politische Ide-ale wie internationale Verständigung oder Einübung demokratischer Praxis. In den 1990er Jahren entstanden immer mehr Spezialreiseveranstalter, die spezifischeInteressen abdeckten.Trendsportarten und verschiedene neue Unterkunftsarten prä-gen heute das Angebot. Eventangebote wurden zum festen Bestandteil der Jugendrei-seszene. Nonformale und informelle Bildungsziele verlagerten sich von der Selbstfin-dung und -erkenntnis als Jugendlicher im Vergleich zu Erwachsenen hin zur Suche nach Zielen, die das Individuum prägen könnten. Es geht also um das Finden dereigenen Iden-tität und das Finden eigener (Lebens-)Ziele. Als Gegenentwurf zu den Leitbildern der Erwachsenen sollten auf Jugendreisen Bedingungen inszeniert werden, unter denen Ju-gendliche auf Reisen eine Erfahrungsbasis für die Ausprägung und Erprobung eigener Handlungsmuster finden.Seit den 2010er Jahrenbilden soziale Erfahrungen einen Schwerpunktdes Jugendrei-sens. Die Erlebniskonzeption von Jugendreisen führt Jugendliche als Gruppe in unge-wöhnliche Erfahrungssituationen. Darüber hinaus wird die Identitätsbildung als Funktion des Jugendreisens angegeben.
 

The aims of the dissertation are to pinpoint the underlying principles of children and youth travel and to describe children and youth travel as a non-formal and informal place of learning. Therefore the dissertation will analyse the following hypothesises:

  1. Children and youth travel have a function in any historical epoch
  2. Children and youth travel are a place in which children and young people can participate in non-formal and informal learning

In a first step the remit of Tourism and Leisure studies is established as the context for the dissertation.  The advances in youth travel are inherently linked to the development of recreational and leisure activities.

Non formal and informal learning outcomes in children and youth travel will be identified through the application of five criteria. These are based on the five dimensions described in the “Konzeptionellen Grundlage für einen Nationalen Bildungsbericht”[1] as:

  • Taking responsibility
  • Experience the effects of own doing
  • Ownership  and development  of settings
  • Ownership  and design of cultural practise
  • Coping with livelong tasks

As a scientific research tool a historical re-construction is necessary. In different historical periods utilised terms had different meanings or other terms were used. In order to analyse the hypothesis scientifically the semantics of each era need to be understood.

The functions of youth travel were justified in a variety of ways. The dissertation develops from an historical overview a functional analysis of each epoch. This analysis is used to differentiate the peculiarities of children and youth travel from their possible equivalencies in the relevant epochs.

Research Results

Initially youth travel was a driver to lliberation from the class conscious affluent society and the adult world and resulted in the establishment of the adolescence as a distinct and self-determined period of live in any given society. Later on functions of youth travel also included the exercise of democratic life forms and the improvement of international understanding. Autonomous living and self-organisation were always central planks of youth travel.  The increasing customer demands for comfortable modes of travel and the commercialisation led to the rise of professional organisations in the field of youth travel, so that self-organisation and democratic structures lost increasingly in importance.  This was counteracted by the implementation of new learning aims in youth travel e.g. learning a language or practising sports. Over recent years the focus of youth travel shifted to helping   young people through social experiences in their emotional, social and cognitive development so that they were enabled to gain an understanding of their own self and their purpose in life.

Because of the plurality of life forms and the enormous range of non-formal and informal learning opportunities youth travel has more or less lost its unique selling point in the modern society. In their day to day life children and young people are able to meet and spend time together autonomously without having to rely solely on statutory educational or family structures. That was not the case in previous years. Young people today are encouraged to take on responsibilities and are asked to play an active part in the development of the society. (This also applies to formal education structures) In how far these developments were furthered through youth travel over the years will be shown in this dissertation. In a pluralistic society children and youth travel continues to be a place for non-formal and informal education. A unique selling point of youth travel is that it still offers young people the possibility to experiment with behavioural patterns in a safe environment outside their everyday life (parents, school and peers). Youth travel therefore contributes to the development of personalities and the formulation of life aims.

Over the last years the learning environment for young people has changed considerably, the statutory education system and non-formal systems have developed new ideas and approaches to learning.  In this process youth travel theory played no part.  

Education, as it is used here, is not target or practicality orientated. Children and youth travel assists - even if no structured educational interventions take place - in the educational development of children. Youth travel has a purpose in its own right and does not need to achieve specific learning outcomes or fulfil politically defined aims. This has become one of the defining problems of youth travel since in current times this legitimation of youth travel is challenged. Children and youth travel is seen critically since it has no direct, self-evident and clear purpose and benefit for the young person. In contrast personality development is seen as an ongoing and continuous process to which children and youth travel can make valuable contributions even if this claim – up to now – has not been proven.

The results of the dissertation are relevant for practitioners in the youth travel scene and the educational establishment as a whole.  The results can help the practitioners in their aim to legitimise the effects of youth travel and they can build a bridge in non-formal and informal learning discussions between youth travel and informal education providers.

Freericks, Hartmann und Stecker describe the modern practical leisure education among others as a “purpose orientated phase”.  This assessment is mirrored in the current central functions of youth travel which are the development of personal identities and the formulation of aims in life. In addition the authors extend this phase with the demand for more ecological responsibility, which is also reflected in modern youth travel.  Das Reisenetz as one of the main trading association in Germany established the annual Youth Travel Congress in 2017. In 2019 the headline of the Congress was  “Innovation and Ecology”. Youth travel operates under the same principles as Leisure Education. Therefore youth travel could be considered as a part of Leisure Education and would deserve – once again - an increased focus in the non-formal and informal educational discourse in Germany.  

 

[1] Translation by the author: “Conceptual Foundations to the National Report of Learning” Source: Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hrsg.) (2004): Non-formale und informelle Bildung im Kindes- und Jugendalter, Konzeptionelle Grundlagen für einen Nationalen Bildungsbericht, In: Bildungsreform, Band 6.

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