Bildung und das neoliberale Projekt – Zur geschichtlichen Entwicklung des Neoliberalismus im Feld beruflicher Curricula : eine ideologiekritische Analyse
Ausgangspunkt dieser Arbeit war ein erster vager Verdacht, dass aktuelle schulische berufliche Curricula maßgeblich von neoliberaler Ideologie durchdrungen sein könnten. Diese Vermutung kam erstmals mit der Implementierung der neuen kompetenzorientierten Bildungspläne für den Vollzeitbereich an Berufskollegs in NRW im Jahr 2014 auf und stützte sich zunächst auf die mit der Einführung der neuen Bildungspläne einhergehende weitere Ökonomisierung der schulischen beruflichen Bildung.
Die Feststellung einer immer weitergehenden Ökonomisierung von beruflicher Bildung reicht allerdings alleine nicht aus, um den Nachweis von neoliberaler Ideologie in beruflichen Curricula und eines neoliberalen Projekts in der schulischen beruflichen Bildung erbringen zu können. So ist der Trend zur Ökonomisierung von (beruflicher) Bildung kein alleiniges Phänomen des Neoliberalismus, sondern zunächst einmal ein Charakteristikum von beruflicher Bildung innerhalb des kapitalistischen Systems. Der beruflichen Bildung wohnt seit ihrem Bestehen ein Spannungsverhältnis zwischen den Anforderungen der Ökonomie an das Subjektvermögen und den legitimen Interessen der Schülerinnen und Schüler an Bildung inne. Berufliche Bildung geht aus den Anforderungen der Gesellschaft an die Subjekte hervor und soll die Menschen vor allem mit ökonomisch und gesellschaftlich verwertbaren Kompetenzen und Qualifikationen ausstatten, um einerseits die Reproduktion der Gesellschaft und der Kapitalakkumulation sicherzustellen und andererseits die Subjekte zu einem selbstständigen Leben befähigen.
Die neoliberale Ideologie erschöpft sich auch nicht nur in der Ökonomisierung von Bildung oder anderen Lebensbereichen. Vielmehr soll das Markt-, Wettbewerbs- und Konkurrenzprinzip alle Lebensbereiche durchdringen, um so Herrschaft sicherzustellen. Die neoliberale Ideologie in der beruflichen Bildung zeichnet sich somit durch ihren Doppelcharakter aus: Sie ist ein Herrschaftsinstrument und zielt gleichzeitig auf die Herstellung von ökonomisch verwertbaren Kompetenzen innerhalb neoliberaler Verhältnisse.
Um neoliberale Ideologie in schulischen beruflichen Curricula mittels einer ideologiekritischen Analyse aufspüren und nachweisen zu können, muss mit der Analysekategorie des Hegemonieprojekts und der Methodik der historisch-materialistischen-Politikanalyse (HMPA) ein differenziertes Instrumentarium herangezogen werden. Auf dieser methodischen Basis kann im Rahmen dieser Arbeit der Nachweis erbracht werden, dass das neoliberale Projekt in der schulischen beruflichen Bildung spätestens ab den 2010er Jahren eine hegemoniale Stellung in der schulischen beruflichen Bildung innehat und dass die in diesem Zeitraum neu entwickelten schulischen beruflichen Curricula von neoliberaler Ideologie durchdrungen sind. Die Durchsetzung des neoliberalen Hegemonieprojekts in der schulischen beruflichen Bildung war allerdings keineswegs alternativlos. In den 1970er Jahren konkurrierten verschiedene empirisch-positivistisch geprägte Curriculamodelle mit kritisch-emanzipatorischen curricularen Ansätzen. Seit den 1970er Jahren ist aber auch eine immer stärkere Ausrichtung der beruflichen Bildung auf die Interessen der Wirtschaft festzustellen. Die Ansprüche der Subjekte an Bildung und die Ansätze einer kritisch-emanzipatorischen schulischen beruflichen Bildung wurden in den berufspädagogischen Diskursen immer stärker an den Rand gedrängt und schließlich marginalisiert. Die Ökonomisierung von beruflicher Bildung vollzog sich allerdings bis in die 1990er Jahre hinein in Deutschland unter fordistischen und nicht unter neoliberalen Vorzeichen.
Erste Anzeichen von neoliberaler Ideologie in schulischen beruflichen Curricula können ab den 1990er Jahren festgestellt werden. Mit Beginn der 2000er Jahre ist zusätzlich auch ein wesentlicher Einfluss der neoliberalen Bildungspolitik der EU auf das deutsche berufliche schulische Bildungssystem nachweisbar. Die ab den 2010er Jahren neu entwickelten oder überarbeiteten Rahmenlehrpläne für Ausbildungsberufe und die ab dem Jahr 2014/2015 eingeführten kompetenzorientierten Bildungspläne für den Vollzeitbereich an Berufskollegs in NRW sind vollständig von neoliberaler Ideologie durchdrungen.
In den beruflichen schulischen Curricula kann die neoliberale Ideologie auf zwei Ebenen nachgewiesen werden. Sowohl die Ebene der curricularen Konstruktionsmechanismen als auch die Ebene der Bildungsziele und die grundsätzliche inhaltliche Ausrichtung beruflicher Bildung sind in den untersuchten Curricula spätestens mit Beginn der 2010er Jahre vollständig von neoliberaler Ideologie durchdrungen.
Das Denken und Handeln von den in der Bildungsbürokratie tätigen Subjekten scheint nach wie vor von der neoliberalen Ideologie maßgeblich beeinflusst zu sein, da die seit den 2010er Jahren neu entwickelten und von neoliberaler Ideologie durchdrungenen Curricula innerhalb der Bildungsbürokratie erarbeitet und entwickelt worden sind.
Allerdings kann im Rahmen dieser Arbeit nur indirekt auf die konkrete Ausprägung und Verbreitung neoliberaler Ideologie im Denken und den Einstellungen der innerhalb der Bildungsbürokratie tätigen Subjekte geschlossen werden.
Die in dieser Arbeit gewonnenen Erkenntnisse über den Charakter und die Stellung des neoliberalen Projekts in der schulischen beruflichen Bildung sowie über die Elemente und die beabsichtige Wirkungsweise neoliberaler Ideologie in der beruflichen Bildung lassen allerdings nicht automatisch darauf schließen, im welchen Maße die in den Curricula identifizierte neoliberale Ideologie wirklich Einzug in das Denken, Fühlen und Handeln der Subjekte hält.
Es kann aber aufgezeigt werden, dass das neoliberale Projekt in der schulischen beruflichen Bildung nach wie vor eine hegemoniale Stellung innehat. Die Schülerinnen und Schüler sind in neoliberalen Verhältnissen aufgewachsen, d.h. sie haben mit großer Wahrscheinlichkeit das Markt-, Wettbewerbs- und Konkurrenzdenken vollständig internalisiert. Folgt man dieser Annahme, dürfte ein überwiegender Teil der Schülerinnen und Schüler daran interessiert sein, sich über schulische berufliche Bildung einen Vorteil im Wettbewerb um Lebens- und Berufschancen sowie um materiellen Wohlstand und soziale Anerkennung verschaffen zu können. Aus diesem Grund liegt die Vermutung nahe, dass die Schülerinnen und Schüler vor allem daran interessiert sind, mit von der Ökonomie geforderten beruflich verwertbaren Kompetenzen ausgestattet zu werden. Die Anforderungen des Staates, der Ökonomie und der Schülerinnen und Schüler an berufliche Bildung scheinen somit identisch zu sein.
Unterwirft sich das Subjekt nicht den bestehenden Verhältnissen, so verwirkt es im neoliberalen Kapitalismus seine Chancen. Deswegen kommt es zu einer >>freiwilligen<< Unterwerfung der Subjekte unter die neoliberalen Verhältnisse. Dadurch wird auch deutlich, wie Herrschaftsinteressen und ökonomische Interessen im Rahmen der neoliberalen Ideologie in der beruflichen Bildung ineinandergreifen. Durch die neoliberale Ideologie steuern sich die Subjekte selbst im Sinne der herrschenden Verhältnisse und des neoliberalen Kapitalakkumulationsregimes. Sie beherrschen und kontrollieren sich selber und eignen sich dadurch selbstständig Kompetenzen an, die den Anforderungen und Interessen der Ökonomie entsprechen.
Auch wenn das neoliberale Projekt in einigen gesellschaftlichen Bereichen bereits krisenhafte Tendenzen zeigt, scheint in der schulischen beruflichen Bildung der aktive und passive Konsens zum hegemonialen neoliberalen Projekt weiter zu bestehen.
Education and the neo-liberal project - The historical development of neoliberalism in the field of vocational curricula. An ideology-critical analysis
The starting point of this work was a first vague suspicion that current vocational school curricula could be significantly influenced by neoliberal ideology. This assumption came for the first time with the implementation of the new competence-oriented education plans for full-time education at vocational colleges in NRW in 2014 and was initially based on the further economization of school-based vocational education that accompanies the introduction of the new education plans.
However, the finding that the economisation of vocational education is becoming more and more proficient is not enough to provide evidence of neo-liberal ideology in vocational curricula and a neoliberal project in vocational education. The trend toward the economization of (vocational) education is first of all not a sole phenomenon of neo-liberalism, but, a characteristic of vocational education within the capitalist system. Ever since its inception, vocational training has been home to the tension between the demands of the economy on the individual and the legitimate interests of the students in education. Vocational training emerges from the requirements of society to the subjects and should equip them above all with economically and socially utilizable competencies and qualifications, on the one hand to ensure the reproduction of society and capital accumulation and on the other hand to enable the subjects to an independent life. Thus, it is the peculiarity of vocational education that educational and teaching-learning processes are also geared towards the demands of the economy and the labor market. On the other hand, neo-liberal ideology is not limited to the economization of education or other areas of life. Rather, the market and the competition principle should permeate all areas of life of the individual in order to ensure the rule of the dominant factions within the ruling class. Neoliberal ideology in vocational education is thus characterized by its dual character: It is a tool of domination and at the same time aims at the production of economically exploitable competences within neoliberal capitalist relations.
In order to detect and prove neoliberal ideology in vocational school curricula by means of an ideological-critical analysis, a differentiated instrumentation had to be used with the analysis category of the hegemony project and the methodology of historical-materialist-political analysis. On this basis, it was then possible to prove that the neoliberal project in school-based vocational education has been holding a hegemonic position since no later than the 2010s and that the school-based vocational curricula newly developed from the 2010s onwards are permeated with neoliberal ideology. However, it could also be shown that the implementation of the neoliberal hegemony project in school-based vocational education was by no means without alternative and not predetermined. In the 1970s, various empirical-positivistic curriculum models competed with critical-emancipatory curricular approaches. Since the 1970s, however, there has also been an increasing focus of vocational education on the interests and demands of the economy. The demands of the subjects for education and the approaches of critical-emancipatory school-based vocational education were increasingly pushed aside in the pedagogical discourses and finally marginalized. However, the economization of vocational education took place until the 1990s in Germany within Fordist framework.
The first signs of neoliberal ideology in school-based vocational curricula could be noted since the 1990s. Since the beginning of the 2000s, a significant influence of the EU's neoliberal education policy on the German vocational education system has also been evident. The newly developed or revised curricula for apprenticeships starting in the 2010s and the competence-oriented curricula for full-time vocational courses in NRW introduced in 2014/2015 are completely permeated by neoliberal ideology.
In the vocational school curricula, neo-liberal ideology could be demonstrated on two levels. Both the level of the curricular construction mechanisms and the level of educational goals and the fundamental orientation of vocational education in the curricula examined have been completely permeated by neoliberal ideology at the latest at since the beginning of the 2010s.
The thinking and acting of those working in the educational bureaucracy still seems to be significantly influenced by neo-liberal ideology, since the curricula newly developed since the 2010s and permeated by neoliberal ideology have been developed within the educational bureaucracy.
However, within the framework of this work, it is only indirectly possible to conclude on the specific form and distribution of neoliberal ideology in the thinking and attitudes of the subjects working within the educational bureaucracy.
Furthermore, it could be shown that the curricula newly developed from the 2010s onwards are also permeated by neoliberal ideology in terms of their content and their fundamental goals. In terms of content, the school-based vocational curricula aim at the economic exploitation of education. On the other hand, the neo-liberal ideology contained in the curricula is an ideology of subjugation and adaptation. However, the specific content of the various curricula was not examined for the existence of neoliberal ideology. This research question is still a desideratum.
However, the insights gained in this work on the character and position of the neoliberal project in vocational education, as well as on the elements and intended impact of neoliberal ideology in vocational education, do not automatically suggest the extent to neo-liberal ideology which identified in the curricula really finds its way into the thinking, feeling and acting of the subjects. The question to what extent the human being is actually transformed by the teaching of neo-liberal competencies, as intended by the neoliberal ideology, can not therefore be conclusively answered.
In the context of this work it could be shown that the neo-liberal project still has a hegemonic position in vocational education. The students grew up in neoliberal conditions, meaning they are likely to have fully internalized market and competitive thinking. Following this assumption, a majority of students may be interested in gaining an advantage in the competition for life and work opportunities, as well as material wealth and social recognition via vocational education. For this reason, it is reasonable to suppose that the students are primarily interested in being equipped with occupational skills required by the economy. The demands of the state, the economy and the students on vocational training thus seem to be identical.
If the subject does not submit to existing conditions, it forfeits its chances in neoliberal capitalism. That is why there is a "voluntary" submission of subjects to the neoliberal relations. It also shows how the power element and economic element of neo-liberal ideology in vocational education intertwine. Through the neo-liberal ideology of adaptation and subjugation, the subjects control themselves in the sense of the prevailing conditions and the neo-liberal regime of capital accumulation. They rule and control themselves and thereby autonomosouly acquire competencies that meet the requirements and interests of the economy.
Even though the neo-liberal project is already showing critical tendencies in some areas of society, active and passive consensus on the hegemonic neo-liberal project seems to continue in vocational education.