Der Zusammenhang zwischen Zeitverständnis und Bedürfnisaufschub bei ehemaligen Frühgeborenen mit einem Gestationsalter von weniger als 32 Wochen versus reifgeborenen Kindern im Alter von 4 Jahren

Jedes zehnte Kind wird in Deutschland zu früh geboren. Die Fortschritte der peri- und neonatalen Medizin haben zu einem deutlich gestiegenem Überleben der sehr kleinen frühgeborenen Kinder geführt. Die Raten an schweren (motorischen) Behinderungen sind heute vergleichsweise niedrig. Im Gegensatz hierzu steht eine unverändert hohe Rate an neurokognitiven Defiziten, insbesondere im Bereich der exekutiven Funktionen. Diese beschreiben die zielgerichtete Handlungssteuerung und die Selbstregulation menschlicher Individuen, unter anderem die inhibitorische Kontrolle oder Impulskontrolle. Die Fähigkeit auf die Befriedigung eines Bedürfnisses zu warten (= inhibitorische Kontrolle), gehört zu den grundlegenden Entwicklungsaufgaben im Kindesalter. Defizite in diesem Bereich können lebenslange zu Auswirkungen, u.a. Verhaltensauffälligkeiten, Suchtproblematiken und sozialen wie gesundheitlichen Nachteilen, führen. In der vorliegenden Studie wurden die Zusammenhänge zwischen dem Zeitverständnis und der Fähigkeit zum Bedürfnisaufschub untersucht. Hypothese: Je besser das Zeitverständnis (gemessen in Prozent korrekter Antworten im Sanduhrtest), desto besser ist die Fähigkeit zur Bedürfniskontrolle (gemessen in Wartezeit im Bedürfnisaufschubtest). Insgesamt wurden 25 ehemalige Frühgeborene (Gestationsalter median 28+3 SSW, FG) sowie 26 Kinder der Kontroll-Gruppe (Gestationsalter median 40+1 SSW, KG) im Alter von 4 Jahren untersucht. Es zeigte sich eine mediane Wartezeit im Bedürfnisaufschub von 3:42 Minuten (FG) vs. 10:29 Minuten (RG). Im Zeitverständnis erreichten die Probanden median 43% (FG) vs. 54% (RG) korrekte Antworten. Es zeigte sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Fähigkeit zum Bedürfnisaufschub und dem Zeitverständnis (r = 0.399, p = 0.004, zweiseitig). Der Zusammenhang blieb auch nach Kontrolle des Sprachverständnisses bestehen. Dieses Ergebnis ergänzt die bereits bestehenden Nachweise der Defizite im Bereich der exekutiven Funktion Frühgeborener. Erstmalig wird in dieser Arbeit jedoch ein neuer Einflussfaktor der inhibitorischen Kontrolle evaluiert: das Zeitverständnis. Kinder mit bereits entwickeltem Verständnis von „Zeit“ als Konzept können Impulse staffeln und Bedürfnisse zurückstellen. Ein Training des Zeitverständnisses könnte entsprechend Einfluss auf die Impulskontrolle haben. Frühgeborene zeigen hier Defizite im Vergleich zur Kontroll-Gruppe. Ein Erklärungsansatz der Defizite ist die Hirnentwicklung, insbesondere der weißen Substanz. Aufgrund der vielfältigen Auswirkungen von exekutiven Dysfunktionen sollte ein Screening Kinder mit Risiko für Entwicklungsverzögerungen erkennen und mittels Interventionen die Langzeitprognose gebessert werden.

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