Untersuchungen zur situativen Variation spätmittelalterlicher Schreibsprachen : dargestellt am Vokalismus des Duisburger Stadtschreibers Jacob Ludger.

Diese Magisterarbeit entstammt dem Duisburger Graphematik-Projekt am Lehrstuhl von Prof. Dr. Arend Mihm, der sich für ihre online-Publikation eingesetzt hat.
Sie umfasst auf insgesamt 513 Seiten 2 Teil-Bände. Im ersten Band (200 Seiten) erfolgt die eigentliche empirische Untersuchung zweier historischer Vergleichstexte aus dem städtischen Verwaltungsschriftgut des 15. Jhs. inkl. 58 Tabellen und 9 Abbildungen zu Graphienspektren und den daraus erarbeiteten Graphemsystemen sowie die abschließende Ergebnispräsentation in zusammenfassenden graphematischen und lexembezogenen Vergleichen. Der zweite Band enthält die Transkriptionen der zugrunde gelegten Quellentexte sowie mehrere Indices (alphabetisch und nach Lauten geordnet).

Der detaillierten graphematischen Untersuchung, deren Methode auf den Seiten 25 -31 erläutert wird, liegt gemäß einem quellenseparierenden Ansatz die Textsorte Stadtrechnung zugrunde (zum Quellentyp Stadtrechnung S. 15-20). Das Spezielle an der vorgelegten Arbeit ist die Frage nach der situativen Variation zwischen beiden verglichenen Texten, denn es handelt sich zwar übereinstimmend um Stadtrechnungen, die in diesem Fall auch von einer Hand, der des Stadtschreibers Jacob Ludger im Rechnungsjahr Jahr 1416/17 geschrieben wurden, jedoch um zwei Varianten derselben, einer informellen Notiz (Papier-Kladde) und der offiziellen Ausfertigung (Pergament-Rolle); vgl. zur situativen Variation S. 2-14 sowie zuletzt mit Blick auf Materialität Heike Hawicks, Situativer Pergament- und Papiergebrauch im späten Mittelalter. Eine Fallstudie anhand der Bestände des Stadtarchivs Duisburg und des Universitätsarchivs Heidelberg, in: Papier im mittelalterlichen Europa. Herstellung und Gebrauch (Materiale Textkulturen 7), hrsg. von Carla Meyer / Bernd Schneidmüller / Sandra Schultz, Berlin / New York 2014, S. 217-250.

Vor dem Hintergrund der sprachgeschichtlichen Entwicklung des Niederrheinischen, über die auf den Seiten 21-24 ein kurzer Abriss erfolgt, wird der exakte graphematische Abgleich beider Texte auf der Basis eines rekonstruierten Metasystems durchgeführt, das auf dem westgermanischen Lautsystem basiert. Da die Arbeit den Vokalismus zum Gegenstand hat, werden alle westgermanischen Kurz- und Langvokale, jedoch unter Berücksichtigung ihrer konsonantischen Umgebung, einzeln in Bezug auf das Graphienspektrum untersucht. Dabei enthält die Untersuchung auch eine lexematische Ebene, um möglicherweise auch lexemgebundene Schreibungen erkennen zu können.

Der Ertrag der Arbeit liegt in der Erkenntnis, dass der formelle, auf Pergament verfasste Rollentext offenbar strengeren Maßstäben des Schreibers unterlag, was sich in einer Reduktion der Schreibvarianten sowie der konsequenteren Durchsetzung einheitlicher lexem- und positionsgebundener Schreibungen manifestiert. Auch die Wahl überregionaler Formen ist zu beobachten. Andererseits weist der Rollentext eine Dehnungsneigung auf, was zumeist auf phonetischere Schreibung verweist. Dies führt zur Diversifizierung oder einem kompletten Wandel zuvor einheitlicher Schreibungen. Ist normalerweise bei höherem Öffentlichkeitsgrad eine Zurückdrängung dialektal-sprechsprachiger Einflüsse zu erwarten, liegt der Grund für das hier zu beobachtende gegenteilige Phänomen in der vom Schreiber offenbar antizipierten veränderten Situation bei dem zum mündlichen Vortrag vorgesehenen Rollentext. Da neben der Dehnungsneigung auch weitere Graphien auf eine phonetischere Schreibung hindeuten, lässt sich daraus schließen, dass der Schreiber bewusst oder unbewusst eine mehr an der Lautung orientierte Schreibung wählte. Dadurch kann nachgewiesen werden, dass der Situationsfaktor Öffentlichkeit, welcher hier insbesondere das Medium (geschriebene vs. verlesene, also gesprochene Sprache) beeinflusst, als Ursache für die veränderten Graphien anzusehen ist. Die beobachteten Ansätze, die auf eine Bedeutungsdifferenzierung oder gar eine graphische Disambiguierung von Homophonen hinweisen, wären an einem größeren Textkorpus zu überprüfen.

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