Lernen durch sinnstiftendes Zeichnen : Eine Analyse von Blickbewegungen und Verhaltensspuren zu theoretischen Grundlagen

Das Lernen mit komplexen Sachtexten stellt für viele Schülerinnen und Schüler ein großes Hindernis dar. Beim verstehenden Lesen eines solchen Textes haben Lernende häufig Schwierigkeiten, verschiedene Teile des Textes zu integrieren, ein genaues Textverständnis zu entwickeln und spezifisches Wissen gezielt zu nutzen, um das Gelesene zu interpretieren (Bos, Valtin, Hußmann, Wendt & Goy, 2017; Hußmann et al., 2017; Weis, Zehner, Sälzer, Strohmaier & Pfost, 2016). Das Hinzufügen von Abbildungen zu einem Text kann zwar das fachliche Verstehen maßgeblich unterstützen (Mayer, 2009, 2014c), jedoch gibt es auch Hinweise darauf, dass Lernende vorgegebene Abbildungen häufig nur oberflächlich betrachten und verstehen (z. B. Brandstetter-Korinth, 2017; Cook, Carter & Wiebe, 2008; Hannus & Hyönä, 1999). Eine Alternative bietet die Lernstrategie des sinnstiftenden Zeichnens, bei welcher Lernende selbst repräsentationale Abbildungen zu den zentralen Sachverhalten eines Textes erstellen (Alesandrini, 1984; Carney & Levin, 2002; van Meter & Garner, 2005). Im Gegensatz zum Lernen mit einem Text und vorgegebenen Abbildungen verlassen Lernende bei der Anwendung der Lernstrategie des sinnstiftenden Zeichnens die passive Rolle eines Rezipienten von Text- und Bildmaterial und gestalten stattdessen den Lernprozess aktiv mit, indem sie ihre Aufmerksamkeit gezielt den Schlüsselstellen eines Textes zuwenden, die relevanten Informationen aus dem Text selektieren, in mentalen Repräsentationen organisieren und diese schließlich mit dem Vorwissen in ein kohärentes mentales Modell integrieren (van Meter & Garner, 2005; van Meter & Firetto, 2013). Da die Lernenden die Zeichnungen von Grund auf Stück für Stück selbst zusammensetzen und sich so intensiv mit den verschiedenen Ebenen sowie einzelnen Elementen der Abbildung und derer Zusammenhänge auseinandersetzen, erhalten sie zudem über den Visualisierungsprozess einen intuitiven Zugang, um Bildinformationen aus komplexen Abbildunggen zu entnehmen. Die Wirksamkeit des sinnstiftenden Zeichnens wird im zugrundeliegenden Cognitive Model of Drawing Construction (van Meter & Firetto, 2013) darauf zurückgeführt, dass Lernende beim Prozess der Bildgenerierung einen dreiphasigen Selbstregulationskreislauf durchlaufen, welcher die Ausführung der kognitiven Prozesse steuert. Weiterhin werden durch den Selbstregulationskreislauf metakognitive Prozesse der Selbstüberwachung und -regulation angestoßen, welche dafür verantwortlich sind, dass die Aufmerksamkeit der Lernenden verstärkt auf die zentralen Stellen des zu bearbeitenden Textes gelenkt wird und sinnstiftende Selektions-, Organisations- und Integrationsprozesse stattfinden, sodass unter Einbezug des Vorwissens ein kohärentes mentales Modell konstruiert werden kann. Durch das Erstellen einer Zeichnung erhalten die Lernenden außerdem eine direkte Rückmeldung darüber, ob die wesentlichen Aspekte des Textes erfasst und verstanden worden sind oder ob sich erneut mit dem Text auseinandergesetzt werden muss. Bisherige Befunde zum sinnstiftenden Zeichnens legen nahe, dass die Lernstrategie dann ihr volles Potenzial entfalten kann, wenn Lernende qualitativ hochwertige Zeichnungen erstellen können, ohne sich beim Visualisierungsprozess kognitiv zu überlasten (Schmeck, 2010). Unter diesen Voraussetzungen kann das sinnstiftende Zeichnen sowohl das Textverständnis als auch die Transferleistungen fördern (für eine Übersicht siehe Fiorella & Mayer, 2015; Leutner & Schmeck, 2014; van Meter & Firetto, 2013). Weiterhin erweist sich die Qualität der von den Lernenden erstellten Zeichnungen als geeigneter Prädiktor für den Lernerfolg (prognostic drawing principle; Leutner & Schmeck, 2014; Schwamborn, Mayer, Thillmann, Leopold & Leutner, 2010). Während die Lernförderlichkeit der Lernstrategie des sinnstiftenden Zeichnens empirisch gut belegt ist, gibt es bisher jedoch keine empirischen Belege für die in den theoretischen Modellen zum sinnstiftenden Zeichnen angenommenen zugrundeliegenden kognitiven und metakognitiven Prozesse. Anhand der Analyse von Blickbewegungen und Verhaltensspuren sind in der vorliegenden Arbeit Indikatoren für kognitive Verarbeitungsprozesse während des sinnstiftenden Zeichnens ausgemacht worden, sodass die theoretischen Annahmen im Cognitive Model of Drawing Construction (van Meter & Firetto, 2013) hinsichtlich des Selbstregulationskreislaufs und des Einflusses des Vorwissens auf die kognitiven Verarbeitungsprozesse empirisch überprüft werden konnten. In der in dieser Arbeit präsentierten ersten und zweiten Studie lag der Fokus daher auf der Frage, welche Blickbewegungsmuster sich bei der Anwendung der Lernstrategie des sinnstiftenden Zeichnens nachweisen lassen und inwiefern sich diese Blickbewegungsmuster als Indikatoren für kognitive Verarbeitungsprozesse der Lernenden von denen solcher Lernenden unterscheiden, die vorgegebene Abbildungen zu einem Text erhalten (Studie I) oder die Lernstrategie des Zusammenfassens ausführen (Studie II). Weiterhin wurde in beiden Studien untersucht, inwiefern sich die Lernenden im Hinblick auf den Lernerfolg unterscheiden und ob bei Lernenden, welche sinnstiftende Zeichnungen erstellen, die Qualität der Zeichnungen prädiktiv für den Lernerfolg ist. Die Ergebnisse der Blickbewegungsanalysen und Lernerfolgstests legen nahe, dass, im Vergleich zu einer klassischen multimedialen Lernumgebung oder der Anwendung der Lernstrategie des Zusammenfassens, sinnstiftendes Zeichnen zu einer strategisch fokussierteren Nutzung der kognitiven Prozesse des Selektierens und Integrierens führt. Die gefundenen Blickbewegungsmuster für die Lernstrategie des sinnstiftenden Zeichnens stehen dabei im Einklang mit den Annahmen des theoretischen Modells: Lernende, welche sinnstiftende Zeichnungen zu einem Text erstellten, setzten sich wiederholt intensiv mit dem Text und den sich in der Entstehung befindenden Abbildungen auseinander und richteten dabei ihre Aufmerksamkeit verstärkt auf die zentralen Stellen des Textes, sodass ein höherer Anteil an sinnstiftenden Verknüpfungen zwischen depiktiven und deskriptiven Informationen erzeugt werden konnte. Weiterhin erwies sich die Qualität der während des Lernens erstellen Zeichnungen als prädiktiv für den Lernerfolg. In der dritten Studie dieser Arbeit wurde schließlich der Einfluss des Vorwissens auf die kognitiven Verarbeitungsprozesse während des sinnstiftenden Zeichnens untersucht. Dabei konnte erwartungsgemäß gezeigt werden, dass das Vorwissen einen entscheidenden Einfluss auf die kognitiven Verarbeitungsprozesse während des sinnstiftenden Zeichnens ausübt und damit auch einen entscheidenden Einfluss auf die Konstruktion eines kohärenten mentalen Modells nimmt. Die Auswertung der Blickbewegungsmuster und Verhaltensspuren von Lernenden mit hohem und geringem Vorwissen bei der Strategieanwendung zeigen erwartungskonform, dass Lernende mit hohem Vorwissen nicht nur qualitativ hochwertigere Zeichnungen während des Lernens erstellen konnten und ein höheres Textverständnis und Transferwissen erwarben als Lernende mit geringem Vorwissen, sondern außerdem ausgeprägtere Selektionsprozesse aufwiesen. Im Hinblick auf sinnstiftende Integrationsprozesse konnte jedoch kein Unterschied zwischen Lernenden mit hohem und geringem Vorwissen bei der Anwendung der Lernstrategie des sinnstiftenden Zeichnens festgestellt werden. Die Qualität der Zeichnungen war wiederum positiv mit dem Lernerfolg verbunden. Insgesamt weisen die empirischen Erkenntnisse der vorliegenden Arbeit auf die Gültigkeit der im Cognitive Model of Drawing Construction (van Meter & Firetto, 2013) getroffenen Annahmen hinsichtlich des Selbstregulationskreislaufs und des Einflusses des Vorwissens auf die kognitiven Verarbeitungsprozesse hin. Weiterhin konnte gezeigt werden, dass Lernende besonders dann im Hinblick auf ihr Textverständnis vom Einsatz der Lernstrategie des sinnstiftenden Zeichnens profitieren, wenn sie in der Lage sind, qualitativ hochwertige Zeichnungen zu erstellen. Zudem erwies sich sinnstiftendes Zeichnen für Lernende mit geringem Vorwissen als sinnvoll, um ihren Wissensrückstand im Vergleich zu Strategieanwendenden mit hohem Vorwissen auszugleichen. Damit bietet sich der Einsatz der Lernstrategie des sinnstiftenden Zeichnens im schulischen Kontext insbesondere bei leistungsheterogen Klassen an, um komplexe Sachtexte sinnstiftend zu erarbeiten.

The requirements of a complex scientific text can be a major obstacle for students who study on their own for deep level understanding. In the process of making sense of a text, learners often struggle to integrate different parts of the text, to develop a precise text comprehension, and to use specific textual knowledge to interpret what they have just read (Bos, Valtin, Hußmann, Wendt, & Goy, 2017; Hußmann et al., 2017; Weis, Zehner, Sälzer, Strohmaier, & Pfost, 2016). Although providing pictures in addition to a text can promote learning (Mayer, 2009, 2014c), students tend to look at pictures only in a superficial way and often have difficulties interpreting them (e.g., Brandstetter-Korinth, 2017; Cook, Carter, & Wiebe, 2008; Hannus & Hyönä, 1999). A promising approach to improve learning in this regard is to encourage students to draw their own representational pictures, which reflect the main ideas of the text (Alesandrini, 1984; Carney & Levin, 2002; van Meter & Garner, 2005). Contrary to learning with author-provided pictures that are just added to a text, learners who engage in generative drawing are no longer passive consumers of information, but are actively involved in generative processing such as selecting key elements and relations, organizing them into mental representations, and integrating the mental representations with each other and with prior knowledge into a coherent mental model (van Meter & Firetto, 2013; van Meter & Garner, 2005). Since learners deal with the individual elements of the picture and their relations more intensively and create their drawings piece by piece, they also reach a deeper level of understanding in how to deal with complex pictures and how to extract information from these pictures. The cognitive and metacognitive processes underlying generative drawing are described on a theoretical basis in the Cognitive Model of Drawing Construction (van Meter & Firetto, 2013), in which the processes of selecting, organizing, and integrating are interpreted in terms of self-regulated learning. When learners engage in generative drawing, they undergo a self-regulation cycle that begins with setting performance standards for the drawing by deciding on how many details need to be included and how to express relations between different parts. Metacognitive processes of self-monitoring and self-regulation are triggered, when learners compare their in-progress work to the standards set earlier. If learners are unable to reach the standards or have difficulties to externalize the mental model, metacognitive control guides them back to the instructional material to re-engage in the cognitive processes of selecting, organizing, and integrating in order to revise their mental model. Thus, van Meter and Firetto (2013) predict that, by using the drawing strategy, learners’ attention is directed towards key elements and relations in the text and that learners who generate drawings on their own use self-monitoring and self-regulation processes more frequently than learners who do not use this strategy. Research shows that generative drawing is more likely to develop its full potential when the drawing process itself is supported. Providing a legend showing all relevant elements for drawing, for example, can reduce extraneous cognitive processing that the mechanics of drawing itself induce (Schmeck, 2010). Under this boundary condition, generative drawing as a self-regulated learning strategy can foster deep level understanding that leads to better learning outcomes in retention and transfer tests (for an overview see Fiorella & Mayer, 2015; Leutner & Schmeck, 2014; van Meter & Firetto, 2013). Moreover, the quality of learners’ drawings during learning predicts the quality of their learning outcomes (prognostic drawing principle; Leutner & Schmeck, 2014; Schwamborn, Mayer, Thillmann, Leopold, & Leutner, 2010). While there is strong evidence that generative drawing promotes a deeper understanding of the learning materials, there is a lack of empirical evidence for the proposed underlying cognitive and metacognitive processes. To shed more light on the theoretical assumptions made in the Cognitive Model of Drawing Construction (van Meter & Firetto, 2013) concerning the self-regulation cycle and the influence of prior knowledge on cognitive processing, three studies were conducted, in which students' learning processes were analyzed as they engaged in generative drawing using eye-tracking measures and students' learning outcomes using posttest measures. The purpose of the first and second study presented in this thesis was to examine if students exhibit different eye-movement patterns as indicators of cognitive processing during learning when they generate drawings than when they are given author-generated pictures in addition to a text (Study I) or when they generate written summaries (Study II). Furthermore, in both studies was examined how learners differed in learning outcome performance. A secondary goal was to determine whether the quality of the drawings was predictive for the quality of learning outcomes. The results of both experiments show that learners who engaged in generative drawing during reading a scientific text displayed more strategically focused processing of the text by focusing more attention on relevant text passages and connections between generated drawings and relevant text passages than learners who received a different instructional strategy (such as providing pictures in Study I) or who were prompted to use a different generative learning strategy (such as writing summaries in Study II). Thus, the results are in line with the assumptions made in the Cognitive Model of Drawing Construction (van Meter & Firetto, 2013): Learners who engage in generative drawing are more likely to direct their attention towards key elements and their relations in the text and to engage in meaningful self-monitoring and self-regulation processes in order to externalize the drawing. Moreover, the quality of the drawings was positively associated with the quality of learning outcomes. The purpose of the third study presented in this thesis was to investigate the impact of prior knowledge on generative processing that leads to mental model construction during generative drawing. As expected, learners with high prior knowledge not only created drawings of significantly higher quality during learning and scored higher on all learning outcome measures than learners with low prior knowledge, but they also were better able to distinguish between important and less important information in the text, indicating more profound selection processing. However, both learners with high and low prior knowledge did not differ in making meaningful connections between their drawings and corresponding text passages. Furthermore, the quality of the drawings proved to be predictive of the quality of learning outcomes. Overall, the empirical findings of this thesis contribute to evaluating the theoretical assumptions of the Cognitive Model of Drawing Construction (van Meter & Firetto, 2013) with regard to the underlying cognitive and metacognitive processes and the impact of prior knowledge on mental model construction. Moreover, learners benefit most from using the drawing strategy, when they are able to produce high-quality drawings. In particular, generative drawing is a strategy that is suitable for low-prior-knowledge learners in order to catch up with the knowledge that learners with high prior knowledge already possess before learning to a certain extent. Thus, generative drawing as a self-regulated learning strategy should be explicitly used in performance-heterogeneous classes at school in order to help students deal with complex scientific texts.

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