Synthese und Charakterisierung von binären Polyaziden der p-Blockelemente
Gegenstand der vorliegenden Arbeit war die Untersuchung der binären Polyazide der p-Blockelemente. Hierbei standen vor allem die Etablierung neue Synthesewege und die vollständige Charakterisierung der Verbindungen im Vordergrund. Insbesondere die Charakterisierung durch Einkristall-Röntgenbeugung und damit die Betrachtung der intermolekularen Wechselwirkung gestützt durch quantenchemische Berechnungen waren von besonderem Interesse.
Amidinatoantimon- und -bismut-Komplexe:
Die Komplexe [tBuC(NiPr)2SbF2] 5 und [tBuC(NDipp)2SbF2] 6 konnten in nahezu quantitativer Ausbeute durch die Salzmetathese-Reaktionen der korrespondierenden Lithiumamidinat-Komplexe mit Antimontrifluorid bei tiefer Temperatur synthetisiert werden. Die vorteilhafte Reaktionsroute zwischen den Difluoridostiban-Komplexen 5 und 6 mit TmsN3 zu den analogen LSb(N3)2-Komplexen lieferte 9 und 10 in hohen Ausbeuten. Die Bildung von TmsF ist thermodynamisch durch die starke Silizium-Fluor-Bindung bevorzugt und TmsF kann wie überschüssiges TmsN3 verhältnismäßig einfach unter vermindertem Druck entfernt werden. Die analogen Diazidobismutan-Komplexe konnten nicht durch diese Reaktionsführung erhalten werden. Deshalb wurde der Halogenid-Azid-Austausch zwischen LBiCl2 bzw. LBiI2 und AgN3 durchgeführt. Hierdurch konnten die Verbindungen 11 und 12 in nahezu quantitativer Ausbeute synthetisiert werden. Die Difluoridostiban- sowie Diazidostiban und Diazidobismutan-Komplexe wurden vollständig charakterisiert inklusive Einkristall-Röntgenstrukturanalyse und repräsentieren einige der wenigen Beispiele für Difluorid- bzw. Diazid-Verbindungen der Metalle Antimon und Bismut. Zusätzlich wurde die Bindungssituation von den Azid-Gruppen im multinuklearen {[tBuC(NiPr)2]Bi(N3)2}4-Komplex 11 durch DFT-D-Berechnungen untersucht. Die strukturellen Parameter der Azid-Einheiten in 11 unterscheiden sich im Festkörper. Dies deutet auf eine unterschiedliche Bindungssituation hin, jedoch gibt es in der berechneten DFT-D Gas-phasenstruktur 11' keine signifikanten Unterschiede zwischen den verschiedenen Azid-Gruppen. Obwohl sich die absoluten Ladungen innerhalb der experimentellen und der optimierten Strukturen erheblich unterscheiden, ist die elektronische Natur der verschiedenen Azid-Gruppen innerhalb jeder Struktur vergleichbar.
Binäre Polyazid-Verbindungen der Gruppe 15:
Die neutralen Tri- und Pentaazid-Verbindungen der Elemente As, Sb und Bi konnten aus den entsprechenden Fluorid-Spezies und Trimethylsilylazid synthetisiert werden. Bei den Reaktionen wurden alle Fluorid-Ionen vollständig gegen Azid-Einheiten ausgetauscht. Aufgrund der explosiven Eigenschaften und der über alternative Reaktionswege schwierigen Aufreinigung der Polyazid-Verbindungen besitzen TmsF und TmsN3, letzteres diente zudem als Lösungsmittel, durch ihren hohen Dampfdruck einen weiteren Vorteil, dieser ermöglicht den präparativen Zugang der reinen Polyazid-Verbindungen. Für die Synthese der Triazide Sb(N3)3 15 und Bi(N3)3 16 bei Raumtemperatur war ein Ultraschallbad förderlich, dagegen wurden die Pentaazide bei tiefer Temperatur hergestellt (–78 °C). Die temperaturempfindlichen Pentaazide wurden in situ durch eine zusätzliche Azid-Gruppe oder Lewis-Base in die bei Raumtemperatur stabileren Verbindungen PNP[Sb(N3)6] 19, As(N3)5(dmap) 20 und Sb(N3)5(dmap) 21 überführt. Zudem wurden noch das basenstabilisierte Bi(N3)3(py)2 17 und das dianionische Pentaazidoantimonat-Ion [Sb(N3)5]2– in der Verbindung (PNP)2[Sb(N3)5] 18 synthetisiert. Alle mittels spektroskopischer Methoden (multinukleare NMR-, IR- und Raman-Spektroskopie) sowie Einkristall-Röntgenstrukturanalyse untersuchte Verbindungen wurden in nahezu quantitativer Ausbeute erhalten und belegen damit das hohe Potential dieser Syntheseroute. 15 ist das zweite Polymorph von Sb(N3)3 und stellt hiermit eine der sehr wenigen neutralen binären Polyazid-Verbindungen der p-Blockelemente dar, die im Festkörper strukturell charakterisiert worden sind. Bi(N3)3(py)2 17 ist das erste neutrale Bismuttriazid, sowie As(N3)5(dmap) 20 und Sb(N3)5(dmap) 21 sind die ersten neutralen Pentaazide der Gruppe 15, deren Festkör-perstrukturen bestimmt werden konnten. Die Koordination von starken Lewis-Basen wie DMAP erweist sich als sehr effektiv für die kinetische Stabilisierung von höchst explosiven Pentaaziden der Gruppe 15. Zusätzlich wurden die Komplexe (PNP)2[Sb(N3)5] 18 und PNP[Sb(N3)6] 19 vollständig inklusive der Einkristall-Röntgenstrukturanalyse charakterisiert. Dabei stellt das Pentaazidoantimonat-Dianion [Sb(N3)5]2– ein in der 15. Gruppe unerwartetes und erstmalig beobachtetes binäres Polyazid-Ion dar. Dessen Bildung ergibt sich in theoretischen Berechnungen zufolge aus der Tatsache, dass das Hexaazidoantimonat-Trianion [Sb(N3)6]3– energetisch viel höher liegt.
Azide der 17. Gruppe:
Das gelbe, unter Standardbedingungen gasförmige ClN3 (22), die orange Flüssigkeit BrN3 (23) sowie der leuchtend gelbe Feststoff IN3 (24) wurden nach teilweise über 100 Jahre alten Synthesevorschriften, die leicht verändert wurden, hergestellt. Chlor- und Bromazid sowie ein zweites Polymorph von Iodazid wurden erstmalig vollständig strukturell charakterisiert, wobei die Kristallzucht bei den Halogenaziden durch deren ausgeprägte Empfindlichkeit gegenüber kleinsten Druck- oder Temperaturschwankungen erschwert war. Unter Einsatz eines IR-Lasers mit einem Miniaturzonenschmelzverfahren konnten Einkristalle von 22 und 23 bei 150 K direkt auf dem Röntgendiffraktometer gezüchtet werden, dies belegt die Leistungsfähigkeit der in-situ-Kristallisationstechnik. Die Einkristalle der beiden Polymorphe des Iod-azids 24a und 24b wurden durch langsame Sublimation des gekühlten amorphen IN3 erhalten. Die Halogenazide ClN3, BrN3 und IN3, deren Strukturen hier zum ersten Mal verglichen wurden, zeigen jeweils verschiedenartige intermolekulare Wechselwirkungen, die zu einem unterschiedlichen strukturellen Aufbau im Kristall dieser Verbindungen führen. ClN3 weist inter-molekulare Cl•••Cl-Kontakte zwischen den ClN3-Molekülen auf, die zu einem Kettenpolymer führen, wie sie ebenfalls in der Festköperstruktur von elementarem Chlor beobachtet wurden, während beide Polymorphe des IN3 eindimensionale Polymere bilden, die durch nahezu symmetrische Verbrückungen der Iodatome über die Nα-Atome der Azid-Einheiten entstehen. BrN3 nimmt eine helikale Struktur über intermolekulare Br•••Nα-Kontakte vom Bromatom zum Nα-Atom des Nachmoleküls im Festkörper ein, die von zusätzlichen intermolekularen Nβ•••Nγ-Kontakten begleitet sind. Ein derartiges Strukturmotiv wurde in der Chemie kovalenter Azide bislang noch nicht beobachtet. Um experimentell ermittelte Bindungslängen und -winkel von 22 und 23 mit theoretischen Werten vergleichen zu können und die Gründe für die Stärke der intermolekularen Wechselwirkungen zu beleuchten, wurden Berechnungen auf allerhöchstem Niveau mittels Coupled-Cluster-Theorie (CCSD(T)) und zudem DFT-SAPT-Berechnungen durchgeführt. Bei den Wechselwirkungen des ClN3-Moleküls mit seinen nächsten Nachbarn sind unerwarteterweise die berechneten, intermolekularen Wechselwirkungen zwischen den Molekülen der benachbarten Ebenen (CCSD(T): –12.2, DFT-SAPT: –12.1 kJ mol–1) sogar stärker als die innerhalb einer Ebene. Unter Vernachlässigung relativistischer Effekte liefert die Wechselwirkungsenergie mittels DFT-SAPT der Dimerstruktur in BrN3 mit Br•••Nα-Kontakt einen Wert von –12.6 kJ mol–1 und ist in sehr guter Übereinstim-mung mit dem nichtrelativistischen CCSD(T)-Wert von –12.3 kJ mol–1. Für die Dimerstruktur mit Nβ•••Nγ-Kontakt in 23 beträgt die DFT-SAPT-Gesamtwechselwirkungsenergie –6.0 kJ mol–1, während das CCSD(T)-Resultat von –6.1 kJ mol–1 nahezu identisch ist. Beachtet werden sollte, dass jeweils die stärkste intermolekulare Wechselwirkung in ClN3 sowie in BrN3 ca. 60 % der für die Wasserstoffbrückenbindung im dimeren Wassermolekül beobachteten 21 kJ mol–1 beträgt.
Niedervalente Azide der 14. Gruppe:
Die Verbindung Ge(N3)2(IPr) 25 wurde in guter Ausbeute durch die Reaktion von NaN3 mit GeCl2(IPr) synthetisiert und vollständig charakterisiert. Ge(N3)2(IPr) ist das erste niedervalente kovalente Hauptgruppenelementazid, dessen Struktur im Festkörper mittels Einkristall-Röntgenstrukturanalyse bestimmt werden konnte. Die Ausnahme hiervon sind die basenfreie und die basenstabilisierten Pb(N3)2-Verbindungen, in den jedoch das Bleiatom in seiner stabileren Oxidationsstufe vorliegt, im Gegensatz zum Germaniumatom in Ge(N3)2(IPr). Die Bindungssituation in 25 als auch in diversen anderen binären Germaniumpolyazid-Verbindungen mit dem Germaniumatom in der formalen Oxidationsstufe +II sowie +IV wurde mit Hilfe der Dichtefunktionaltheorie unter Einbeziehung einer empirischen Dispersionskorrektur (BP86 D3) auf hohem theoretischen Niveau untersucht. Das Prinzip der Basenstabilisierung erscheint generell zur Stabilisierung niedervalenter Azid-Verbindungen geeignet. Es verspricht für die Zukunft ein großes Potenzial für die hier erstmalig belegte strukturelle Charakterisierung thermo- und stoßsensitiver sowie redoxlabiler niedervalenter kovalenter Hauptgruppenelementazide.
Preview
Cite
Citation style:
Could not load citation form.