Die Waldmaus in urbanen Lebensräumen : Der Fall der 'Gleismäuse' am Essener Hauptbahnhof.

Die Waldmaus (Apodemus sylvaticus) ist eine weit verbreitete Kleinsäugerart Europas, die nicht nur in natürlichen oder naturnahen Lebensräumen vorkommt, sondern auch mitten in Städten. Die Liste der bekannten von ihr besiedelten Habitate ist nun um den Lebensraum "Eisenbahngleise eines großstädtischen Hauptbahnhofs" zu erweitern. Im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht eine Waldmaus-Population der Gleisanlagen des Hauptbahnhofs von Essen. Die Abiotik an einem Hauptbahnhof wird, außer von den technischen Strukturen im Raum, ganz wesentlich vom Zugverkehr und seinen Lärmemissionen geprägt. Die akustische Situation rückt so in den Fokus der Untersuchung. Daneben werden die biotischen Ökofaktoren dargestellt (z.B. Pflanzendecke, Begleitfauna, Nahrungsressourcen). Die Ergebnisse des ersten Teils der Arbeit:
1.) Der von den Zügen ausgehende Lärm stellt nur eine relativ geringe Belastung für die Mäuse dar. Es gibt für die Gleismäuse viele zeitlich und räumlich gebundene Möglichkeiten, die Geräuscheinwirkung einfahrender (bremsender) Züge abzumildern. Ihre Hauptaktivitätszeit (Dämmerung und Nacht) fällt nicht mit dem höchsten Aufkommen des Verkehrs auf dem Bahnhof zusammen, und die Tiere können diverse Verstecke nutzen. Hinzukommt, dass die meisten Züge ihre höchsten Schallpegel (mehr als 90 dB) nur über wenige Sekunden und im untersten Bereich des auditiven Spektrums der Mäuse erreichen (bei 1-10 kHz, meist um 3-5 kHz).
Die Waldmäuse finden auf den Gleisen genügend Nahrung (v.a. menschliche Abfälle, auch Aas). Andere Wirbeltierarten sind im Bereich der Gleise äußerst selten. Als konkurrierende Spezies tritt praktisch nur die Straßentaube in Erscheinung, Prädatoren konnten nur in ganz wenigen Ausnahmefällen bestätigt werden. Die Erfassung der örtlichen Flora ergab 71 Arten, darunter auch einige Neophyten und Nährpflanzen der Waldmaus.
Der zweite Teil der Arbeit schließt invasive Ansätze ein und basiert auf vergleichenden Untersuchungen, weshalb auch Waldmäuse aus anderen Habitaten des Stadtgebiets von Essen einbezogen wurden. Als Vergleichslebensräume dienten im Wesentlichen Ruderalflächen, Parks, Gärten und Waldstücke, also Gebiete, die in Relation zum Hauptbahnhof als "naturnah" gelten konnten. Neben der Körpermorphometrie wurde speziell der Dünndarm morphometrisch und histologisch erfasst. Breiteren Raum erhält die parasitologische Analyse, mit Schwerpunkt auf der Helminthenfauna des Dünndarms, und die mikroskopisch-anatomische Examinierung des Corti-Organs im Innenohr der Waldmäuse. Die wichtigsten Resultate lauten:
2.) Die Körpermorphometrie ließ keine Abgrenzung der Bahnhofsmäuse von den anderen "Stadtmäusen" erkennen. Die Tiere zeigten die für die Region und Art typischen äußeren Körpermaße. Interessant ist, dass die Waldmäuse der Gleistrassen aber signifikant kürzere Dünndarmlängen aufwiesen. Dieser Befund wird als Folge einer andersartigen Nahrungszusammensetzung gedeutet. Vermutlich führt die Aufnahme anthropogener, relativ leicht verdaulicher Nahrung zu einer Verkürzung des Intestinum tenue. Insgesamt wurden mindestens 18 Ekto- und Endoparasitenarten auf bzw. in den Waldmäusen aus Essen gefunden. Aus den 10 determinierten Helminthenarten sticht der Bandwurm Hymenolepis hibernia insofern hervor, als er als Erstfund für Deutschland gelten muss. Bemerkenswerterweise unterschied sich die Zusammensetzung der Darmparasiten bei Bahnhofs- und Vergleichsmäusen in signifikanter Weise, so dass es sich bei den Gleismäusen um eine abgegrenzte Population handeln dürfte. Im Übrigen war der Befall bei diesen insgesamt geringer als bei den Waldmäusen der Parks und Gärten.
Die Auszählung der im Corti-Organ befindlichen Haarzellen, die am Anfang der neuronalen Verarbeitung auditiver Stimuli stehen, erbrachte entgegen den ursprünglichen Erwartungen keine Hinweise auf bedeutende Schäden bei den Bahnhofsmäusen.
Der dritte und letzte Hauptteil der Dissertation beinhaltet ethologische Laborstudien. Waldmäuse aus den beiden genannten Lebensräumen wurden zunächst hinsichtlich ihrer reflexiven Antwort (Startle-Reflex) auf kurze akustische Reize getestet. Besonders beachtet wurde dabei der Preyer-Reflex der Pinnae. Erwartet wurde, dass die Tiere vom Hauptbahnhof weniger "schreckhaft" sein würden, ihre Reflexschwellen also frequenzabhängig und entlang einer dB-Skala höher liegen müssten. Um die Beobachtung, dass Beutegreifer am Hauptbahnhof offensichtlich nicht vorkommen, zu stützen, wurde außerdem ein Geruchsversuch durchgeführt, der die Reaktion der Waldmäuse auf die mittelbare Gegenwart eines Prädators, hergestellt durch die Verwendung von Fäzes eines Frettchens, messbar machte. Die wichtigsten Ergebnisse lauten:
3.) Die Waldmäuse der Gleise wiesen über den Testbereich von 2 bis 20 kHz fast durchgehend eine etwas höhere Reflexschwelle auf. Im Mittel lagen die Schallpegel, bei denen ein Ohrmuschelreflex bei den Gleismäusen gerade noch feststellbar war, zwar etwa 1-3 dB über jenen der Vergleichsmäuse. Diese Differenzen waren aber nicht signifikant. Die höchste Sensitivität aller Waldmäuse lag bei 10 kHz und etwa 63 dB. Die aufgrund des Experiments angefertigte "Reflexschwellenkurve" entsprach, jedenfalls im getesteten Frequenzbereich, in ihrem Verlauf deutlich einer "nach oben", das heißt zu höheren Schallpegeln verschobenen Hörkurve.
Das Geruchsexperiment ergab keinen Hinweis darauf, dass die Waldmaus einen Musteliden, bzw. das von ihm ausgehende Prädationsrisiko, olfaktorisch detektieren kann.
Die Ergebnisse der vorliegenden Studie zeigen, dass die Umweltbedingungen großstädtischer Gleistrassen im Bereich eines stark frequentierten Hauptbahnhofs offenbar problemlos von der weiten ökologischen Amplitude der Waldmaus abgedeckt werden.

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