Zukunftsvorstellungen im Mittelalter *

von Dieter Geuenich


 
* Antrittsvorlesung an der Universität - GH - Duisburg am 30. Mai 1989, mit Fußnoten gedruckt erschienen als Heft 4 der Veröffentlichungen des Fachbereichs 1: Philosophie- Religionswissenschaften - Gesellschaftswissenschaften der Universität - GH - Duisburg

Wenn wir Heutige uns mit den Gedanken der Menschen längst vergangener Zeiten, soweit sie uns schriftlich überliefert sind, beschäftigen, stellen wir oft erstaunliche Übereinstimmungen fest. Diese Beobachtung dürfte auch einer der Gründe dafür sein, daß geschichtliche Rückblicke zunehmend populärer werden und historische Ausstellungen große Menschenmengen anlocken. Für unser Thema - dies sei vorweg bemerkt - gilt dies jedoch nicht. Das mittelalterliche Denken über das Kommende hat mit den heutigen Vorstellungen von der Zukunft, mit unserer Fortschrittsgläubigkeit im Bereich der Technik, der Medizin, ja der menschlichen Erkenntnis überhaupt, nichts gemeinsam. Hinzu kommt, daß unsere Gegenwart nicht im geringsten den Zukunftsvorstellungen des Mittelalters entspricht. Dennoch erscheint es nicht überflüssig, sich mit den mittelalterlichen Vorstellungen von der Zukunft zu beschäftigen; es sei denn, wir wollten uns Heutige so wichtig nehmen, daß wir nur die Linien in der geschichtlichen Entwicklung verfolgen wollen, die geradlinig zu uns führen. Die Geschichtlichkeit des Menschen sollte jedoch umfassender betrachtet werden als ausschließlich aus der gegenwärtigen Sicht.

Das Wissen, das allen Menschen gemeinsam ist und das im Grunde den Menschen ausmacht, ist sein Wissen vom Tod, der jedes irdische Leben irgendwann beendet. Dieses Ende, der Tod, ist die Zukunft jedes Menschen; der Tod ist also das, was auf jeden Menschen unaufhaltsam "zu-kommt", ist seine Zukunft schlechthin. Weil aber das Ende nicht ein der Gegenwart äußerlicher Modus ist, sondern seine eigenste Qualität, "bekommt die Gegenwart vom Ende der Zukunft her den Charakter der Bedeutsamkeit". Dies gilt sowohl für die Gegenwart des individuellen menschlichen Lebens als auch für die der Menschheit insgesamt. Insofern müssen wir im folgenden unterscheiden zwischen den Vorstellungen, die im Mittelalter hinsichtlich der Zukunft des Einzelnen bestanden, und denen, die sich auf die Zukunft der mittelalterlichen Gesellschaft richteten, wenn auch beide Vorstellungen eng miteinder verbunden sind.

Versuchen wir zunächst, die Vorstellung des mittelalterlichen Menschen von seiner eigenen "Zu-kunft" zu ergründen, von dem also, was mit und nach dem biologischen Ende auf ihn "zu-kommt". Daß für den gläubigen Christen - und der mittelalterliche Mensch war in aller Regel ein gläubiger Christ - das Leben nicht mit dem Tode endet, ist bekannt. So bedeutet für die christliche Theologie bis heute die Unsterblichkeit der Seele "gerade nicht eine schlechthin geschichtsverneinende Jenseitigkeit, besagt nicht eine ins Unendliche weiterlaufende Zeit, die die Geschichte des irdischen Daseins einfach hinter sich läßt, sondern gerade die in der irdisch-leibhaftigen Geschichte des Menschen selbst präsentisch angebahnte und ... vollzogene überzeitliche Endgültigkeit unseres irdisch-zeitlichen Daseins". Entsprechend bedeutet der biologische Tod im Mittelalter nicht, wie man meinen könnte, den Anfang eines neuen und völlig anderen Lebens. Das Leben nach dem Tode wird vielmehr tatsächlich, wie zahlreiche Texte mittelalterlicher Autoren erkennen lassen, als eine Fortsetzung der im Diesseits begonnenen Existenz verstanden. Diese Auffassung läßt den Tod im Gegensatz zur heute verbreiteten Vorstellung nicht als alles beendende oder zumindest alles verändernde Zäsur erscheinen, sondern als ein Tor, das in beide Richtungen innerhalb gewisser Grenzen durchlässig bleibt.

So galt ein Verstorbener nach seinem Tod auch nicht als in unendliche Ferne entrückt, sondern weiterhin als Mitglied der Gemeinschaft, der er zeitlebens angehört hatte. Otto Gerhard Oexle hat nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht, daß die Toten im Mittelalter Personen im rechtlichen Sinne blieben, während nach heutiger Auffassung die Rechtsfähigkeit des Menschen bekanntlich mit dem Tode erlischt. Als Rechtssubjekte sind die Verstorbenen nach Auffassung des Mittelalters nach wie vor Subjekte von Beziehungen der menschlichen Gesellschaft: Sie bleiben unter den Lebenden gegenwärtig. Allerdings ist ihre Vergegenwärtigung auf die Hilfe der Lebenden angewiesen; die sozialen Bindungen, die im Leben bestanden, müssen sozusagen über den Tod hinaus gerettet und aktiviert werden. Denn die Toten bedürfen der Memoria, des erinnernden Gedenkens durch die Lebenden, um nicht ewiger Vergessenheit und Verdammnis anheimzufallen. Dies macht als ein

Zeugnis von vielen die Lebensbeschreibung des Bischofs Benno von Osnabrück deutlich. Die Vita Bennonis wurde um 1090, also kurz nach dem Tode des 1088 verstorbenen Bischofs, vermutlich von Norbert, dem Abt des Klosters Iburg, verfaßt, in dem Benno seine letzten Lebensjahre verbracht hatte.

"Mir geht es vor allem um eines", schreibt der Verfasser, "daß unserem Gründer und dem Erbauer unseres Klosters hier an diesem Ort unablässig durch Gebet geholfen werde; er soll sich nicht vor Gott beklagen müssen, daß ihm erhoffte Hilfe von uns verweigert werde. Oft nämlich, wenn er in vertrauter Unterhaltung mit uns zusammen war, pflegte er scherzend zu bemerken: er dürfe doch nach seinem Tod von unseren Gaben, die wir ihm schuldig seien, jeden Tag eine kleine Mahlzeit erwarten, so nämlich, daß seine Seele durch Gebet genährt werde. Denn, behindert durch zahllose weltliche Angelegenheiten in dieser höchst unruhigen Zeit, hoffte er, daß, was er selbst im Dienst vor Gott zuwenig tat, an seiner Stelle von der hier versammelten Gemeinschaft in Billigkeit wiedergutgemacht würde. Daher mögen alle", so beschließt der Verfasser die Vorrede zur Vita, "die Barmherzigkeit Gottes für das Heil des Bischofs bestürmen, je mehr sie erkennen, welche Hilfe und welchen Nutzen sie im Materiellen wie im Spirituellen an diesem Ort genießen, an dem sie durch des Gründers Tatkraft und Umsicht leben können."

Der Grundgedanke der über den Tod hinausreichenden Gemeinschaft ist der Glaube an die Möglichkeit der Hilfe vom Diesseits ins Jenseits, die durch Gebetsleistungen und Meßopfer gewährt werden kann und derer die Verstorbenen bedürfen. Denn wie der zitierte Text aus der Vita des Bischofs Benno von Osnabrück deutlich macht, können die Toten die Versäumnisse und Verfehlungen ihrer Erdentage selbst nicht mehr ausgleichen. Sie sind auf die Gebetshilfe der Lebenden angewiesen und erhoffen diese natürlich in erster Linie von denen, die ihnen zeitlebens besonders verbunden waren. Für den Gründer und Stifter des Klosters Iburg waren dies die Mitbrüder der Mönchsgemeinschaft. Die Gemeinschaft der Lebenden und Verstorbenen war jedoch, wie Karl Schmid an vielen Beispielen aufgezeigt hat, ein wesentliches Element jeder sozialen Gruppierung des Mittelalters, sei sie nun verwandtschaftlich "geworden" oder durch freien Entschluß entstanden. Ja, man kann sogar sagen, daß das Gedenken der lebenden an die verstorbenen Angehörigen einer Familie, Sippe oder Dynastie, der lebenden Mitglieder einer monastischen oder geistlichen Gemeinschaft an ihre verstorbenen Brüder und Schwestern, der lebenden Zunft- oder Gildemitglieder an ihre verstorbenen Genossen geradezu konstitutiv war für die jeweiligen Verbände und Gruppen. Das Totengedenken war eine "elementare Form, in der sich die Selbstvergewisserung einer sozialen Gruppe vollz(og)". Denn die Kommemoration der Toten machte die Dauer dieser Gruppe in der Zeit offenkundig und sichtbar und wurde so zum Ursprung für das Wissen von der eigenen Geschichte.

Deshalb war die Memoria insbesondere für die Königsdynastien und Adelsgeschlechter des Mittelalters ein konstitutives Element. "Der Begriff des 'Geschlechts' ist geradezu so definiert, daß es durch das Wissen der Bindungen zwischen Lebenden und Toten entsteht". Aber auch die Angehörigen der anderen sozialen Schichten, seien es nun Bauern, Gewerbetreibende oder Handwerker, bemühten sich innerhalb ihrer verwandtschaftlichen Bindungen, ihrer Bezüge zu kirchlichen oder klösterlichen Institutionen oder innerhalb freier Einungen wie Gilden und Zünfte um das Totengedenken. Davon zeugen nicht nur die aus dem Mittelalter überkommenen Verbrüderungsbücher, Necrologien, Jahrzeitbücher und Gebetsbünde, sondern auch historiographische Aufzeichnungen, Schenkungsurkunden, literarische Texte und auch Sach- und Bildzeugnisse.

Die Vergegenwärtigung der Toten durch die Memoria der Lebenden und die Gebetshilfe, derer die Verstorbenen bedürfen, um die Reise ihrer gefährdeten Seelen zu befördern und deren Läuterung zu beschleunigen, zeigen nur einen Aspekt der über den Tod hinausweisenden Bezüge auf. Weiterhin wird besonders begnadeten oder auch besonders gefährdeten Personen in Visionen Einblick in das Leben nach dem Tode gewährt. Vor allem aber beeinflussen die Heiligen und die Reliquien der Heiligen das Geschehen im Diesseits. So war der Totenkult des Mittelalters eng mit dem Heiligenkult verbunden, und beide Phänomene sind wohl nur in ihrem Zusammenhang zu verstehen. Die Heiligen waren nach mittelalterlicher Auffassung ebenfalls "Rechtssubjekte mit Rechtsfähigkeit und Handlungsfähigkeit". Sie galten als die eigentlichen Adressaten von Schenkungen an Kirchen und Klöster, und die dort jeweils verehrten Kloster- und Kirchenheiligen wurden als die wirklichen Eigentümer des Besitzes angesehen, einschließlich der Hörigen, die etwa homines Sancti Galli, also "Eigenleute des heiligen Gallus", hießen.

Doch zurück zur Zukunftsvorstellung des mittelalterlichen Menschen, die, wie wir festhalten können, den Tod und die Existenz nach dem Tode mit einbezog, ja sich auf diese konzentrierte. Insofern war ein rascher, unvorbereitet - weil unvermittelt - eintretender Tod, wie er heute meist gewünscht und als glücklicher Tod bezeichnet wird, für den mittelalterlichen Menschen schrecklich. Das Leben war auf den Tod ausgerichtet, bezog den Tod mit ein, zumal, wie gesagt, schon das diesseitige Leben als Gemeinschaft von Lebenden und Verstorbenen verstanden wurde. Den Kontrast zu unserer Gegenwart, die den Tod allenthalben zu verdrängen sucht, verdeutlicht Arno Borst, wenn er darauf hinweist, daß "keine Klasse der heutigen Gesellschaft" so rücksichtslos unterdrückt werde wie die Toten. Nach Carl Friedrich von Weizsäcker ist "wahrscheinlich keine Menschheit je dem Tode gegenüber so ratlos gewesen wie die heutige".

Vom Schicksal, das die Seele des Menschen nach dem Tod erleidet, handelt auch das sogenannte 'Muspilli', ein althochdeutsches Gedicht des ausgehenden 9. Jahrhunderts, das in einer König Ludwig dem Deutschen gewidmeten Regensburger Handschrift überliefert ist. Der Form nach noch durch germanischen Stabreim, aber teilweise auch schon durch Endreim verbunden, vermag uns dieses Gedicht von den Zukunftserwartungen des Einzelnen zur Vorstellung von der Zukunft der mittelalterlichen Gesellschaft überzuleiten.

... sin tac piqueme, daz er touuan scal,

beginnt das Gedicht in der einzigen fragmentarisch erhaltenen Überlieferung:

"... es kommt sein Tag, da der Mensch sterben muß. Wenn sich dann die Seele auf den Weg macht und sie die Leibeshülle zurückläßt,"

so fährt der Text fort, dann entbrennt ein Kampf um die Seele zwischen den himmlischen Heerscharen und dem Gefolge des Satans.

Von den Interpreten dieses in mehrfacher Hinsicht problembeladenen Gedichts ist bis heute immer wieder die Vermutung geäußert worden, es handle sich um mindestens zwei ursprünglich voneinander unabhängige Texte, die in der einzig überkommenen Abschrift ineinandergeschoben worden seien. Denn einerseits sei vom Tod des Einzelnen und vom Schicksal seiner Seele die Rede, andererseits vom Jüngsten Gericht und dem eschatologischen Kampf des Antichrist mit dem Propheten Elias, dessen Blut auf die Erde tropft und dadurch den Weltbrand und damit den Weltuntergang verursacht. Im Gedicht zeige sich, so meint etwa Walter Haug, "ein verwirrender Wechsel der Aspekte", "ohne daß die verschiedenen Zeitebenen klar voneinander abgehoben würden". Man hat jedoch vielleicht zu wenig beachtet, daß zwischen dem Tod des Einzelnen, dessen Seele sich daraufhin auf den Weg macht, und dem Jüngsten Gericht von einer Zwischenzeit die Rede ist, in der die Seele umkämpft ist:

sorgen mac diu sela, unzi diu suona arget, za uuederemo herie si gihalot uuerde. (Vers 6/7) "In Sorge muß die Seele ausharren, bis die Entscheidung fällt, welcher der beiden Scharen sie zufällt."

In dieser Zwischenzeit zwischen dem Tod des Einzelnen und dem allgemeinen Weltende und Jüngsten Gericht aber ist nach dem oben Gesagten noch Gebetshilfe durch die Lebenden möglich. Deshalb ist im Gedicht auch mehrfach von "Hilfe" und "helfen", aber auch von "Almosen" und "Fasten" die Rede. Erst am Tage des Jüngsten Gerichts ist es dazu zu spät:

dar nimac denne mak andremo helfan uora demo muspille.(Vers 57) "Vor dem muspilli (=Jüngstes Gericht?) kann kein Verwandter dem andern (mehr) helfen."

Auf die zuvor noch zu nutzende Zeit ist der Blick gerichtet, wenn es heißt:

daz ist rehto paluuic dink, daz der man haret ze gote enti imo hilfa niquimit. uuanit sih kinada diu uuenaga sela: niist in kihuctin himiliskin gote, uuanta hiar in uuerolti after niuuerkota. (Vers 26-30) "das ist fürwahr ein böses Schicksal, wenn der Mensch zu Gott schreit und keine Hilfe bekommt. Die unglückliche Seele erhofft sich Gnade. Doch sie ist dem himmlischen Gott nicht im liebenden Gedenken, weil sie zeitlebens nicht darauf hingewirkt hat".

An dieser Stelle des althochdeutschen Gedichts, das oft in unterschiedlicher Weise interpretiert und, wie es scheint, noch öfter mißverstanden worden ist, wird in aller Deutlichkeit der Gedanke zum Ausdruck gebracht, daß der Mensch zeitlebens darauf hinwirken muß, daß er nach dem Tode bei Gott in kihuctin (in seiner Erinnerung) bleibt: Er muß für seine Memoria sorgen, damit die Lebenden ihn durch Gebete, Messen und Psalter, vor allem aber durch die Aufrufung seines Namens in der Liturgie des Meßopfers oder des monastischen Stundengebetes in Erinnerung rufen. Ausdrücklich wird an anderer Stelle des Gedichts auch auf die Möglichkeit hingewiesen, das Schuldkonto einerseits durch Fasten, andererseits aber auch durch Armenspeisungen (alamuosa) auszugleichen. Denn selbst verborgene Taten des Menschen werden vor dem göttlichen Gericht offenbar,

uzzan er iz mit alamusanu furiuiegi enti mit fastun dio uirina kipuazti. (Vers 97/98) "es sei denn, er hat sie mit Armenspeisungen30 ausgeglichen und seine Verbrechen mit Fasten gebüßt".

Diese Vorsorge für die Zukunft der Seele ist als die maßgebliche Triebkraft für die donationes pro anima anzusehen, die Schenkungen an Kirchen und Klöster zum Seelenheil (pro remedio animae), wie sie für das Mittelalter in unübersehbarer Fülle durch Urkunden bezeugt sind. Die Angst um das zukünftige Schicksal der Seele ist auch der Grund für die unzähligen Nameneintragungen in den Libri vitae, den Gedenk- und Verbrüderungsbüchern, in den Jahrzeitbüchern und in den Necrologien der Mönchsgemeinschaften, die als die zuverlässigsten Garanten des Gebetsgedenkens nach dem Tode galten. Daß diese Zukunftsvorsorge des Einzelnen durch die damit verbundenen Stiftungen zugleich eine gewisse Sozialfürsorge der Klöster für die Armen und Kranken der mittelalterlichen Gesellschaft ermöglichte, indem die Schenkungen mit Armenspeisungen verbunden wurden, kann in unserem Zusammenhang nur angedeutet werden. Von seiten der Rechtshistoriker ist darauf aufmerksam gemacht worden, daß diese Schenkungen für das Seelenheil im Gegensatz zum germanischen Erbrecht der Verwandten standen, da dadurch die traditionellen Vorstellungen von der Hausgemeinschaft ignoriert, ja in Frage gestellt und umgestürzt wurden. Bedenkt man nämlich, daß die existentielle Zukunftssicherung der Familien, Sippen und Geschlechter zugunsten der Vorsorge für das jenseitige Seelenheil preisgegeben wurde, so kann man schon von einem revolutionären Umbruch im Denken an die Zukunft sprechen. Vor diesem Hintergrund erscheint es unverständlich, wie etwa Arno Borst zu dem Schluß gelangen kann, in der Zeit vor dem 15. Jahrhundert habe man wenig danach gefragt, wie es der Seele des einzelnen Toten drüben im Jenseits ergehen werde. Nicht nur die Schenkungsurkunden, Gedenkbücher und Necrologien sprechen dagegen, sondern auch die literarischen Zeugnisse: das erwähnte Muspilli aus der Karolingerzeit; das alemannische Memento Mori aus der Salierzeit; aus der Stauferzeit die persönlichen Bitten eines Hartmann von Aue zu Beginn des Armen Heinrich oder des Pfaffen Konrad am Ende des Rolandsliedes um die Fürbitte des Lesers nach dem Tod des Dichters; um 1300 ähnliche Ermahnungen des Hugo von Trimberg an seine Leser und dergleichen mehr. Alle diese Autoren bitten inständig um Gedenken im Gebet, ebenso wie in der mittelalterlichen Visionsliteratur von Walahfrid Strabos Aufzeichnung der Visio Wettini bis zu Dantes Göttlicher Kommödie die Verstorbenen ihre Memoria von den noch Lebenden nachdrücklich erflehen.

Ähnlich wie die Zukunftserwartung des Einzelnen war auch die Zukunftsvorstellung der mittelalterlichen Gesellschaft auf das nahende Ende ausgerichtet. Denn daß ebenso wie für den Einzelnen sein individueller Tod, so auch für die ganze Gesellschaft das Ende aller Zeiten unmittelbar bevorstand, darin stimmen die im einzelnen durchaus unterschiedlichen Geschichtsbilder überein, die in den Chroniken und Geschichtswerken des Regino von Prüm, Rodulfus Glaber, Frutolf von Michelsberg, Hugo von St. Victor, Otto von Freising und vieler anderer bis hin zur apokalyptischen Geschichtstheologie des Joachim von Fiore verkündet wurden.

Gemeinsam war einerseits der Glaube an eine lineare Entwicklung der Menschheit, von der Erschaffung der Welt bis zum Weltuntergang und Jüngsten Gericht, und andererseits die damit verbundene Vorstellung einer von Gott gelenkten Heilsgeschichte, die vom Anfang an zielgerichtet auf das Ende zuläuft. Insofern leuchtet es unmittelbar ein, warum der mittelalterliche Geschichtsschreiber nicht wie der moderne Mensch danach trachtet, die Zukunft zu ergründen - denn diese war im heilsgeschichtlichen Rahmen vorgegeben -, sondern daß es ihm vornehmlich darauf ankommen mußte, die eigene Gegenwart in diesem vorgegebenen Rahmen zu bestimmen, anhand der präsentischen Ereignisse also festzustellen, wo diese im Verlauf der evolutionären Heilsgeschichte einzuordnen sind. Denn in einem derart gedachten Geschichtsbild kommt der "Fixierung des Standortes der jeweiligen Gegenwart in der als Einheit gedachten Universalgeschichte" zentrale Bedeutung zu, da sich von diesem Standort aus erst Vergangenheit und Zukunft zuverlässig erschließen lassen.

Nur so ist es zu erklären, warum oftmals sogar die Verfasser von Klosterchroniken ihre Berichte mit der Geburt Christi beginnen lassen: Auf diese Weise wird das Schicksal der betreffenden Klostergemeinschaft ganz bewußt in den Zusammenhang der Heilsgeschichte gestellt und in diese eingeordnet. In welchem Stadium der von Gott gelenkten Heilsgeschichte sich die mittelalterliche Gesellschaft befand, darüber waren sich sämtliche Geschichtsschreiber, -philosophen und -theologen durchweg einig: im letzten! Allerdings gab es durchaus unterschiedliche Gliederungsprinzipien für den Zeitraum, den die Menschheit von der Schöpfung der Welt bis zu ihrem Ende zu durchlaufen hat.

Die Bezeichnung "Mittel"-Alter (medium aevum) ist bekanntlich erst in der Neuzeit aufgekommen: Das Mittelalter selbst hat sich nie als ein solches empfunden, sondern, wie gesagt, als Endzeit, und zwar unabhängig davon, ob man die durch Weltschöpfung und Weltende begrenzte Zeit nach der Abfolge der vier Weltreiche einteilte, ob man von einer erweiterten Gliederung in fünf, sechs oder sieben Weltalter ausging oder die Geschichte in drei Stadien unterteilte. Allen diesen Schemata, die übrigens auch kombiniert und nebeneinander bei ein und demselben Autor vorkommen können, ist es gemeinsam, daß sie nicht etwa empirisch dem tatsächlichen Geschichtsverlauf entnommen, aus diesem abgelesen wurden, sondern aufgrund einer zahlensymbolischen Bibelexegese ermittelt und dann auf die Geschichte angewendet, dieser gewissermaßen "übergestülpt" wurden.

Das im Mittelalter weit verbreitete Gliederungsschema der vier Weltreiche ist in der Auslegung des Propheten Daniel begründet, der einen Traum Nebukadnezars auslegte und deutete. Der König, so heißt es im zweiten Buch des Propheten, hatte im Traum ein gewaltiges Standbild gesehen: das Haupt aus Gold, Brust und Arme aus Silber, Bauch und Lenden aus Erz, die Füße aus Eisen und Ton gemischt. Die Füße wurden sodann durch einen Stein zerschmettert, von dem es heißt, er habe sich "ohne Zutun von Menschenhand" (2,34) losgelöst. Da wurden miteinander zermalmt das Eisen, der Ton, das Erz, das Silber und das Gold und wie Spreu vom Winde verweht. "Der Stein aber, der die Bildsäule getroffen hatte, ward zu einem großen Berge und erfüllte die ganze Erde" (2,35). Daniel deutete auf Verlangen des Königs dessen Traum: Die vier Elemente stehen für die vier Reiche, deren eines immer geringer ist als das vorangehende. Nach der jüdisch-christlichen Lehre von der Translatio imperii wurden diese Reiche als die von Babylonien-Assyrien, Medien-Persien, Griechenland-Makedonien und Rom interpretiert, die alle vier zu ihrer Zeit das Volk Gottes und seine Religion bekämpft hatten.

Die Kolossalstatue ist ein orientalisches Königssymbol und gilt allgemein als Ausdruck des Herrscherkultes. In ihr sahen die christlichen Exegeten seit Hippolyt die Präfiguration des Antichrist oder mit Tyconius des Corpus diaboli. Der Stein aber, der die Statue zertrümmert, wurde als Symbol für den rächenden Messias interpretiert, dessen Reich, das Gottesreich, alles umspannend und endgültig ist. In ihm ist der Gedanke der Translatio imperii zum Abschluß gekommen. Es ist nach Daniel (2,44) "ein Reich, das in Ewigkeit nicht zugrunde geht. Dieses Reich wird keinem anderen Volk überlassen. Es zermalmt und beseitigt all jene Reiche, selbst aber steht es in Ewigkeit fest".

Dieses vor allem durch den Daniel-Kommentar des Hieronymus dem Mittelalter nahegebrachte Einteilungsprinzip der vier Weltreiche bedeutete, daß das römische Reich als die vierte und letzte Entwicklungsstufe in der Gegenwart andauern und bis an das Ende der Welt bestehen bleiben werde. Eine solche Sicht war erst seit Konstantin dem Großen möglich, in dessen Person sich das Römische mit dem Christlichen verbunden hatte. Von diesem Zeitpunkt an konnten die Begriffe des Imperium Romanum und des Imperium Christianum gleichgesetzt und die Idee der Roma aeterna gewissermaßen christianisiert werden.

Gegen eine solche Sicht war aber schon Augustinus angegangen, indem er in seiner Schrift von der Civitas dei betonte, daß ein Untergang Roms nicht das Ende der Welt bedeuten könne. Entsprechend wurde die Prophezeiung Daniels dahingehend umgedeutet, daß Christus mit seiner Menschwerdung bereits das römische Reich verdrängt und seine Herrschaft durch die Kirche angetreten habe. Solche auf die Autorität des Augustinus gestützten Vorstellungen, wie wir sie etwa in der Karolingerzeit bei Regino von Prüm finden, relativierten die Bedeutung des Römerreiches und betonten zugleich die Eigenständigkeit der mittelalterlichen Gegenwart. Augustinus war es auch, der allen Versuchen, die Zeit bis zur Wiederkehr Christi durch Bibelexegese zu berechnen, entgegengetreten war: Der Mensch solle nach Gottes Ratschluß gar nicht wissen, wie lange das letzte Zeitalter dauern werde. Er müsse vielmehr seine ihm bemessene Lebenszeit so nutzen, als stünden Weltende und Jüngstes Gericht unmittelbar bevor.

Wenn auch der Einfluß des augustinischen Gedankenguts auf das Mittelalter kaum überschätzt werden kann, so sind doch immer wieder Versuche unternommen worden, die biblischen Texte, vor allem Daniels und der Apokalypse, nach Hinweisen und Andeutungen zu durchforschen und in der erlebten Gegenwart nach Entsprechungen zu suchen, die eine Berechnung des Weltenendes auf Jahr und Tag erlaubten. Derlei Bemühungen, wie sie sich bei zahlreichen Autoren und in jedem mittelalterlichen Jahrhundert finden lassen, machen den nachhaltigen und prägenden Einfluß der konkreten Endzeiterwartung auf die Geschichtsbetrachtung und auf das gesamte Kulturbewußtsein des Mittelalters deutlich. Es sind keineswegs nur die ungezügelten Phantasien schwärmerischer Geister und momentane Krisenstimmungen im Zusammenhang bedrückender Katastrophen, die eschatologisches Gedankengut hervorbrachten; die Vorstellung vom bevorstehenden Ende der Zeiten war vielmehr allgemeine religiöse Überzeugung und immer gegenwärtig, wenn sie auch unterschiedlich stark wirksam wurde. Herbert Grundmann hat nachdrücklich darauf hingewiesen, daß "nicht nur die großen religiösen und kirchlichen Leistungen, wie die mönchische und kirchliche Reformbewegung oder die Kreuzzüge, sondern auch die politischen Taten und vor allem die Geschichte des deutschen Kaisertums von Otto I. bis zu Friedrich II. ... im Zeichen dieses Endzeitbewußtseins geschehen und von ihm begleitet worden" sind.

Das auf die Auslegung des Propheten Daniel zurückgehende Gliederungsprinzip der vier Weltreiche war aber, wie schon angedeutet, nicht das einzige Gliederungsprinzip, das durch Exegese der Bibel gewonnen und auf die Universalgeschichte angewendet wurde. Ebenso bedeutsam ist für das Mittelalter die Lehre von den sechs Weltaltern geworden, die meist aus den Chroniken des spanischen Bischofs Isidor von Sevilla und des angelsächsischen Geschichtsschreibers Beda Venerabilis übernommen wurde, aber ebenfalls bereits bei Augustinus ausgeprägt ist. Biblische Grundlage war der Schöpfungsbericht, nach dem Gott die Welt in sechs Tagen schuf und am siebenten ruhte. Der Ablauf der Menschheitsgeschichte ist demnach in den sechs beziehungsweise sieben Schöpfungstagen Gottes präfiguriert: Prima aetas est ab Adam usque ad Noe ..., schreibt Isidor in seinen Etymologien : Das erst Weltalter erstreckte sich von Adam bis zu Noah, das zweite bis Abraham, das dritte bis David, das vierte bis zur Babylonischen Gefangenschaft, das fünfte bis zur Geburt Christi. Das sechste Weltalter, dem sechsten Schöpfungstag entsprechend, an dem Gott den Menschen als sein Ebenbild schuf, dient der Wiederherstellung dieser durch den Sündenfall verlorengegangenen Gottebenbildlichkeit. Mit dieser sechsten Stufe, die durch die Menschwerdung und Erlösungstat Christi begonnen hat, ist der Entwicklungsprozeß der Menschheit beendet; abgeschlossen wird er durch die Wiederkunft Christi und das Jüngste Gericht. Dann bricht das siebte Weltalter an, und Gott wird mit den Heiligen ruhen, so wie er einst am siebten Schöpfungstag ruhte. Ein Ende dieses siebten Weltalters gibt es nicht, es wird ewig währen.

Die alles entscheidende Frage, wann denn das als gegenwärtig vorgestellte sechste Weltalter ende und mit dem Jüngsten Gericht das siebte, die ewige Sabbatruhe, beginne, beantworten Augustinus und Isidor übereinstimmend mit dem Hinweis auf das Herrenwort, nach dem nicht einmal die Engel, sondern nur der Vater allein den Tag und die Stunde kenne. Damit wurde den Anhängern des Chiliasmus eine Absage erteilt, die glaubten, die Weltenwoche berechnen und jedem Schöpfungstag - gemäß Kapitel 20 der Apokalypse - ein Weltalter von tausend Jahren zuordnen zu können. Daß diese Lehre gleichwohl im Mittelalter immer wieder propagiert wurde, zeigt etwa der Sachsenspiegel des Eike von Repgow, in dem es heißt, daz secs werilde solden wesen, die werilt bî dûsent jâren op genommen, unde in me sevenden solde siu zugân.

Verfestigt wurde das Schema von den sechs Weltaltern noch durch die Parallele, die Augustinus im Ablauf des menschlichen Lebens erblickte. Sechs Lebensabschnitte durchläuft nämlich auch der Mensch: infantia, pueritia, adolescentia, iuventus, gravitas und senectus - vom Säuglingsalter bis zum Greisenalter, dem gegenwärtigen letzten Weltalter, kennt also auch das Leben des einzelnen Menschen sechs aetates. Es hat im Mittelalter nicht an Stimmen gefehlt, die das siebte, dem Sabbat entsprechende Weltalter bereits auf Erden erwarteten und an ein irdisches Gottesreich nach erfolgtem Weltgericht glaubten. Diese Auffassung hat jedoch nicht, wie man vorschnell glauben könnte, ihre Grundlage in der Lehre des Augustinus vom Gottesstaat, von der der civitas dei, deren Wirken in der Tat schon in dieser Welt begonnen hat. Denn es gibt bei Augustinus ja nicht nur das Gottesvolk, sondern daneben zugleich die civitas terrena oder civitas diaboli, die irdisch und verworfen ist, der civitas dei aber dienstbar und nützlich sein kann.

Die Chronik des staufischen Geschichtsschreibers Otto von Freising gilt als "Höhepunkt der hochmittelalterlichen Weltchronistik". Darüberhinaus war Otto aber zugleich der beste Interpret der Ideen des Augustinus, der erste, der ihm wirklich gerecht wurde. Das macht schon der Titel seiner Chronik deutlich, der Historia de duabus civitatibus lautet: "Geschichte von den beiden Staaten". Ausdrücklich hat Otto auf das dualistische Prinzip der augustinischen Lehre Bezug genommen und versucht, die Geschichte aus der Polarität der beiden civitates zu erklären. Er sah die Welt beherrscht vom uralten Dualismus zwischen Gut und Böse, Gott und Teufel, Christ und Antichrist, Engel und Dämonen, Heiligen und Verfluchten, Himmel und Hölle, Jerusalem und Babylon usw.. Zugleich machte er sich die Einteilung nach den vier Weltreichen zu eigen, deren Abfolge ihm durch das Gesetz der Kulturwanderung von Ost nach West bestimmt erschien.

Aber nicht nur die Lehre von den zwei Staaten und die von den vier Weltreichen ist in Ottos Geschichtsbild integriert, sondern auch die von den sechs beziehungsweise sieben aetates, wie schon die Einteilung seiner Weltchronik in sieben beziehungsweise acht Bücher erkennen läßt. Allerdings endet das sechste Buch mit dem Tod Papst Gregors VII., dessen Bannstrahl gegen König Heinrich IV. die Einheit der Kirche zerbrochen hat. Im siebten Buch, in dem Otto die Gegenwart des vom Tode gekennzeichneten römischen Reiches unter seinem Bruder Konrad III. beschreibt, erfährt die Idee von der civitas dei in den Mönchsorden ihre Erfüllung. Nur die Mönche bleiben von den jammervollen Wechselfällen der Weltgeschichte unberührt und genießen nach den sechs Tagen der Mühsal den siebten Tag, den wahren Sabbat, in Frieden als Vorgeschmack der ewigen Ruhe. Nach Otto von Freising, der bekanntlich selbst die Zisterzienserkutte trug, kommt den Mönchen die eschatologische Aufgabe zu, den endgültigen Untergang der Welt durch ihre Verdienste und Fürbitten noch aufzuhalten. Dabei kann es sich aber nur um ein "Aufhalten" handeln, denn die Anzeichen dafür, daß die dritte, die ewige Periode des Gottesstaates anbricht, sind für Otto unübersehbar.

Mit dem Hinweis auf die bevorstehende dritte Periode, die Otto im achten Buch vorausschauend beschreibt, wird vom selben Autor neben der dualistischen Zweistaatenlehre, der Vier-Weltreichslehre und der Sechs- beziehungsweise Sieben-Aetates-Lehre noch eine weitere vierte Lehre bemüht, nämlich das von Paulus aus der jüngeren Talmudüberlieferung übernommene Dreistadiengesetz der Weltgeschichte. Allen vier Deutungsmodellen, die Otto in seiner Weltchronik souverän handhabt und geschickt miteinander kombiniert, ist gemeinsam, daß sich die geschilderte Gegenwart im letzten Stadium unmittelbar vor dem Weltenende befindet. Joachim von Fiore, ein Zisterzienser wie Otto von Freising, aber kein Historiker wie dieser, sondern Verfechter einer apokalyptischen Geschichtstheologie, maß dem Mönchtum ebenfalls entscheidende Bedeutung für den letzten Akt des irdischen Geschehens zu. Die Lehre von den sieben Weltaltern deutete Joachim dahingehend um, daß er sowohl im Alten als auch im noch andauernden Neuen Testament sieben Zeitalter unterschied. Aus dem Prolog des Matthäus-Evangeliums ermittelte er die Anzahl von 42 Generationen für das Alte Testament. Da nach Joachim für die Zeit des Neuen Testaments von derselben Generationenzahl ausgegangen werden muß, eine Generation aber gemäß der Anzahl der Jahre Christi auf Erden dreißig Jahre beträgt, lassen sich exakt 1260 Jahre als Zeit für die Kirche des Neuen Testaments errechnen. Für den 1202 gestorbenen Joachim und die Anhänger seiner Lehre, die sich in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts vor allem unter den radikalen Franziskanern fanden, stand das Ende also unmittelbar bevor. Dabei handelte es sich allerdings nicht schon um das Ende aller Zeiten, sondern lediglich um das Ende des Alten und Neuen Testaments, denen nach joachitischer Lehre nicht schon das Jüngste Gericht, sondern ein drittes, irdisches, also historisches Zeitalter folgen werde. Neben der traditionellen Siebenweltalter-Lehre war für Joachim demnach eine trinitarische Zeiteinteilung maßgeblich, nach der die Geschichte in drei Abschnitten abläuft: "Auf drei Weltordnungen (status) weisen uns die Geheimnisse der Heiligen Schrift", schrieb Joachim, "auf die erste, in der wir unter dem Gesetz waren, auf die zweite, in der wir unter der Gnade sind, auf die dritte, welche wir schon aus der Nähe erwarten, in der wir unter einer reicheren Gnade sein werden, weil Gott, wie Johannes sagt, uns Gnade für Gnade gab, nämlich den Glauben für die Liebe und beide gleicherweise. Der erste status also steht in der Wissenschaft, der zweite in der teilweise vollendeten Weisheit, der dritte in der Fülle der Erkenntnis. Der erste in der Knechtschaft der Sklaven, der zweite in der Knechtschaft der Söhne, der dritte in der Freiheit. Der erste in der Furcht, der zweite im Glauben, der dritte in der Liebe.... Der erste status bezieht sich auf den Vater..., der zweite auf den Sohn..., der dritte auf den Heiligen Geist."

Joachims Geschichtsentwurf zeichnet sich gegenüber den der bisher genannten Autoren dadurch aus, daß sich die Zukunftserwartungen auf die diesseitige Geschichte richten und nicht in erster Linie auf das jenseitige Heil. In ähnlicher Weise hatte eine Generation zuvor auch Hildegard von Bingen schon das Anbrechen des siebten Schöpfungstages und damit des siebten Zeitalters verkündet. Nach Joachim von Fiore steht das Reich des Heiligen Geistes, das die Fülle der Erkenntnis bringt, unmittelbar bevor; es wird für alle Menschen geschichtliche Wirklichkeit werden! Das ist eine völlig andere Vorstellung als die der Mystik, die lehrte, daß der begnadete Einzelne mitunter für wenige Augenblicke zur Schau Gottes gelangen könne. Joachims Konkordanz zwischen dem Alten und dem Neuen Testament, die aufzeigt, daß jeder Person, jeder Gruppe und jedem Ereignis im Alten ein Antitypus im Neuen Testament entspricht, wird schließlich für eine typologische Geschichtserklärung in die Zukunft hinein fruchtbar gemacht. Denn so wie der zweite status des Neuen Testaments im ersten status des Alten Testaments typologisch vorausgedeutet ist, so enthält der zweite status bereits eine Zukunftsprognose für den dritten, für das in naher Zukunft hereinbrechende Geist-Reich, wenn auch die Vorausdeutungen im einzelnen natürlich recht vage bleiben.

Das Neuartige an Joachims Geschichtsentwurf ist zweifellos in der Voraussage eines harmonischen Friedensreiches auf Erden zu sehen. "Revolutionäre Sprengkraft" barg seine Geschichtstheologie durch den Hinweis auf die Vorläufigkeit der kirchlichen Institution, wie sich in der Folgezeit schon bald zeigte. Denn Joachim ging davon aus, daß die Kirche mit ihren Priestern und Sakramenten einer neuen ecclesia spiritualis, einer Kirche des Geistes, weichen müsse, in der die Menschheit in Liebe vereint unter der Führung kontemplativer Mönche wie in einer riesigen Klostergemeinschaft zusammenlebe bis zum Jüngsten Tag. Die positive Einschätzung des Mönchtums und die zentrale Bedeutung, die diesem im letzten Akt des irdischen Geschehens beigemessen wurde, waren Joachims Zukunftsvorstellung mit der Ottos von Freising gemeinsam, und sie entsprachen wohl auch dem Geist jener Zeit um 1200, die einen Dominikus und einen Franz von Assisi hervorbrachte.

Zu Recht hat die Forschung die Neuartigkeit und die Andersartigkeit der Ideen des Joachim von Fiore betont; aber auch er bleibt rückwärtsgewandt, wenn er die Vergangenheit des Alten Testaments und dann die des Neuen Testaments nach Vorausdeutungen der nahenden Zukunft absucht und befragt. Denn sein zukünftiges Reich des Friedens ist keine spekulative Utopie, sondern baut als dritter status auf dem ersten status des Vaters und dem zweiten des Sohnes auf. Und es ist bezeichnend, daß Joachims Geschichtsmodell wie das aller anderen mittelalterlichen Autoren aus der Bibelexegese erwachsen ist und aus ihr seine Berechtigung herleitet. Gerade diese Rückwärtsgewandtheit der Geschichtsschreiber - oder besser: Geschichtsdeuter - des Mittelalters ist charakteristisch für deren Zukunftsvorstellungen, so merkwürdig dies klingen mag: Aus der Vergangenheit holte man die Argumente und Kriterien zur Deutung der Gegenwart, und aus der Deutung vergangener Ereignisse der Heilsgeschichte wagte man mitunter auch Aussagen über die Zukunft, die - diese Gewißheit war allen Autoren gemeinsam - schon bald das bevorstehende Ende der Zeiten bringen würde.

Die mittelalterlichen Menschen haben, wie Jaques Le Goff es treffend formuliert hat, "beim Vorausschreiten das Gesicht nach rückwärts gewandt", denn "ihre Zukunft liegt hinter ihnen". Sie orientierten sich am Vergangenen, um dessen Vorausdeutung der Zukunft in ihrer Gegenwart aufzuspüren. Aber auch im profanen Bereich strebte man nach der Wiederherstellung vergangener, als vollkommen empfundener Zustände, so etwa nach einer "Wiedergeburt" der antiken Kultur in der karolingischen Renaissance, in der Proto-Renaissance des 12. Jahrhunderts und dann in der italienischen Renaissance. Erst recht wurde die Kirche von den "Re-Formern" immer wieder zur Umkehr, zur "Rück-Kehr" ermahnt: zurück zur vita apostolica, zurück zur ecclesia primitiva, zurück zu den Idealen des alten Mönchtums usw..

Der mittelalterliche Mensch fühlte sich dem Vergangenen verbunden, das es aufzugreifen galt; aber er fühlte sich dem Vergangenen gegenüber nicht klein und bedeutungslos, sondern er trachtete vielmehr danach, die Antike etwa durch das Christentum zu erhöhen und zu überhöhen. Alkuin wollte "ein neues Athen in Franken" schaffen, "sogar ein viel herrlicheres. Denn Franken, geadelt, weil es den Herrn Christus als Meister hat, übertrifft alle in der Akademie geübte Weisheit. Athen, bloß in den platonischen Lehren unterwiesen, glänzte in den sieben freien Künsten; Franken, darüber hinaus durch die siebenfache Fülle des Heiligen Geistes bereichert, überragt auch die würdigste Weisheit der Weltlichen". Bernhard von Chartres sah die Menschen seiner Zeit des 12. Jahrhunderts zwar als Zwerge den gigantischen Alten gegenüberstehen, bemerkte aber: "Wir sind auf den Schultern von Riesen hockende Zwerge. Wir sehen so mehr und weiter als sie, nicht weil unsere Sicht schärfer oder unser Wuchs höher ist, sondern weil sie uns in die Lüfte heben und um ihre ganze gigantische Größe erhöhen".

Unserer heutigen Gegenwart eignet ein völlig anderes Geschichtsbewußtsein: Ein stetiger und beständiger Fortschritt im Diesseits erscheint uns trotz gelegentlicher Rückschläge sicher. Nahezu täglich neue Erkenntnissee, beispielsweise in Medizin und Technik, in der Weltraumforschung oder in der Informatik, vermitteln diese Gewißheit, und wo sich der erwartete und von den Wissenschaftlern vorausgesagte Fortschritt noch nicht eingestellt hat, da glauben wir ihn mit um so größerer Sicherheit für morgen oder zumindest für übermorgen erwarten zu können. Fortgechritten glauben wir uns aber auch in den Bereichen der Sittlichkeit und der Geistigkeit, da wir uns von den dogmatischen Fesseln des "finsteren Mittelalters" gelöst und befreit haben. Jacob Burckhardt hat dem entgegengehalten, daß unsere Annahme, "im Zeitalter des sittlichen Fortschritts zu leben, höchst lächerlich" sei im Vergleich etwa mit den Zeiten, "deren freie Kraft idealen Willens in hundert hochtürmigen Kathedralen gen Himmel steigt". Denn: "Weder Seele noch Gehirn der Menschen haben in historischen Zeiten zugenommen, die Fähigkeiten jedenfalls waren längst komplett!" Und es gibt ernstzunehmende Stimmen, die bezweifeln, daß die Welt dadurch lebenswerter geworden sei, daß der Mensch sich selbst zur obersten Instanz erhoben hat, die alles zu zerstören und zu vernichten in der Lage ist. Schließen wir mit Jacob Burckhardt: "Freilich handelt es sich nicht darum, uns ins Mittelalter zurückzusehnen, sondern um das Verständnis. Unser Leben ist ein Geschäft, das damalige war ein Dasein".


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