5 Möglichkeiten und Grenzen sozialwissenschaftlicher Forschung im Kontext wirtschaftlich-technologischer Entwicklungen

Wenn bisher in der vorliegenden Arbeit die Verwertbarkeit interdisziplinär entwickelter Laschsysteme im Vordergrund zu stehen scheint, so ist aus kulturkritischer Sicht der Handlungsspielraum einer arbeitswissenschaftlichen Auseinandersetzung begrenzt erscheinen, weil die arbeitswissenschaftlichen Disziplinen Fragen des gesellschaftlichen Sinnzusammenhanges der je konkreten Arbeitstätigkeit systematisch ausblenden. Darin zeigt sich eine Wirkung jener fatalen Arbeitsteilung wissenschaftlicher Kompetenz - hier die „Schönheit“ intellektuellen Denkens und dort die bewußtlose Anwendung statistisch abgesicherten Wissens. Dabei richtet sich der kulturwissenschaftliche Blick - so theoretisch fundiert und historisch begründet er sein mag - eindeutig auf das Konkrete, die Wirklichkeit, die „Praxis“. Er beinhaltet die entscheidende Frage nach dem Verbleib des Menschen in der von ihm zugerichteten und ihn zurichtenden Welt und damit die Frage nach den verbliebenen Ausdrucks- und Gestaltungsmöglichkeiten des einzelnen.

Diese Frage wäre zu operationalisieren, damit die vorgelegten „harten empirischen Befunde“ der sozialwissenschaftlichen Gestaltungsbedingungen für den technischen und organisatorischen Entwicklungsprozess und deren Evaluation neben ihrem pragmatischen Gebrauchs- und Tauschwert eine sinnhafte Qualität gewinnen.

Die Bedeutungsinhalte solcher Begriffe wie Praxis und Theorie sind zu hinterfragen und legen nahe, nicht die angeblichen Tatsachen und Begriffstrennungen, sondern die die Tatsachen und Begriffstrennungen erst ermöglichende Wahrnehmung und ihre Mittel (Sprache, Logik, Mythos, wissenschaftliche Methode und die Struktur der Werkzeuge, Maschinen, Informationstechnologie) zu untersuchen.
Im erweiterten Untersuchungsgegenstand des VACU-Vorhabens, dem Containerumschlag, wird eine solche Wahrnehmungslogik in der Leitlinie technischer Innovationen deutlich: Es wird diejenige Entwicklung gefördert, die bestimmten, festgefügten Effizienzkriterien folgt. Als Beispiel kann die folgende Zusammenfassung von Kriterien für die Gestaltung von Containerterminals gelten (vgl. Kunzmann, M. 1988, S. 24 f.):

  • technische Realisierbarkeit
  • betriebliche Flexibilität
  • verkehrstechnische Kompatibilität
  • Automatisierbarkeit
  • Entkoppelung von Teilsystemen.

Das menschliche Element ist hier nur noch versteckt enthalten und hat sich diesen systeminternen Zielen zu fügen. Daß der Raum der Arbeit als ein Ort der Entfaltung schaffender und schöpferischer Talente gedacht werden kann, ist unter diesen Umständen ausgeschlossen und muß dem dort Beschäftigten, als Zielvorstellung vorgebracht, lächerlich vorkommen. Aus einem kulturwissenschaftlichen Verständnis heraus wäre die auf Effizienznormen beruhende technikpolitische Leitlinie als obsolet zu kennzeichnen.

Wenn man sich als Gestalter der technischen Umwelt begreift, wenn man weiterhin anerkennt, dass auch die „Gesetze“ des Marktes beeinflußbar und gestaltbar sind, dass wir also nicht lediglich die Erfüllungsgehilfen ökonomischer Macht- und Sachzwänge sind, dann eröffnet sich uns ein vom Kriterium der Persönlichkeitsförderlichkeit geleiteter Blick auf die Bedingungen der Produktion und Warendistribution.

Das Ziel würde dann darin bestehen, den Menschen als sich entwickelndes Subjekt der Arbeit einzusetzen und ihn nicht zum bloßen Gestaltungsobjekt komplexer Systeme werden zu lassen.

Funktional gesehen ist das VACU-Vorhaben ein dringend notwendiger Schritt zur Lösung verbliebener Probleme innerhalb eines durchrationalisierten Transportsystems; unzumutbare Arbeitsbedingungen werden modifiziert - allerdings mit der Zielperspektive, die betreffenden Arbeitsaufgaben schließlich ganz zu eliminieren, wie es sich in der Entwicklung des lukendeckellosen Containerschiffs ankündigt. Bezeichnenderweise wird der „Problembereich“ des Containerumschlags in der notwendigen menschengebundenen Restarbeit gesehen. Der Mensch erweist und empfindet sich erneut als fehlerhaftes Element, das zumindest in den Arbeitsprozessen nicht mehr entscheidend zur Optimierung beitragen kann.
Dies gilt zunächst für die Lascher, weitet sich aber konsequent auf alle am Umschlagsprozess Beteiligten aus. Denn der „wirtschaftliche Zwang“, dem sich niemand entziehen kann, „befiehlt“ eine Fortführung des Rationalisierungsprozesses, damit die Lohnkosten sinken und die Konkurrenzfähigkeit gesichert bleibt. Damit entfaltet das Rationalisierungsprinzip einen Absolutheitsanspruch, der keinen Betriebsbereich ausschließt.
Dabei geht es längst nicht mehr - wie noch in der tayloristischen Phase - darum, die Arbeitsschritte immer weiter zu zerlegen, Einzelabläufe zu isolieren und unabhängig voneinander zu optimieren. Rationalisierung ist vielmehr auf Verbundlösungen (Verkehr, EDV, Unternehmens-Konzentrationen) ausgerichtet und determiniert zunehmend auch Entscheidungen in sozialen und politischen Feldern. So sehen sich die Häfen gezwungen, den jeweils innovativsten Neuentwicklungen zu folgen und Fahrrinnen zu vertiefen, Verkehrsmöglichkeiten zu schaffen und den Investitionswünschen der Unternehmen entgegen zu kommen. Die dabei zugrunde gelegte Vernunftbestimmung gehorcht der Effizienzkategorie.

Durch die Einführung des Containers in den internationalen Warenverkehr wurden die Hafen- und Verkehrsstrukturen innerhalb kürzester Zeit vereinheitlicht, deshalb mußte auch das Arbeitsverhalten vereinheitlicht und kompatibel gemacht werden. Derselbe PC-Terminal, auf dem der Umschlagsverkehr organisiert wird, dient auch der möglichst störungsfreien Organisation des Arbeitseinsatzes. Die Logik dieser materiellen (Container) und symbolisch-digitalen (Computer) Vereinheitlichung weist strukturelle Ähnlichkeiten zu politischen Entwicklungen auf, so z.B. die Ersetzung regionaler und nationaler durch internationale Rechtsnormen und Entscheidungsinstanzen. Auch hier ist das Ziel eine Optimierung im Sinne einer Kontrolle, wobei Optimierungs- und Kontrollinstrumente neue komplexe Systeme erzeugen, die die tatsächliche Handlungsfreiheit im Sinne einer Wahl zwischen selbst bestimmten Alternativen unmöglich machen.

Diese Argumentation soll zunächst keine Bewertung beinhalten, aber die These eines Zusammenhangs - die Cassirersche „Totalität“ (vergl. Cassirer, E.,1975, S. 250) - beispielhaft belegen, werden auch die unvereinbaren Pole, die „Zerrissenheiten“. und Widersprüche deutlicher, die im Zuge der Rationalisierungsprozesse entstehen. So sind z.B. die Lascher von den Möglichkeiten des neuen Laschsystems sehr eingenommen. Eine Eingenommenheit, die mit jener Bewunderung, die allgemein für technische Neuerungen, für das selbsttätige Funktionieren von Apparaturen, Maschinen und ganzen technischen Systemen geäußert wird, vergleichbar ist. Auf der anderen Seite aber liegt die Enttäuschung, die eigenen, an Erfahrung und Bewährung gebundenen Handlungsspielräume zu verlieren. Je fehlerfreier das System arbeitet, um so sinnloser erscheint dem einzelnen seine Gegenwart innerhalb dieses Systems. Aber hier gibt es keine eindeutige Lösung: Der Lascher empfindet die Funktion der Laschlösung als solche, als sinnvoll, weil sie den „Betrieb“ (im doppelten Wortsinn) aufrecht erhält - von daher hält sich das subjektive Gefühl der eigenen Nutzlosigkeit in Grenzen. Und er hat gelernt, diesen „Betrieb“ in seiner materiellen Umwelt als Garantie seines Wohlstandes zu interpretieren.

Dieser Kontext bezeichnet auch die Ambivalenz des Autors im VACU-Vorhaben. Einerseits wurde das Ziel erreicht, die konkreten Arbeitsbedingungen der Lascher zu verbessern, anderseits leisten die entwickelten Lösungen mittelfristig einen Beitrag zur Zurückdrängung menschlicher Arbeitskraft im Umschlags- und Distributionsbereich. Damit ist die Frage der Verantwortlichkeit für absehbare oder wahrscheinliche unerwünschte soziale Fernwirkungen angesprochen. Wenn diese Verantwortlichkeit aus dem Blick gerät, erfährt der wissenschaftliche Praxisbezug eine Zerstörung und wird vom „Teilstück zum Bruchstück“.
Innerhalb der vorbestimmten Grenzen einer „erwünschten Einmischung“ des wissenschaftlichen Diskurses in den ökonomischen Bereich, wie sie z.B. die Akzeptanz- und Technikfolgenabschätzung darstellen, kann die Sinnentleerung der Arbeit kaum eingeholt werden. Die am Gestaltungsvorhaben beteiligten Sozialwissenschaftler stehen - ähnlich den Laschern - den Fortschritten der Umschlagsentwicklung aufgeschlossen aber mit Unbehagen gegenüber. Das Einkommen der Lascher hängt, ähnlich wie für diejenigen, die die sozialwissenschaftlichen Dienstleistungen erbringen, von ihrer Bereitschaft ab, neue Entwicklungen mitzutragen und zu befördern. Den Laschern bleibt die Hoffnung, ihre Mitwirkung an den arbeitsplatzbedrohenden technischen und organisatorischen Planungen und Entwicklungen schützte sie vor einem möglichen Arbeitsplatzverlust.

Die Mühsal der Arbeit, gewandelt zum Hohelied der Produktivität, wird im gegenwärtigen Prozeß der Normalisierung der Massenarbeitslosigkeit zum subjektiven Bedürfnis. Die noch Arbeit haben, beteiligen sich an der Beschleunigung der Umstrukturierungsprozesse, die ihre eigene Position längerfristig bedrohen.
Im VACU-Vorhaben ist das Ziel der Persönlichkeitsförderlichkeit formuliert worden. Es ist innerhalb des Tätigkeitsbereichs der Lascher jedoch weder zum Gestaltungsziel auf der Basis eines am bestehenden Laschsystem entworfenen Problembereichskatalogs avanciert, noch konnte es in den Veränderungen, die das neue Laschsystem bewirkt, verortet werden. Die auszuführenden Tätigkeiten verlieren - gerade bei der Arbeit auf dem Terminal - sogar noch an dieser Qualität. Entscheidungsfreiheiten sind nicht vorgesehen. Wie könnten zukünftige Entwicklungsvorhaben diese übergeordneten Problemlagen operationalisieren, statt sie auszuklammern?
Grundsätzlich ergeben sich fünf Überlegungen:

I. Handlungsmöglichkeiten erweitern

Die erste Frage für eine Gestaltung der Arbeitsplätze sollte dem Handlungsspielraum der Arbeitenden gelten. Wie kann der Arbeitsablauf gestaltet werden, damit das Arbeitsergebnis möglichst unmittelbar von der Leistung der Arbeitenden abhängt?
Wie lässt sich weiterhin die Eingriffsmöglichkeit der Arbeitenden sichern (etwa bei automatisierten Abläufen)?

II. Erfahrungswissen einsetzen

Wie lässt sich das schon vorhandene Prozeßwissen nutzbringend erweitern und wie kann es in die Gestaltung einer neuen Technik (eines neuen Ablaufs) eingebracht werden? Auch hier wird die Optimierung der menschlichen Gestaltungsleistung zur Zielbestimmung; eine Lösung, die die lapidare Vereinfachung bzw. den bloßen Ersatz des Erfahrungswissens durch dessen Umwandlung in ein technisches Systemelement - etwa einen komplexen Mechanismus oder einen ausgeklügelten DV-Programmschritt - anstrebt, sollte immer kritisch betrachtet werden.

III. Kontrollmöglichkeit garantieren

Wie kann die Arbeitsumgebung auf die Reichweite der menschlichen Sinneswahrnehmung hin gestaltet werden und wie kann man jederzeit einen individuellen, unmittelbaren Zu- und Eingriff gewährleisten?

IV. Konkurrenzdenken relativieren

Zum spezifisch Wissenschaftlichen an Sozialwissenschaft gehört unabdingbar, dass sie sich nicht affirmativ sondern kritisch zu den vorgefundenen Verhältnissen und ihrer ideellen Repräsentation verhält. Das bedeutet, dass auch allgemein anerkannte Sachzwänge, wie z.B. Konkurrenz oder die Notwendigkeit von Rationalisierung nicht unhinterfragt als gegebenakzeptiert werden, sondern in der konkreten Situation auf ihre Gültigkeit und Reichweite hin zu überprüfen sind. Bei einer solchen Herangehensweise stellt sich heraus, dass es überraschend viele Handlungsspielräume gibt, die nicht oder nicht vollständig von angeblichen oder tatsächlichen Sachzwängen determiniert sind. So gibt es z.B. gespeist aus unterschiedlichen Motiven ein gleichgerichtetes oder teilweise überschneidendes Interesse der Lascher und der Hafenunternehmen an unfallverhütenden Maßnahmen. Die begleitende Sozialforschung würde ihre Aufgabe verfehlen und ihre spezifischen Potentiale preisgeben - und gerade auch ihren Auftraggebern wenig von Nutzen sein - wenn sie unbesehen die stereotyp vorgetragenen Behauptungen übernehmen würde, aus Gründen der Aufrechterhaltung der globalen Konkurrenzfähigkeit seien innovative Lösungen zur Verhinderung von Unfällen nicht finanzierbar. (Lascher, die z.B. Twistlocks an Land einsetzen, sind in allen Häfen gefährdet.)

V. Gesellschaftliche und politische Perspektive einbeziehen

Staatliche und private Technologieförderung weisen in der Regel gegenseitige Bezüge auf. Es liegt daher nahe, gesellschaftliche oder politische Belange in die Technologieförderung mit einzubeziehen. Vorstellbar ist, der Technik von vornherein einen sozialen und humanen Sinn zuzuweisen und vom herrschenden reinen Funktions- und Effizienzdenken abzugehen. Es sind auch die Verbindungen deutlich zu machen, die zwischen den sozialen, ökonomischen und politischen Feldern bestehen, die eigentlich erst die „Folgen“ einer Technik bestimmen.

Diese fünf Punkte haben Vorschlagscharakter und sollen dazu dienen, das Nachdenken über die Richtung des „Technisierungspfads“ anzuregen. In ihnen drückt sich die Suche nach einer anderen „Rationalität“ aus, die von der Konstruktion des Menschen und seiner Konstruktivität ausgeht, die also die auf Veränderung und Kreativität, auf Vielfalt und Gestaltungskraft basierenden Eigenschaften herausstellt.

Wenn die Waren, deren „Sinn“ zumeist in der Konsumption liegt, in international standardisierten und elektronisch informierten Kanälen zirkulieren, so können wir auch die Ideen als grenzüberschreitend apostrophieren. Das Denken selbst ist es, das sich gegenüber den ihm gestellten Aufgaben emanzipieren muß, um ihnen einen „Sinn“ zu geben. Um welche Aufgaben es sich aber im einzelnen handelt - etwa eine wissenschaftliche Evaluation - ist sekundär.

Für unser Problemfeld ergibt sich daraus eine Schlußfolgerung, die nicht im begrenzten Bereich der konkreten Arbeitsbedingungen operieren kann, für eine Bestimmung der Qualität des Tuns der am Containerumschlag Beteiligten jedoch wichtig ist:
Wenn wir über die Methode, mit der wir Hand an die Wirklichkeit legen, um unsere Lebensbedingungen zu verbessern, selbst bestimmen wollen, dann darf z.B. das in einer Evaluation Vorgefundene nicht zum Maßstab der Bewertung werden. Die Arbeitsbedingungen, die auch aufgrund unserer Beteiligung an einer technologisch - organisatorischen Entwicklung entstehen werden, sind zwar von krassen Belastungselementen gereinigt, aber entsprechen kaum der Idee einer Arbeitsform, die sich etwa Cassirers Bestimmung des Umgangs mit dem Werkzeug annähert.