Universalität der ‘Bodenlosigkeit’

Zur Parallelität der ‘Entwurzelung’ von

Gesellschaft, Subjektivität und Denken –

Ein systemtheoretischer Erklärungsversuch

 

 

 

 

Vom Fachbereich

Philosophie-Religionswissenschaft-Gesellschaftswissenschaften

der Universität - Gesamthochschule - Duisburg

zur Erlangung des akademischen Grades

 

 

 

Dr. phil.

genehmigte Dissertation

von

Feltes, Stefan

aus

Rheinberg

 

 

 

 

Referent: Prof. Dr. Helga Gripp-Hagelstange

Koreferent: Prof. Dr. Claus-E. Bärsch

Mündliche Prüfung am 22.04.99

Einleitung *

Erster Teil: Erscheinungsformen von Bodenlosigkeit *

I. Das Subjekt: "Wir sind, wenn wir tun" *

1. Die Konjunktur des Körpers *

2. Innere Fitneß: "Mit Psycho-Tricks gegen das Stimmungstief" *

3. Erlebniszentrierung: "Lässig auf den Wellen der Mode surfen" *

4. Szenen, Trends und Zeichen: "Vergeßt alle Systeme!" *

5. 'Bodenlosigkeit' als Grundverfassung: Der Verlust des Selbst *

6. Gesellschaftliche Rahmenbedingungen: Das Ende der metaphysischen Geborgenheit *

II. Die Gesellschaft: Von der Wertegemeinschaft zur ‚multioptionalen‘ Gesellschaft *

1. Die postmoderne Kultur: Torkelnde Freiheit? *

2. Indifferenz religiöser Energie: "Markt der Möglichkeiten." *

3. Eine exemplarische Betrachtung: Das "Kruzifix-Urteil" des Bundesverfassungsgerichtes *

4. Die Dominanz der Parallelwelten institutioneller Politik *

5. Das Ende der Bürgergesellschaft *

6. Die globale Herrschaft supranationaler Strukturen *

7. Das Fernsehen zwischen Bedeutungsverlust und Machtausweitung *

8. Die medial konstruierte Verdopplung der Realität *

9. Das Internet – die Selbstbezüglichkeit virtueller Welten *

Exkurs: Bodenlosigkeit – die Genese eines gesellschaftlichen Phänomens *

III. Das Denken: Von Friedrich Nietzsche zu Niklas Luhmann – Oder: Zur Entwicklung des Differenz-Theorems *

1. Friedrich Nietzsche: Vorbemerkungen zu seiner Philosophie *

1.1. Die Wende von der tragischen zur fröhlichen Wissenschaft *

1.2. Zeit, Bewegung und Werden als ‘wahre’ Kategorien der Wirklichkeit *

1.3. Der Wille zur Macht: Das Willensspiel relationaler Prozesse des Schaffens, Zerstörens und Experimentierens *

1.4. Erkenntnis als differentielles und schöpferisches Interpretationsgeschehen *

1.5. Die ewige Wiederkehr im Kreis: "Auf dem Augenblick liegt das Schwergewicht der Ewigkeit" *

1.6 Die Philosophie Nietzsches: Apologie der ‘Bodenlosigkeit’ *

2. Theodor W. Adorno – Vorbemerkungen zu seiner Philosophie *

2.1. Fortführung des differenztheoretisches Denkens mit der Kategorie des "Nichtidentischen" *

2.2. Das Denken in "Konstellationen" *

2.3 Die Philosophie Adornos als Ausdruck ‘bodenlosen’ Denkens *

3. Niklas Luhmann: Vorbemerkungen zu seinem systemtheoretischen Denken *

3.1. "Das Sein ist obsolet" – ein fiktiver Dialog zwischen dem ontologisierenden Denken der Tradition und dem differenztheoretischen Denken neuzeitlicher Systemtheorie *

3.2. Der differenztheoretische Ansatz der Systemtheorie als exemplarisches Modell ‘bodenlosen’ Denkens *

 

IV Zwischenbetrachtung: Zur begrifflichen Bestimmung gemeinsamer Strukturmerkmale von Denken, Gesellschaft und Subjektivität *

1. Differenz: *

2. Horizontalität *

3. Rekursivität: *

4. Paradoxalität: *

Zweiter Teil: Die Parallelität der ‘Bodenlosigkeit’ von Gesellschaft, Subjektivität und Denken – Ein systemtheoretischer Erklärungsversuch *

I. Die Gesamtgesellschaft als zentrifugales Beziehungsgeflecht autonomer, funktional differenzierter Teilsysteme *

1. Die Gleichwertigkeit von Integration und Desintegration – oder: Die paradoxe Struktur gesellschaftlicher Einheit *

2. Gesamtgesellschaftliche Rationalität als ‘Modellfall’ reflexiver Abstimmung des Partikularen *

II. Die Entmachtung des Subjekts *

1. Die systemtheoretische ‘Logik’ der inneren Zerlegung des traditionellen Subjektbegriffs *

2. Subjektivität als ‘Artefakt’ funktionaler Differenzierung *

III. Kognition als operational geschlossenes Systemgeschehen *

1. Das Unvermögen der Bewußtseine, aus sich heraustreten zu können: "Paradoxie der Selbstreferenz" *

2. Eine exemplarische Betrachtung: Der formal bestimmte Wahrheitsbegriff des konstruktivistischen Erkenntnismodells im Kontrast zum substantiellen Wahrheitsverständnis der Tradition *

IV Strukturelle Kopplung als ‘Schlüsselbegriff’ der Erklärung der Parallelität von Kognition und Sozialität *

1. Strukturelle Kopplung von Bewußtseinssystemen mit dem Kommunikationssystem Gesellschaft *

2. Strukturelle Kopplung im Medium Sprache *

3. Die kommunikative Formung des Gedachten als sozialer Prozeß *

4. Die Zersplitterung kommunikativer Formung als Umwelt der Autopoiesis der Bewußtseinssysteme *

V. Das Darstellungssystem "Wir sind, wenn wir tun" als Erklärungsmodell der Parallelität von Subjektivität und Sozialität *

1. Die Autopoiesis der Inszenierung sozialer Geltung von "Personen" als gesellschaftliches Funktionssystem *

2. Zur expansiven Dynamik des Darstellungssystems: Die Love-Parade und Guildo Horn *

3. Die autopoietische Eigensteuerung des Darstellungssystems *

4. Evolution und Geschwindigkeit als Momente dynamischer Entwicklung des Darstellungssystems *

Schlußbetrachtung *

Abkürzungsverzeichnis *

Literaturverzeichnis *

Einleitung

In dieser Arbeit geht es um ein reizvolles Experiment. Im Mittelpunkt steht der Versuch, eine empirische Ausgangsbeobachtung, die wir gleichsam von der Gesellschaft ‘abgelesen’ haben, im Lichte der Systemtheorie Niklas Luhmanns zu erklären. Es geht also, salopp gesagt, um den Versuch, das systemtheoretische Denken Luhmanns praktisch anzuwenden. Reizvoll ist unser Unternehmen nicht zuletzt deshalb, weil wir eine als durchweg konservativ geltende Thematik oder Fragestellung mit einer Theorie zusammenbringen, die erklärtermaßen angetreten ist, jedwedes traditionelle Denken hinter sich zu lassen, grundsätzlich neu zu beginnen.

Ausgangspunkt unserer Arbeit ist die zunächst mehr unreflektiert-emphatische Beobachtung, daß das Subjekt der Moderne, die gegenwärtige Gesellschaft sowie die Grundstruktur heutigen Denkens von ‘Bodenlosigkeit’ und ‘Entwurzelung’ gekennzeichnet sind.

Die Arbeit hat sich zum Ziel gesetzt, diesen zunächst mehr vordergründigen Eindruck zu belegen, die Genese des Phänomens aufzuzeigen und eine strukturelle Parallelität zwischen den drei Ebenen nachzuweisen. Vor allem aber unternehmen wir in dieser Arbeit den Versuch, die unterstellte ‘Bodenlosigkeit’ von Subjekt, Gesellschaft und Denken im Bezugsrahmen der Systemtheorie Luhmanns zu erklären sowie gleichermaßen aus dieser Theorie heraus Anhaltspunkte zu finden, mit denen die Parallelität der ‘Entwurzelung’ von Gesellschaft und Denken einerseits sowie von Gesellschaft und Subjektivität andererseits erklärt werden kann.

Die Arbeit ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil der Arbeit werden im Rahmen einer phänomenologischen Gesamtdarstellung Ausdrucksformen von ‘Bodenlosigkeit’ betrachtet. Das erste Kapitel befaßt sich mit der ‘bodenlosen’ Grundverfassung des Subjekts: An exemplarischen Beobachtungsfällen wird die widersprüchliche Situation von Entdeckung und Verlust des Selbst aufgezeigt. Unausweichlich und unentwegt ist das Subjekt dazu verurteilt, ‘Ontologien’ des Selbst zu entwerfen, zu erneuern und auszutauschen; es ist darum bemüht, in einem permanenten rekursiven Prozeß die subjektive Authentizität eines Selbstprojektes zu konstruieren. Was aus der Sicht des Subjekts wie Selbstbehauptung aussieht, erweist sich aus der globalen Perspektive als ein Prozeß ungezähmter, selbstbezüglicher Aktivität, der in Spiel und Simulation leerzulaufen scheint und somit die Entwurzelung der Subjektivität im Paradox hervortreten läßt. Das Kapitel schließt mit einem Blick auf die gesellschaftlichen Gegebenheiten, in die das Subjekt der Moderne eingelassen ist.

Im zweiten Kapitel wird die ‘Bodenlosigkeit‘ der Gesellschaft an exemplarischen Fällen belegt. Hier wird in direkter Anknüpfung an das erste Kapitel gezeigt, wie die Kultur, die Religion, die Politik und die Wirkungsmechanismen der Medien ihre ehemals hierarchische, oder besser: zentrische Grundstruktur verloren haben und nun gleichsam ‘frei schwebend’ um sich selbst kreisen. Der sich hieran anschließende Exkurs will aufzeigen, daß ‘Bodenlosigkeit’ als gesellschaftliches Phänomen nicht plötzlich aufgetaucht, sondern geschichtlich geworden ist. Bezugspunkt der Betrachtung ist hier der Erklärungsansatz Max Webers sowie die Diskussion um die sogenannte Postmoderne.

Das dritte Kapitel wendet sich der ‘Bodenlosigkeit’ des Denkens zu. Hier wird aufgezeigt, wie eine kognitive Entwicklungslinie differenztheoretischen Denkens bei Nietzsche beginnt und über Adorno bis Luhmann auf eine bisher beispiellose Zuspitzung von ‘Bodenlosigkeit’ und ‘Entwurzelung’ zugesteuert ist.

Dementsprechend betrachtet der erste Abschnitt dieses Kapitels das spezifische ‘Profil’ des differenztheoretischen Denkens Friedrich Nietzsches. In Anknüpfung an die philosophische Kategorie der Bewegung Friedrich Nietzsches wird im zweiten Abschnitt gezeigt, daß Adorno mit seiner Kategorie des "Nichtidentischen" sowie mit seinem Versuch, in "Konstellationen" zu denken, das Differenz-Theorem weiterentwickelt hat. Der dritte Abschnitt verfolgt das Ziel, in das systemtheoretische Denken Niklas Luhmanns einzuführen und die Grundstruktur dieses theoretischen Ansatzes als exemplarischen Ausdruck ‘bodenlosen’ Denkens aufzuweisen. Zu diesem Zweck entwickeln wir hier einen fiktiven Dialog zwischen dem ontologisierenden Denken der Tradition und dem differenztheoretischen Denken aktueller Provenienz, um das charakteristische Denkparadigma der Systemtheorie Luhmanns im Kontrast herausarbeiten zu können.

Die Zwischenbetrachtung des IV. Kapitels zieht ein vorläufiges Fazit. Das, was wir auf der Ebene der Subjektivität, der Gesellschaft und des Denkens an ‘Bodenlosigkeit’ und ‘Entwurzelung’ jeweils getrennt und primär deskriptiv vorgestellt haben, wird nun zusammengezogen und auf einer abstrakteren analytischen Ebene auf gemeinsame Kategorien gebracht. Hier versuchen wir zu zeigen, daß es mit "Differenz", "Horizontalität", "Rekursivität" und "Paradoxalität" Kategorien der ‘Entwurzelung’ gibt, die in den Denkmodellen Luhmanns, Adornos und Nietzsches gemeinsam enthalten sind. Darüberhinaus wird sich zeigen, daß diese Kategorien auch in den Strukturen der Gesellschaft und der Subjektivität verborgen liegen. Wir werden also aus der rückwärts gerichteten Perspektive des ersten Teils dieser Arbeit die innere Verschränkung aller drei Ebenen in ihrer ‘Bodenlosigkeit’ und ‘Entwurzelung’ zu belegen versuchen.

Im zweiten Teil der Arbeit werden unsere Beobachtungen zur ‘Bodenlosigkeit’ mit dem systemtheoretischen Denken zusammengebracht. In einem ersten Schritt geht es darum, mit dem Instrumentarium Luhmanns die ‘Bodenlosigkeit’ der Gesellschaft, des Subjekts und des Denkens zu erklären. Hierzu werden jeweils verschiedene systemtheoretische Blickwinkel eingenommen: Kapitel I betrachtet die funktionale Differenzierung der Gesellschaft im Hinblick auf die uns interessierende Frage gesellschaftlicher Einheit sowie den systemtheoretisch gefaßten Rationalitätsbegriff.

Kapitel II geht der Frage nach, inwieweit aus dem systemtheoretischen Denken heraus die ‘Bodenlosigkeit’ der Subjektivität erklärt werden kann. Was bleibt übrig, wenn wir entdecken, daß der traditionelle Subjektbegriff hier gleichsam in sich zerlegt auftritt und in dieser Gespaltenheit mit funktionaler Differenzierung konfrontiert werden muß?

Kapitel III versucht zu zeigen, daß die Kognition des Bewußtseins (als operational geschlossenes Systemgeschehen) in der Paradoxie befangen ist, sich selbst als Maßstab nehmen zu müssen, sich andererseits aber nicht selbst begründen zu können und damit zwangsläufig dazu verurteilt ist, jedwede Einheit immer in der Differenz zu finden. Im zweiten Abschnitt dieses Kapitels skizzieren wir gleichsam exemplarisch den symbolischen und formalen Charakter des systemtheoretischen Wahrheitsbegriffs im Kontrast zum ‘substantiellen’ Wahrheitsverständnis der Tradition, näherhin Immanuel Kants. Ist es der Tradition noch gelungen, mit der Wahrheit ein Kriterium aufzustellen, das die Übereinstimmung von Denken und Gegenstand zu garantieren vermochte, so erleben wir in der Systemtheorie eine strukturell ‘bodenlose’ Neuformulierung dieser Thematik, die von völlig anderen Voraussetzungen ausgeht und grundsätzlich neue Antworten hervorbringt.

Kapitel IV versucht darzulegen, inwieweit mit dem systemtheoretischen Begriff der strukturellen Kopplung die Parallelität von Kognition und Sozialität (bzw. Sozialität und Kognition) erklärt werden kann. Der Mechanismus der Kopplung, so werden wir herausarbeiten, hat eine eigene Realitätsbasis für sich, die von den jeweils gekoppelten Systemen unabhängig ist. Auf dieser Beobachtung aufbauend werden wir dann versuchen, die von uns postulierte Parallelität von Kognition und Sozialität im Rahmen systemtheoretischer Begriffe und Instrumentarien zu erklären.

Das letzte Kapitel knüpft ausdrücklich wieder an den Beginn unserer Arbeit an. Das dort im Rahmen unserer Ausgangsbeobachtung entwickelte Modell "Wir sind, wenn wir tun", mit dem wir die spezifische Operationsweise der Subjekte in der Gesellschaft zu beschreiben versuchten, wird nun direkt mit der Systemtheorie konfrontiert. D.h. wir stellen die Frage, ob bzw. inwieweit der hier vorgestellte Mechanismus (subjektiver Aktivität) als sozialer autopoietischer Prozeß gedacht werden kann. Sofern es gelänge, diese (auf den ersten Blick widerspruchsvoll anmutende) Zusammenführung systemtheoretisch plausibel vorzustellen, wäre die Parallelität von Subjektivität und Sozialität begründet nachgewiesen.

An dieser Stelle sei eine Anmerkung gestattet. Meiner geschätzten Lehrerin, Frau Prof. Dr. Helga Gripp-Hagelstange, gilt mein besonderer Dank. Sie hat mit großem Interesse, hilfreichem Rat, kritischer Auseinandersetzung und ständiger Gesprächsbereitschaft die Formulierung und Entstehung der vorliegenden Arbeit begleitet. Mein herzlicher Dank gilt auch Herrn Prof. Dr. Claus E. Bärsch. Er nahm die Aufgabe des Koreferenten wahr und hat eine große Offenheit gegenüber meiner Themenstellung gezeigt. Ferner danke ich Christoph Steven für die textliche Verarbeitung sowie Dörthe Fischer für ihre zahlreichen Anregungen und ihre kritische Durchsicht des Manuskripts.

 

Erster Teil: Erscheinungsformen von Bodenlosigkeit

I. Das Subjekt: "Wir sind, wenn wir tun"

Das Modell, das nachfolgend vorgestellt wird, soll die Situation des Subjekts unter den spezifischen Bedingungen der gegenwärtigen Gesellschaft (im Kontrast) veranschaulichen: Eine Spinne webt ihr Netz. Das Netz ist mit Fäden in einer Wandecke fest verankert. Aus einer einfachen Grundstruktur ist nach und nach ein hochkomplexes Geflecht von Verknüpfungen entstanden, das an der Wand gehalten wird und der Spinne als sichere 'Behausung' dient. Dieses Bild soll zum Ausdruck bringen, daß das Subjekt in der 'alten' Gesellschaft an die durchgehende Tragfestigkeit und Verläßlichkeit normativ-universaler Sinn- und Ordnungsstrukturen sozialen Lebens anknüpfen konnte. Die soziale Verortung des Subjekts sowie die Ausdifferenzierung personaler Identität erfolgte auf dem Boden eines normativ verfaßten Grundkonsenses und obligater Legitimationsinstanzen. Unabhängig davon, ob die Verortung des einzelnen hinsichtlich des gesellschaftlich Vorgegebenen im Modus von Affirmation, Indifferenz oder Negation erfolgte, so war doch die Universalität von Plausibilitätsstrukturen eine vorgegebene Orientierungsmarke, an der man sich 'einhaken', von der man sich auch partiell lösen konnte, um sich später wieder zu 'verankern'.

Die heutige Situation ist völlig anders: Auch heute möchte die Spinne ihr Netz weben. Aber wenn sie im Begriff ist, die Fäden zu knüpfen, um sie in der Ecke der Wand zu verankern, stellt sie plötzlich fest, daß die Verankerung nicht mehr klappt; zu viel hat sich verändert. Die Spinne erlebt sich plötzlich freischwebend und macht eine ungewöhnliche Erfahrung: Solange sie in Bewegung bleibt, um das Netz immer dichter zu knüpfen, scheint die Schwerkraft aufgehoben. Die Spinne kann sich in der Luft halten durch das eigendynamische 'Rattern' ihrer eigenen Knüpfbewegungen, - hört sie damit auf, fällt sie ins Bodenlose (dies hat sie jüngst an einer anderen Spinne beobachtet).

Wenden wir uns der Deutung zu: Wenn für die gegenwärtige Gesellschaft nicht nur die Pluralität und Heterogenität von Orientierungssystemen kennzeichnend ist, sondern zugleich, wie Hermann Lübbe feststellt, "die enge Begrenztheit ihrer lebensweltlichen Reichweite sowie das beschleunigte Tempo ihres Veraltens", so wird offensichtlich, daß das Subjekt einer immer abstrakter werdenden und höchst widerspruchsvollen Dynamik lebensweltlicher Situationen ausgesetzt ist. Das Individuum sieht sich in einen 'Mobilitätsraum' hineinversetzt, in dem stets wechselnde Ressourcenbeschaffung sowie flexible Reorganisationsfähigkeiten im Hinblick auf soziale Orientierung erfolgen müssen, und es stellt sich die Frage, wie sich unter den Bedingungen dieser "Plastizitätszumutung" (Lübbe) für den einzelnen die Kohärenz und Integrität des Lebensvollzuges erhalten läßt. Unsere Antwort lautet: Das Subjekt hat sich selbst ins Zentrum gesetzt. Dadurch, daß gesellschaftliche Plausibilitätsstrukturen als widerspruchsvoll und angefochten erlebt werden, hat das Subjekt sich selbst als Objekt seiner Bearbeitung entdeckt. Genau das soll im o.g. Bild der Spinne zum Ausdruck kommen: Die gesellschaftlich-kulturelle Situation entzündet einen immensen Antriebsmotor im Innern des Subjekts und zwar mit dem Ziel, das autonom und aus sich selbst heraus herzustellen und mit eigenen Mitteln zu beglaubigen, was universal nicht mehr auftreten kann. Sinngebung, normative Orientierung, 'Wahrheit der Erkenntnis', Kohärenz, authentisches Erleben müssen autonom gesetzt, gestiftet, aktiv aufgerichtet werden. Ständig erlebt sich der einzelne unter dem Diktat des Wählens, Bewertens und Entscheidens, um Kriterien kognitiver und normativer Orientierungsdaten verfügbar zu halten. Unausweichlich und unentwegt erlebt sich das Subjekt dazu verurteilt, in einem rekursiven Prozeß die subjektive Schlüssigkeit und Authentizität eines Selbst-Konzepts zu entwerfen, nach außen darzustellen und (entsprechend veränderter Bedingungen) situativ zu erneuern. Anthony Giddens sieht die moderne Biographie einem "reflexiven Projekt der Ichwerdung" ausgesetzt, das heißt in seiner Auffassung nichts anderes, als daß die Subjekte dazu verurteilt sind, im Sinne einer "vulgärexistentialistischen Ich-Mythologie" innerlich stets 'auf Achse' zu sein: Das Leben steht immer auf dem Spiel, denn jeder ist das, was er aus sich macht. Unsere These lautet: Solange die Individuen mit diesem Prozeß des Sich-selbst-Entwerfens befaßt sind, erleben sie sich sozusagen immun gegenüber den Ambivalenzen der äußeren gesellschaftlichen Situation. Erlahmt diese Aktivität, droht die 'Gefahr', daß die gesellschaftlichen Ambivalenzen nicht mehr neutralisiert oder aufgefangen werden, sondern gleichsam 'nackt' und 'unbehandelt' auf die Grundverfassung des Subjekts durchschlagen.

"Wir sind, wenn wir tun" heißt dieses Modell: Im Modus unermüdlichen Wählens und Kombinierens immer neuer Stimuli entsteht eine 'Großbaustelle' (namens 'Ich'), die Tag und Nacht in Betrieb ist. Die hier gleichwohl hektische wie einsame Betriebsamkeit dient unter Einbeziehung adäquater Symbolik ausschließlich der Modellierung des 'persönlichen Mythos', der "Glorifizierung des Selbst" mit unersättlicher Empfänglichkeit für neue Zeichen. Die in pragmatischer und reibungsloser Weise perfektionierte Form der Selbstdarstellungsmechanismen, so Gerhard Schmidtchen, "schützen die Individuen vor der Selbstdiagnose der eigenen Schwäche".

Hier ist sicherlich nicht der Ort, die zum Teil recht umfassende Diskussion der Selbstkonzeptforschung in ihrer langen, auf den Psychologen Wiliam James zurückgehenden Tradition im einzelnen nachzuzeichnen. Hier muß der Hinweis genügen, daß Erving Goffman in Anknüpfung an die Theoriemodelle Charles Horton Cooleys und George Herbert Meads die Erforschung des Selbstkonzepts maßgeblich bestimmt und vorangebracht hat. Goffman stellt in besonderer Weise heraus, inwieweit sich Individuen als Darsteller verstehen, sich also selbst zum Objekt ihres Verhaltens machen ("role-distance"). Er betont dabei die strategische Natur sowie den rituellen, dramaturgischen Charakter eines dynamisch angelegten Eindruckmanagements der Subjekte. Beim Selbstkonzept, so definieren wir in Anlehnung an Goffman, geht es ganz allgemein um die Gesamtheit der individuellen Gedanken, Gefühle und Fähigkeiten der Subjekte, die im Hinblick auf die eigene Person in ihrem Objektcharakter von Bedeutung sind. Darin sind auch Gegenstände, die die Individuen besitzen sowie Aktivitäten, denen sie nachgehen, allesamt eingeschlossen. Das Selbstkonzept kann sozusagen als kognitive Komponente des Selbst aufgefaßt werden, d.h. es besteht aus konkreten Inhalten und Ausprägungen einer konzeptionellen Gesamtvorstellung von der eigenen Person.

Die inhaltliche Bestimmung erfolgt dabei in besonderem Maße über die antizipierten und tatsächlichen Reaktionen anderer. In Anlehnung an Goffman ausgedrückt, geht es also nicht um etwas, das sich im Besitz des jeweiligen Individuums befindet, sondern das vielmehr in der jeweiligen Situation zeitweilig von anderen 'geliehen' und übertragen wird, und zwar als 'Reflex' auf eine aktive Auseinandersetzung des Individuums mit Objekten und Personen seiner sozialen Umwelt (Vgl. "Looking-glass self", "role taking" markierten Aspekte individueller Selbstreflexion und Beobachtung).

Im hier gegebenen Zusammenhang kommt es uns primär darauf an herauszustellen, daß die Forschung die Subjekte heute mit mehreren situationsspezifischen Selbstkonzepten ausgestattet sieht. Die in Anlehnung an den "Symbolischen Interaktionismus" geprägten Begriffe des "situational self image" oder des "working self concept" wollen zum Ausdruck bringen, daß in bestimmten Situationen jeweils (nur) spezifische Aspekte des Selbstkonzepts relevant sind. Eine in dieser Weise dynamisch und offen angelegte Modellentwicklung des Selbstkonzepts (die heute unstrittig ist) vermag die von uns beobachtete Expressivität darstellerischer Aktivität und Vielfalt begrifflich angemessen zur Geltung zu bringen.

Auch die sich hier nahtlos anschließende Diskussion um den sogenannten 'dynamischen' Identitätsbegriff kann im einzelnen nicht aufgenommen werden. Hier ist allerdings zu erwähnen, daß sich sämtliche neueren Publikationen mit ihren je spezifischen 'Begrifflichkeiten' wie "Patchwork-Identität" (Heiner Keupp), dem "multiphrenen, relationalen Selbst" (Kenneth J. Gergen) sowie der "minimalen Identität" (Gerhard Schmidtchen) damit befassen, dynamisch-kreative Integrationsleistungen im Rahmen eines offenen, "dezentrierten" und flexiblen Identitätskonzepts herauszustellen, in dem vor allem der Herstellungscharakter und weniger der Produktcharakter von Identität betont wird.

Festzuhalten bleibt, daß sich die sehr komplexe Diskussion darum bemüht, die Konzeption des Identitätsbegriffes mit der "Multioptionalität" (Peter Gross) der Gesellschaft in Einklang zu bringen.

In den folgenden Kapiteln wollen wir in exemplarischen Betrachtungen aufzeigen, daß die kollektive Suche nach Selbstkonzept, nach Selbstvergewisserung und Selbstdarstellung von einem Selbstbehauptungswillen begleitet wird, dem sich alles zu unterwerfen hat.

1. Die Konjunktur des Körpers

Die Fixierung auf Körperbewußtsein, Schönheit und Fitneß ist zu einem vitalen Interesse der Individuen, zum unangefochtenen Thema Nr. 1 der Freizeitaktivität geworden. Und die Branche boomt: "Extra Seiten mit den besten Tips für schöne Haut und strahlende Augen, für lockere Muskeln und mehr Energie, für gute Laune und tolle Ausstrahlung"; dieser Titel steht stellvertretend für unzählige Variationen von Empfehlungen, Ratschlägen und Anweisungen in Dossiers und Beilagen der deutschen Zeitschriftenlandschaft, die sich in wöchentlichem Rhythmus diesem Thema in exponierter Form widmen (vgl. Anhang 1).

Trainingscenter und Fitneßstudios haben Konjunktur: Gab es in Deutschland 1980 gerade einmal 1.000 Betriebe, so registriert der Deutsche Sportstudio-Verband (DSSV) im Jahre 1996 bereits 5.500. Das Angebot ist flächendeckend, jeder Bundesbürger findet im Umkreis von fünf bis zehn Kilometern ein Studio. Noch steiler als die Zahl der Anlagen schoß die der Clubmitglieder in die Höhe: In den vergangenen 15 Jahren von 370.000 auf 3,4 Millionen. Ein Ende ist nicht abzusehen. Der DSSV rechnet in den nächsten zehn Jahren gar mit einer Verdopplung der Mitgliederzahlen.

Die Angebotspalette jener "Fitneßoasen" hat sich im letzten Jahrzehnt auffällig gewandelt. Erstreckte sich das Angebot in den 80er Jahren vorrangig auf das Fitneßtraining an High-Tech-Geräten, dynamische Gymnastik, Aerobic und "Bauchkiller-Stunden für Männer", so schiebt sich heute unter dem Begriff der "Mind-Body-Balance" mehr das Prinzip der Ganzheitlichkeit in den Vordergrund. Gymnastik zeigt sich hier verbunden mit isometrischen Übungen, Workshops zur Streßbewältigung, fernöstlichen Fitneßprogrammen wie Tai Chi oder japanischer Massage, Cremes mit Psycho-Wirkung (Body-Splash) und holistischen Heilsmethoden.

"Du mußt selber herausfinden, was für dich gut ist, dann können wir dich tiefer hineinlotsen ...;" diese Formulierung eines Studio-Inhabers steht stellvertretend für den feststellbaren Trend, daß in dem Aktivitätsfeld der Körper-Fitneß und Trainingstechniken zunehmend Elemente "individualisierter" Spiritualität enthalten sind. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, daß Begriffe wie Biogenics, Biofeedback, Yoga, Meditation und Selbsthypnose zum gängigen Vokabular mancher großstädtischen Studios geworden sind.

Hierbei wurde auch die Musik als Mittel gegen burn-out und für das Ziel körperlicher Harmonie entdeckt. Dies zeigen z.B. Titel wie "Entspannungs-Songs für New Age Fans" (Nightingale Records: Mystery of Sound and Silence, Volume 1-5) und "Instrumentalmusik mit Meeresrauschen" (von M. Buntrock / Musik genau im Herzrhythmus von 60 Schlägen pro Minute). Und während die einen Videobänder "mit der garantiert einzigartigen Gymnastik für ihre ganz speziellen Problemzonen- von Callenetics bis Stretching" aus dem Angebot meterlanger Regalwände aussuchen, verkündet und hinterfragt das Mittagsmagazin des Westdeutschen Rundfunks die neuesten Methoden der gesichtskosmetischen Faltenbehandlung durch Laserstrahlen (mit einer enormen Hörerresonanz, wie sich durch Höreranfragen herausstellte).

Die Ausführungen zu diesem Thema ließen sich endlos fortsetzen. Festzuhalten bleibt, daß die Arbeit an der Perfektionierung körperlicher Ästhetik für eine wachsende Zahl von Individuen zu einem zentralen Lebensinhalt geworden ist. "Die Defizite des Leibes", so Peter Groß sind im Lager der Geräte zu überwinden.

Der diese besinnungslose, ja zuweilen hysterische Massenbegeisterung für die vielfältigen Formen des Body-Stylings in den letzten Jahren miterlebt hat, so kommentiert Volker Gaysa die Situation, "weiß, daß die Bezeichnung Mythenmaschine keine Phrase ist." Daß sich derart ausgerichtete Aktivitäten auch auf das innere Selbst der Subjekte richtet, soll im folgenden skizziert werden.

2. Innere Fitneß: "Mit Psycho-Tricks gegen das Stimmungstief"

Neben der Betonung sämtlicher Facetten der körperlichen Selbstvervollkommnung und Selbstdarstellung ist zugleich die Fixierung auf das Innere des Subjekts, die "innere Fitneß" ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. "Wie packen Sie Ihr Leben an?", "Wie normal sind Depressionen?", "Wie gut kennen Sie sich wirklich?"

Dies sind nur einige wenige Titel aus einer ganzen Fülle populärwissenschaftlicher Beiträge des Medienmarktes, die dezidiert analysieren, "wie spannend es sein kann, alle Facetten und die noch weißen Flecken der eigenen seelischen Landkarte zu entdecken", die mit Psycho-Tricks für miese Tage aus dem Stimmungstief herauszuhelfen versprechen und mehr als hundert Fragen offerieren, mit denen der Leser "zu verblüffenden Erkenntnissen über sich selbst gelangen kann."

Schon ein flüchtiger Blick auf die Themenpalette von Zeitschriften, Talkshows und Bestsellerlisten zeigt, daß sich die ungehemmte und expressive Psychologisierung alltagsweltlicher Phänomene massiv in den Vordergrund der medialen Diskussion geschoben hat, um die idealisierte Verfassung "innerer Harmonie" diskursiv kleinzuarbeiten.

Themen einiger Talksendungen auf bundesdeutschen Programmen in der Woche vom 16. bis zum 20. September 1996:

Mittwoch, 18. 09.1996

RTL 14.00 Uhr – Bärbel Schäfer

"Du hast kein Geld- und bist trotzdem schwanger."

SAT 1 11.00 Uhr – Kerner

"Ich will Liebe, er will Sex."

PRO7 14.00 Uhr – Arabella Kiesbauer

"Ist Selbstbefriedigung schädlich?"

Donnerstag, 19. 09. 1996

RTL 15.00 Uhr – Ilona Christen

"Meine Frau hat mich versklavt."

 

Freitag, 20. 09. 1996

RTL 14.00 Uhr – Bärbel Schäfer

"Bärbel sucht Deutschlands schärfste Hausfrau."

SAT1 11.00 Uhr – Kerner

"Mein Partner hat mich sitzengelassen."

PRO7 14.00 Uhr – Arabella Kiesbauer

"Alle Männer sind schwanzgesteuert."

Montag, 16. 09. 1996

ARD 16.03 – Fliege

"Seit meiner Scheidung bin ich glücklich."

RTL 14.00 Uhr – Bärbel Schäfer

"Ich will, daß Du die Pille nimmst."

Dienstag, 17. 09. 1996

PRO 7 14.00 Uhr – Arabella Kiesbauer

"Heiraten – meine größte Leidenschaft."

Die horizontale Ausbreitung dieser Themen wurde mit reibungsloser Selbstverständlichkeit von psychokulturellen Bewegungen wie beispielsweise New Age aufgesogen. Pop-Psychologie, Bücher über Selbstfindung, Psychotherapie, Meditation, Traumjournale, Körpertraining, Yoga, Training für Biofeedback, Wochenendseminare und esoterische Lehren, - diese Angebote des psychokulturellen Marktes haben nach Auffassung von Marilyn Ferguson, der großen Prophetin des New Age, eine wichtige "Hebammenfunktion" für den Prozeß der persönlichen Umwandlung" übernommen, "der heroische Pfad in das Selbst ist nicht mehr Stoff für Legenden, sondern das Potential von Jedermann und Jederfrau."

Unabhängig davon, ob die Psychologisierungs-Welle im Gewand von New Age oder anderer psychokultureller Richtungen auftritt: Der Zwang zur Kommunikation ist in allen Variationen universal geworden. So, wie Selbstreflexion und Selbstdarstellung des Subjekts auf Kommunikation verwiesen sind, so erhebt umgekehrt die Kommunikation Selbstdarstellung und Reflexion zur Pflicht. Gewinnen alltagsweltliche Fragen im öffentlichen Diskurs einerseits den Rang "metaphysischer Probleme" (z.B. das richtige Atmen, der Urlaub), so sind sie umgekehrt im Feld des Bedeutungspluralismus zur Belanglosigkeit verurteilt: das täglich perfekt und mit großer Selbstverständlichkeit inszenierte Zeremoniell der kommunikativen Zerlegung alltagsweltlicher Phänomene führt im globalen Rauschen medialer Daten zu einer schrankenlosen Verbreitung des Unerheblichsten, zur "Inflation des Banalen." In der "faustischen Kultur des Abendlandes", so Gotthard Günther, herrscht eine Helle und Hitze der Seinsreflexion, "die die Substanz der Menschen fast zu verbrennen droht, anstatt sie historisch zu entwickeln."

Die nachfolgenden Ausführungen skizzieren, daß sich die Thematisierung 'innerer Fitneß' sowie die Darstellung körperlicher Ästhetik vorwiegend im Kontext erlebniszentrierter Aktivität abspielen.

3. Erlebniszentrierung: "Lässig auf den Wellen der Mode surfen"

Berlin im Techno-Rausch. Über 800.000 halbnackte euphorische Raver zelebrieren zu schnellen, lauten Computerrhythmen auf dem Ku'damm die Love-Parade und vor allem: sich selbst. Die tanzwütigen Kids schießen mit Wasserpistolen, werfen Kußhändchen, schreiben "Peace" und "Unity." Eine naßgeschwitzte 20jährige ruft: "Ich will Spaß, Spaß, Spaß!"

Die Anzeige eines Herforder Sporthändlers in einem Snowboard-Magazin lautet: "Snowboard ist wie eine Droge. Es gibt Dir den Kick, bringt Dir Fun, macht Dich süchtig. Diese Sucht macht Dich nicht kaputt; komm zu Deinem Dealer!"

Diese beiden Zitate stehen beispielhaft für die Kennzeichnung einer unvermindert ansteigenden Hochkonjunktur erlebnisdominanter Aktivitätsformen, die vom Subjekt im Rahmen einer perfekten Selbstinszenierung expressiv ausgelebt und öffentlich demonstriert werden.

Dieser Trend ist nicht allein auf die Gruppe der Jugendlichen zu beschränken. Gerhard Schulze hat in seiner detaillierten empirischen Untersuchung "Erlebnisgesellschaft, - Kultursoziologie der Gegenwart" dargelegt, daß sich quer zu generations- und milieuspezifischen Unterschieden das sogenannte "Spannungsschema" als mittlerweile etablierte Dimension der Alltagsästhetik erwiesen hat; es ist in der Einschätzung Schulzes zu einem dominanten Muster der heutigen Massenkultur geworden.

Schulze sieht hinter diesem Begriff das Bild einer Grundorientierung, bei der Unruhe und erhöhtes Aktionspotential kombiniert sind mit der Bereitschaft, sich durch starke Erlebnisreize stimulieren zu lassen. Intensität, Dynamik, Suche nach Abwechslung, Freude am Unerwarteten sind die Muster vorherrschender Erlebnisqualitäten: man möchte Energie ausleben.

Weisen die Lebensphilosophien anderer Orientierungen (Hochkulturschema, Trivialschema) über die Person hinaus, so ist das Ich in der Philosophie des Spannungsschemas nur mit sich selbst konfrontiert, d.h. darauf bezogen, das Selbst gut zu stimulieren, in Szene zu setzen und seine Entfaltung im Prozeß der Selbstverwirklichung voranzutreiben. In seiner Unterscheidung verschiedener sozialstruktureller Milieus sieht Gerhard Schulze das Spannungsschema vor allem im Unterhaltungs- und Selbstverwirklichungsmilieu verankert. In beiden Milieus trifft man auf eine ich-verankerte existentielle Anschauungsweise, in der das Interesse primär der inneren Wirklichkeit gilt, in der das Subjekt selbst die höchste Autorität ist. Das Ich gilt als gegeben und auf dessen vorgestellte Ordnung wird die Welt als variierbare Größe bezogen. Die Individuen denken: "So bin ich – wie kann die Welt für mich passend gemacht werden?" Im Unterhaltungsmilieu, so Schulze, sind Erfahrungen mit starkem Erlebnisreiz und geringer Anforderung an subjektiver Erlebniskompetenz gefragt. Langeweile und Unzufriedenheit werden kompensiert durch eine Steigerung der Nachfrage und eine Verdichtung des Erlebniskonsums, indem man auf die Serviceleistungen der Erlebnisanbieter zurückgreift.

In wechselnden situativen Arrangements zwischen Genußorientierung, Action und Kontemplation kommt im Selbstverwirklichungsmilieu dagegen ein reflektierteres innenorientiertes Projekt zum Tragen, in dem das Subjekt das originär entworfene Programm des inneren Kerns auslebt.

Dank seiner Mobilität, seinem Drang nach außen und seiner Neigung zur Selbstdarstellung besetzt das Selbstverwirklichungsmilieu unsere Alltagserfahrung stärker als jedes andere Milieu, so Schulze in seiner Untersuchung. Um einem Mißverständnis vorzubeugen sei darauf hingewiesen, daß mit der Unterscheidung von Milieus nicht etwa ein isoliertes oder gar altersspezifisches Nebeneinander von Profilen oder "Mentalitätsgruppen" gemeint ist, sondern vielmehr modelltypische Konstruktionen, die in der gesellschaftlichen Realität in bunter Durchmischung auftreten und einen zum Teil hohen Grad innerer Segmentierung aufweisen. In der Konsequenz bedeutet dies, daß die im Spannungsschema unterstellte Suche nach Erlebnisdichte nicht ausschließlich auf eine spezifische Trägergruppe (z.B. Subkulturen) bezogen ist, sondern – bezogen auf die lebenszyklische Betrachtung – universell zum tragen kommt.

Hier ist nicht der Ort, die immanenten Voraussetzungen und Betrachtungsschritte der Untersuchung Gerhard Schulzes im einzelnen auszubreiten. Mit Blick auf die Fragestellung dieses Kapitels ist festzuhalten, daß Schulze im Ergebnis seiner Untersuchung den kulturellen Übergang der bundesrepublikanischen Gesellschaft von der Phase des Kulturkonflikts zur Erlebnisgesellschaft als fast abgeschlossen konstatiert. In ihr hat sich der Erlebnismarkt zu einem beherrschenden Bereich des täglichen Lebens entwickelt und bündelt enorme Mengen an Produktionskapazität, Nachfragepotential, politischer Energie, gedanklicher Aktivität und Lebenszeit. Unübersehbar dominieren psychische und physische Formen des Genusses: gute Laune, Entspannung, Erregung, Unterhaltung, Gemütlichkeit, Coolness, Sensation der Sinne – nie Gesehenes, nie Gehörtes, unvergleichliche Gefühle und dergleichen. Es zählt, so Schulze, "die raffinierte Idee, der prickelnde kleine Schock noch unverbrauchter Stilbrüche, die Eindrücklichkeit der Aufmachung, die gut in Szene gesetzte Enttabuisierung der letzten Reste öffentlicher Geltungen."

Die erstmals im Jahre 1992 herausgebrachte Untersuchung Gerhard Schulzes wird auch heute, zum Ende der 90er Jahre, durch die wachsende Attraktivität vielfältiger Erlebnis-Szenarien eindrucksvoll bestätigt. Die Branche der Erlebnis- und Entertainement-Parks boomt. Der Movie- und Entertainement Park "Warner Bros. Movie World" in Bottrop-Kirchhellen (bisheriges Investitionsvolumen 389 Mio DM) wird von Gästen derart belagert, daß der Andrang vor manchen Attraktionen mit Hilfe von Schildern "Ab hier 90 Minuten Wartezeit" geordnet werden muß.

Auch der "Europa Freizeit- und Familienpark" im badischen Örtchen Rust, mit der jährlichen Investitionssumme von 90 Mio DM, wurde bisher von 3 Millionen Besuchern aufgesucht und verzeichnet allein mit seinem Hotelbetrieb in der Saison mehr Gästeankünfte als die benachbarte Stadt Freiburg im Breisgau insgesamt. Ein recht spektakuläres Vergnügen bietet die Laser Arena des Taurus Tropical Party Centers im niederländischen Venlo, eine Einrichtung, die von deutschen Gästen in Massen belagert wird. Die Besucher werden am Eingang mit Laserwaffen ausgerüstet und können dann in den verwinkelten Ecken der großen dunklen Halle Angriffs- und Kriegsspielszenarien lebensnah durchspielen. Anhand der mit Sensoren ausgerüsteten Weste, die alle Spieler anlegen müssen, ist jeder Treffer nachvollziehbar. So kann beispielsweise der Spieler Jens mit seinem Computerausdruck belegen, daß er in 18 Minuten Spielzeit 1.400 mal abgedrückt und zu 70 % getroffen hat.

Jenseits der Großveranstaltungen der "Mega-Parks" gibt es im lebensweltlichen Alltag der späten 90er Jahre eine unübersehbare Fülle an erlebnisorientierten Aktivitätsformen. Neben Schaumparties, Club-Spielen, Radio-Parties, blackout-Parties, ("mit optimalen Bedingungen für unkontrollierten Körperkontakt") und jugendspezifischen Erlebnisformen haben sich vor allem Traumhochzeiten mit Erlebnischarakter in den Vordergrund des Interesses geschoben (vgl. Anhang 1).

Nachdem am 3. 6. 1997 die erste Trauung im Elefantenhaus des Duisburger Zoos, eine Woche später eine weitere in einer Gebläsehalle eines verfallenen Industriegeländes stattgefunden hat, hat die "größte Baustelle Europas" (Potsdamer Platz) gleich nachgezogen. Am 29. 7. 1997 erklärte das Berliner "Rathaus Mitte", ab sofort könnten Hochzeitspaare im Infobox-Container inmitten der Baustelle in 23 Meter Höhe getraut werden. Für 199 DM pro Stunde gebe es zudem einen Dachterrassen-Besuch sowie den Katalog der Ausstellung über die Bauten am Potsdamer Platz. Die Nachfrage hatte ungeahnte Resonanz. Auch Reiseveranstalter bieten "exotische Traumhochzeiten mit Erlebnischarakter" an, bei denen man wählen kann zwischen der Unterwasser-Hochzeit für Hobbytaucher, einer Hochzeitszeremonie unter Navajo-Indianern im amerikanischen Monument Valley, einem Hochzeits-Event unter Flußpferden in Botswana oder im Heißluftballon über dem australischen Ayers Rock. Bei allen Angeboten verzeichnen die Anbieter eine steigende Nachfragetendenz (vgl. Anhang 1).

Die Aufzählung der Event-Szenarien könnte hier endlos fortgesetzt werden. Festzuhalten bleibt, daß das Erlebnisschema zum universellen Merkmal lebensweltlicher Aktivitätsformen geworden ist und zwar von Freizeitbeschäftigungen hin bis zur Struktur politischer Großveranstaltungen, die unter dem Titel "Erlebnis-Politik" und "Politisches Event Design" entworfen werden.

Vom Kunden als 'Otto Normalverbraucher', so Heinrich Litzendörfer von der Nürnberger Gesellschaft für Konsumforschung, haben wir uns längst verabschiedet. Im Mittelpunkt, so Litzendörfer, steht heute der fröhlich hedonistische Verbraucher, der individualisierte und multioptinale Konsument. Er strebt nach Selbstverwirklichung und einer genußreichen abenteuerlichen Lebensgestaltung, wer ihn anzusprechen versteht, kann mächtig profitieren. Das Publikum und die Erlebnisanbieter, so Gerhard Schulze in seiner Untersuchung, sind nicht nur aufeinander eingespielt, sondern beherrschen jeweils routiniert und 'professionell' ihr Metier: Haben die Anbieter mit den ungeschriebenen Regeln des Erlebnismarketings das Produktspektrum erweitert, die Absatzmenge gesteigert und die Qualität angebotener Erlebnisdichte intensiviert und verfeinert, so wird auf der Seite der Nachfrager alles begierig aufgenommen, ausprobiert, bis man schließlich an das Neue gewöhnt ist. Das unaufhörliche Pulsieren der nachfolgenden Produktionsstöße des Erlebnismarktes setzt einen Konsumenten voraus, so Schulze, "dem es mehr auf das Nehmen ankommt als auf das Haben. Der Idealkonsument des Erlebnismarktes ist ein Kanal, durch den die Angebote hindurchströmen, nicht ein Behältnis, in dem sie sich sammeln."

Die nachfolgenden Ausführungen sollen zeigen, daß erlebniszentrierte Aktivitäten zumeist gekoppelt sind an spezifische Nebenattribute und Symbole, die die informelle Zugehörigkeit des agierenden Subjekts zu einer Kult-, Lebensstil- und Szenengemeinschaft signalisieren sollen.

4. Szenen, Trends und Zeichen: "Vergeßt alle Systeme!"

Das gestiegene Bedürfnis nach emotionaler Anregung im Erlebnis ist gekoppelt mit der Suche nach Zeichen. Es gibt vielfältige Möglichkeiten, durch die bewußte Wahl von Zeichen und Attributen den persönlichen Stil auszuformulieren, wie z.B. durch den Konsum. Die emotionale Positionierung von Produkten, ihr Image, ihr Symbolgehalt, sind nach einhelliger Einschätzung der Marketingforscher zunehmend wichtiger geworden. In verstärktem Maße versuchen sich die Individuen mit Hilfe des Konsums imagegeladener Produkte zu definieren, darzustellen und voneinander abzugrenzen. Denselben Effekt erreichen sie im Nachvollzug von Trends und in der Wahl von Szenen. Was sich hier auftut, ist ein riesiges Spiel mit Accessoires und Symbolik, mit dem das individuelle Selbstkonzept einer Person entfaltet und zelebriert wird (Kongruitätshypothese). Wir betreten hier ein Untersuchungsfeld sozialwissenschaftlicher und sozialpsychologischer Forschung, das in den letzten Jahren intensiv bearbeitet worden ist. Die Ergebnisse können hier auch nicht annähernd eingeholt werden. Da jedoch die Beobachtungen zu dieser Thematik auch mit Blick auf Kapitel V des zweiten Teils dieser Arbeit von zentraler Bedeutung sind, soll die Frage nach Trends, Szenen und Zeichen zumindest an einer ausschnitthaften Detailbetrachtung, d.h. hier: am Beispiel jugendlicher Kult-Szenen behandelt werden.

"Das Snowboard ist mehr als ein neues Sportgerät", so heißt es in einer 1995 erschienenen österreichischen Studie über die Zukunft des Wintersports, "es steht im Mittelpunkt eines Kults, dessen Umfang, Intensität und Dauer nicht abzusehen ist."

Dazu gehören neben den bunt ornamentierten Brettern eine fetzige Kleidung, Musik aus dem Computer, ein eigener Jargon und wilde Parties: weite, in gedämpften Erdtönen gehaltene Kapuzenanoraks, riesige karierte Holzfällerhemden, ausladende Latzhosen, knielange Sweatshirts mit Aufdrucken wie "Killer Loop", "Protest" oder "Airwalk." Dazu gehören schräge Sonnenbrillen, verkehrt herum aufgesetzte Baseballkappen, silberne Ohrringe oder gelb gefärbte Haare. Hip Hop, Techno, Rave oder Jungle werden in die walkmen eingelegt. Musik von den Beastie Boys, Dog Eat Dog oder Freaky Fuckin' Feidoz dröhnt vielhundertwattstark aus den Boxen, die während der Weltcup-Wettbewerbe die jumps und loops der Brettartisten akustisch untermalen.

Unter dem Titel "Sie dürfen alles, nur nicht nett sein" betreten im Jahre 1995 die "Girlies" oder "Bad Girls" die öffentliche Bühne: junge, selbstbewußte und feministisch ausgerichtete Mädchen, die mit kurzen Röcken und groben Stiefeln das Bild der Modejournals, der Jugendsender (VIVA, MTV) und Parties in Scharen mitbestimmen. Das Buch der Wiesbadener Autorin Ute Erhardt "Gute Mädchen kommen in den Himmel, böse überall hin", hat im Jahre 1995 den Sprung auf Platz 1 der Bestseller-Listen geschafft und ist zum Kultbuch der Szene avanciert. Als Credo der modebewußten Szene war der Titel des Buches auf T-Shirts, Buttons oder als Graffiti auf Hauswänden und U-Bahnen wiederzufinden.

Was hier in sehr exponierter Form am Beispiel von Trendgruppen der Jugendszenen erkennbar wird, läßt sich in verschiedenen Intensitätsgraden universal feststellen: Die Gesellschaft wird zunehmend als Spielfeld entdeckt, auf dem die Zugehörigkeit zu spezifischen Milieus, Lebensstilgemeinschaften und Kultszenen symbolträchtig demonstriert wird.

In den hier vorgestellten Beispielen kommen alle Elemente gleichzeitig zum Ausdruck: Szenen, Trends und Zeichen.

Eine Szene, so soll in Anlehnung an Gerhard Schulze definiert werden, ist ein Netzwerk von Publika, das aus drei Arten der Ähnlichkeit entsteht: partielle Identität von Personen, von Orten und Inhalten. Eine Szene hat ihr Stammpublikum, ihre Lokalitäten und ihr typisches Erlebnisangebot. Szenen entstehen dort, wo Individuen freiwillig gemeinsame Interessen, Wertvorstellungen und Freizeitaktivitäten ausleben und dabei z.T. gemeinsame Konsumgewohnheiten ausbilden. Empirische Untersuchungen zeigen, daß "multilokale" Szenen in ihrer Bedeutung für die Jugendkultur kaum zu unterschätzen sind; in der Bewertung einiger Autoren sind sie die universale Gesellschaftsordnung der 90er Jahre. "Multilokal" deshalb, weil die Stammpublika von Szenen – aufgrund gestiegener Mobilität – häufig zwischen einer Mehrzahl verschiedener Einrichtungen hin- und herwechseln. Durch ihr Nachfrageverhalten bündeln die Erlebniskonsumenten eine Mehrzahl von Einrichtungen zu einem übergreifenden Zusammenhang, so daß sich der einzelne Teilnehmer einer bestimmten Szene in verschiedenen räumlichen Kontexten immer wieder als Bestandteil ähnlicher Publika erfährt.

Szenen konstituieren sich durch Zeichen, entwickeln geradezu eine perfekte, von den Trägergruppen sensibel beobachtete Infrastruktur äußerer Attribute und Symbole: Kleidung, Sprach- und Musikstile, Konsumgewohnheiten, Nachfrage von Erlebnisangeboten; dabei sind Marken zu einem festen Bezugspunkt geworden. Durch gemeinsame Strategien bei der die Teilnehmer von Szenen ihre ästhetische Kompetenz zum Ausdruck bringen – oft überdeutlich, demonstrativ, intolerant gegenüber ungewöhnlichen Verarbeitungsformen -, wird die Zuordnung des jeweils zentralen Zeichens zu einem gemeinsamen Bedeutungskomplex kollektiv einstudiert und stabilisiert. "Jeder ist gleichzeitig Zuschauer und Darsteller, alle definieren einander vor, welche Zeichen zum semiotischen Vorrat eines alltagsästhetischen Schemas gehören."

Bei der Inflation von Zeichen, Stilen und Inhalten liegt es auf der Hand, daß sie nicht nur konsumiert bzw. 'geradlinig' ausgelebt werden (wie z.B. eine Sportart), sondern als Baukasten für eigene Ideen, Kreationen und Neukombinationen genutzt werden. Man samplet Bruchstücke vorhandener Zeichen und setzt sie wie eine Collage neu zusammen. Janke und Niehues sind der Auffassung, daß die Sample-Kultur zu einer der wichtigsten jugendkulturellen Strategien der 90er Jahre geworden ist.

Die 'Sample-Kultur' ist dabei nicht nur eine Technik, sondern gleichsam eine Ideologie, die die freie Verfügbarkeit und Kombinierbarkeit aller Symbole predigt. Sie besagt im Kern: Nichts ist heilig, - mit allem darf man spielen.

Vor diesem Hintergrund wird die unüberschaubare Vielfalt, Dynamik und Schnellebigkeit von Trends erklärbar. Nach Janke und Niehues werden Trends durch drei Elemente konstituiert: durch Innovation (ein neues Phänomen, das Ausstrahlungskraft hat), Identifikation (ein Nerv, den dieses Phänomen bei den Jugendlichen trifft) und Muliplikation (eine Marketing-Maschinerie, die den Trend verbreitet). Die 90er Jahre setzen hierin Maßstäbe wie kein anderes Jahrzehnt zuvor: Kein Tag vergeht, an dem nicht in irgendeinem Branchenblatt ein neuer Trend prognostiziert wird. Marketingagenturen haben, gestützt durch die unermüdliche Aktivität zahlreicher Trend-Scouts, Trends für ihre unternehmerischen Ziele lückenlos vereinnahmt und funktionalisiert.

Aber auch sie haben bereits festgestellt, auf welch wackeligen Füßen ihr Arbeitsfeld ruht: Astrid Middelmann-Motz vom Münchner Institut für Jugendforschung stellt fest: "Alles kann schon wieder out sein, bevor die Unternehmen mit dem passenden Produkt reagiert haben;" andererseits sei gerade das Jugendmarketing so wichtig, weil auch die ältere Generation darauf schiele, was gerade 'in' sei.

In der noch weitgehend unerforschten Landschaft von Trends und Szenen deutscher Jugendkultur müssen noch viele Fragen offenbleiben. Alles deutet darauf hin, daß sich hier die größte Partialisierung, eine bisher nie registrierte Zersplitterung in Kulturen, Subkulturen, Cliquen und Einzelgänger auffinden läßt, die in einem herkömmlichen sozialstrukturellen Grobraster längst nicht mehr unterzubringen sind. Dementsprechend vielfältig und differenziert fallen auch die benutzten Zeichen und Attribute aus, die der gegenseitigen Abgrenzung bzw. dem Erkennen dienen: Eine unübersehbare Fülle von Kleiderordnungen, Verhaltensnormen, Konsumartikeln, Aktivitätsformen und Sprachcodes tummelt sich zwischen den Gesetzen von Innovation und Erosion. Alle oben genannten Elemente werden als innovative und profilierungsstarke Zeichen entdeckt, nach individuellem Programm "gemixt", bis sie in Schärfenkontur und Bindungskraft aufgrund neuer Entwicklungen verblassen und schließlich nach zum Teil kurzer Lebensdauer irrelevant werden.

"Wie Feuerwerkskörper", so kann in Anlehnung an Peter Gross formuliert werden, "zischen Trends, Szenen und Zeichen am Nachthimmel entlang, glühen auf und verschwinden wieder." – "Vergeßt alle Systeme!", lautet der Rat an die Erwachsenen.

Die Implikationen sind erheblich: Die grassierende Multioptionalität der Trends, Szenen und Zeichen hat insgesamt dazu geführt, daß alle Dinge in einem Meer des Bedeutungsrelativismus versinken. Das Ganze kann niemand mehr überblicken. Eine dauerhafte Symbolik kann nicht mehr aufgebaut werden. Gleichmütig, so konstatieren Janke und Niehues, werden verschiedene Parallelwelten betreten. Man verliert sich darin und verläßt sie wieder und je öfter man sie nutzt, je mehr Zeit man in dieser fiktiven Realität verbringt, desto mehr rückt die tatsächliche Welt an den Rand der Wahrnehmung.

Es liegt auf der Hand, daß in dieser Landschaft des Reizüberflusses wechselnder Trends- und Szenenkarussels die Selbstinszenierung des Subjekts zu einem 'harten Geschäft' geworden ist. Das Subjekt ist unentwegt getrieben von dem Zwang zur Entscheidung, von der hektischen Suche nach neuen unverbrauchten Zeichen, die das Selbst einigermaßen verläßlich konstituieren sollen. Dabei erlebt es sich unter der Anforderung hoher Flexibilität und Dynamik: Der widersprüchliche Bedeutungsgehalt verschiedener aufgenommener Zeichen muß ausgehalten werden, Elemente, die bedeutungsschwach geworden sind, müssen wieder verworfen und gegen neue ausgewechselt werden und zwar so, daß die Erfahrung "innerer Kohärenz" dennoch möglichst unbeschädigt bleibt. Der Aufbau von Identität im herkömmlichen Verständnis (Vgl. S. 5) wird damit zur Fiktion.

Die Ausführungen dieses Abschnitts gelangen also zu einem ähnlichen Ergebnis wie das Fazit des Kapitels zur "Erlebniszentrierung": Die grassierende Multioptionalität der Trends, Szenen und Zeichen hat dazu geführt, daß alle Dinge wichtig und damit insgesamt unwichtig geworden sind.

5. 'Bodenlosigkeit' als Grundverfassung: Der Verlust des Selbst

Wir fassen zusammen: Die Suche nach Selbstvergewisserung, nach Optimierung und Vervollkommnung der Selbstdarstellung im Selbstkonzept hat sich zu einer alle Lebensbereiche durchdringenden kollektiven Besessenheit entwickelt und damit jenen "Kult ums Ich" Wirklichkeit werden lassen, den Christopher Lasch vor gut einem Jahrzehnt als zivilisatorische Tendenz benannte. Die Götzen, deren Kult wir sehen, so Max Weber, "sind 'Persönlichkeit' und 'Erleben'. Beide sind eng verbunden: Die Vorstellung herrscht, das letztere mache das erstere aus und gehöre zu ihr. Man quält sich ab zu erleben." Die Ausführungen der vorangegangenen Abschnitte konnten nur andeuten, daß dem Subjekt auf allen hier thematisierten Ebenen gleichzeitig ein unerschöpfliches Reservoir an Optionen zur Verfügung steht. Die Wahlfreiheiten sind nicht nur größer geworden, sondern, wie Peter Gross feststellt, unter dem Himmel der Konjunktive geradezu geplatzt. Im Namen der Steigerungs- und Inklusionsprogramme wird alles orgiastischer: "Jeder wird mit dem Kopf in die Optionen getaucht; eine entsperrte, obsessive Phantasie fließt, strömt ohne Zähmung von oben nach unten, vom Kopf in die Füße und setzt diese in Bewegung, implosionsartig, tagtäglich ... in abermillionen Leibern."

Überall, so wollen wir etwas plakativ formulieren, treten Leute (Gladiatoren) an, die sich für eine 'Sensation' halten. Hunderte von Fachzeitschriften widmen sich diesem leidenschaftlichen Gehabe, sie kultivieren den Gladiator in seiner radikalen Borniertheit. Ist Selbstbehauptung einerseits das maßgebende und durchgehende Motiv dieser Bemühungen, so stimmen wir andererseits Thomas Steinfeld zu, wenn er nüchtern resümiert, am Ende des vermeintlichen Selbstbehauptungswillen stehe ein "dickes, hohles Ich." Heute erleben wir das, was bereits Nietzsche in seiner Experimentalphilosophie in bestechender Klarheit zum Ausdruck brachte: "Der Mensch der 'modernen Ideen', dieser stolze Affe, ist unbändig mit sich selbst unzufrieden,- dies steht fest. Er braucht schlechterdings ein Kostüm, ... freilich bemerkt er dabei, daß ihm keines recht auf den Leib paßt; er wechselt und wechselt .. bis hin zu dem Augenblick der Verzweiflung darüber, daß ihm 'nichts steht’. Wir sind das erste studierte Zeitalter in puncto Kostüme, ich meine der Moralen, Glaubensartikel, Kunstgeschmäcker und Religionen, vorbereitet wie noch keine Zeit es war, zum Karneval großen Stils, zum geistigsten Faschings-Gelächter und Übermut, zur transzendentalen Höhe des höchsten Blödsinns und der 'aristophanischen Weltverspottung'."

Das Maß, so Nietzsche weiter, ist uns fremd geworden. Unser Kitzel ist gerade der Kitzel des Unendlichen, Ungemessenen. Gleich dem Reiter auf vorwärtsschnaubendem Rosse lassen wir vor dem Unendlichen die Zügel fallen, "wir modernen Menschen, wir Halbbarbaren – und sind erst dort in unserer Seligkeit, wo wir am meisten in Gefahr sind."

Nietzsche hat sehr deutlich gesehen, daß mit dem auf allen Koordinaten des Lebens freigesetzten Optionspluralismus ein steinharter Realisierungsdruck für den einzelnen verbunden ist. Das Individuum, so Nietzsche, steht einsam da, genötigt zu einer eigenen Gesetzgebung, zu eigenen Künsten und Listen der Selbsterhaltung, Selbst-Erhöhung, Selbst-Erlösung: "Lauter neue Wozus, lauter neue Womits, keine gemeinsamen Formeln mehr, Mißverständnis und Mißachtung miteinander im Bunde, der Verfall, Verderb und die höchsten Begierden schauerlich verknotet, das Genie der Rasse aus allen Füllhörnern des Guten und Schlimmen überquellend, ein verhängnisvolles Zugleich von Frühling und Herbst, voll neuer Reize und Schleier, die der jungen, noch unausgeschöpften, noch unermüdeten Verderbnis zu eigen sind. ... Die Gefahr (ist) diesmal ins Individuum verlegt, in den Nächsten und Freund, auf die Gasse, ins eigene Kind, ins eigene Herz, in alles Eigenste und Geheimste von Wunsch und Wille. Sie alle ...entdecken, daß nichts bis übermorgen steht."

Die Konsequenz dieser Bestandsaufnahme liegt für Nietzsche klar vor Augen: Gerade das Anders-sein-können, das Allein-stehen und Auf-eigene-Faust-leben-können, sind für ihn Bestandteile des Begriffs Größe. Die Größe des Menschen und sein Rang hängt davon ab, inwieweit er die Vielfältigkeit in die Ganzheit seiner Person aufnehmen, wieviel er an Differenz (er)tragen kann.

Kam im oben genannten Modell "Wir sind, wenn wir tun" zum Ausdruck, daß die Aktivitäten des Subjekts vor dem Hintergrund erweiterter Freiheitsspielräume vorrangig darauf ausgerichtet sind, Individualität durch gesteigerte Selbstreflexivität herzustellen, so müssen wir jetzt hinzufügen, daß diese Bemühungen nicht halten, was sie vordergründig versprechen. Die von uns feststellbaren Formen der Individualisierung beinhalten gleichermaßen vollkommene Marktabhängigkeit, Standardisierung des Ausdrucksverhaltens und überwältigende Außenkontrolle. "Ich erblicke eine Menge einander ähnlicher und gleichgestellter Menschen, die sich rastlos im Kreise drehen, um sich kleine und gewöhnliche Vergnügungen zu schaffen, die ihr Gemüt ausfüllen", so lautete schon die Warnung Alexis de Tocqueville an das zukünftige Individuum. "Jeder steht in seiner Vereinzelung dem Schicksal aller fremd gegenüber... Über diesen erhebt sich eine gewaltige, bevormundende Macht, die allein dafür sorgt, die Genüsse zu sichern und das Schicksal zu überwachen. Sie ist unumschränkt, ins einzelne gehend, regelmäßig, vorsorglich und mild ... Auf diese Weise macht sie den Gebrauch des freien Willens mit jedem Tag wertloser und seltener."

Auf unseren Zusammenhang übertragen, können wir folgendes feststellen: Je zahlreicher die Wahlmöglichkeiten des Subjekts in den o.g. Formen ausfallen, desto beliebiger und bedeutungsloser ist das Gewählte, desto hektischer sind alle weiteren Versuche, sinnhaftes Erleben auf Intensität hin zu verdichten. Unter dem harten Diktum 'entweder hoffnungslos antiquiert oder erbarmungslos flexibilisiert', ist auf allen Ebenen die Abhängigkeit von Experten und Institutionen gewachsen: Mit Fachwissen, Rezepten und Dienstleistungen stehen Spezialisten zur möglichst effizienten Umsetzung genußvollen Erlebens bereit. Mit der Hinwendung zu diesen Experten wird ein Markt betreten, der unter dem Dach einer expandierenden Werbe- und Freizeitindustrie unzählige 'Freizeitidentitäten', als komplett vorgefertigte 'Angebotshülsen' bereithält. Ihre Attraktivität besteht darin, daß die Qualen der sinnstiftenden 'Selbsterschaffung' einer spezifischen Erlebnisqualität hier ersetzt werden durch den eher angenehmen Akt der Wahl zwischen vorgefertigten Mustern, die selbst mit dem Etikett der sozialen Anerkennung versehen sind, das ihnen bereits vorab verpaßt worden ist. Und selbst dann, wenn es mit einem solchen 'Erlebnisrezept', bzw. wenn es mit einer 'synthetischen Identitätshülse' mal nicht gelingt, den angestrebten Erlebnishunger satt zu befriedigen, so resultiert daraus keineswegs eine Entzauberung dieses Mechanismus, sondern es führt allenfalls zu Selbstvorwürfen und zu einer noch hektischeren Suche nach effizienteren Mustern. Nietzsche hat recht: "Es sind .. arme Geister, welche verbergen und verleugnen möchten, daß sie zerbrochene, stolze unheilbare Herzen sind, (..) und bisweilen ist die Narrheit selbst die Maske für ein unseliges allzugewisses Wissen."

Die Menschen, so Viktor E. Frankl auf dem Weltkongreß für Psychotherapie im Jahre 1994, werden von einem Willen zum Sein angetrieben, der heute weltweit frustriert wird. Denn, so kann die Begründung mit Gerhard Schulze lauten, ihnen bleibt die bittere Wahrheit verschlossen, "daß nur das Erlebnisangebot käuflich ist und nicht das Erlebnis selbst." Wir fühlen uns hierbei an die Ausstellung "Freizeitpark" des Münchner Künstlers und Bildhauers Olaf Menzel im September 1996 erinnert: In einem langgestreckten Ausstellungsraum befindet sich ein doppelreihiger Ring aus gebrauchten Leitplanken. Mit der hier aufkommenden Assoziation zum "Kreisverkehr des Vergnügens", der sich um Auto, Reisen und Sport dreht, wird in eindrucksvoller Weise die 'kreisende Leere' panischer Erlebnissuche offenbar. Hier wird greifbar und erlebbar, wie der permanente Erlebnishunger und die Sucht nach immer neuen Kicks in zirkulärer Wiederholung letztlich in einer undefinierten Müdigkeit und harten Außensteuerung enden.

Getrieben von dem atemlosen Rhythmus der Wellen, durch die die wachsenden Ereignismassen auf den einzelnen einstürzen, und von dem Gefühl befallen, immer weniger davon bewältigen zu können, entfernt sich das Subjekt mehr und mehr von dem Versuch eines authentischen Selbstentwurfs.

Mit der Käuflichkeit o. g. 'Identitäten' werden letztlich nur Rollen konsumiert, die unter den Gesetzen der Vermassung und Funktionalisierung entworfen werden und die Autonomie des Einzelnen bedrohen. Das Ich gerät andauernd in Gefahr, sich im endlosen Möglichkeitsraum gegenseitig ersetzbarer Optionen aufzuspalten, wird weich, zerfließt und verliert sich darin; oder es gerät unter die starren Zwänge kollektiver Kanalisierung und Institutionalisierung. Es bedarf keiner tiefgreifenden Analysen, um zu sehen, wie die Subjekte auf ihrer großen Suche nach Individualität in Wahrheit als kleine Marionetten in kollektiver Trance verharren, einer stählernen Standardisierung ausgesetzt sind, die außer Massenkonformität nichts übrig läßt.

Auch hier ist beeindruckend zu beobachten, mit welcher schonungslosen Prägnanz bereits Nietzsche diesen Sachverhalt beschrieben hat: "Wer die Gesamt-Entartung und Verkleinerung des Menschen zum vollkommenen Herdentiere (oder, wie sie sagen, zum Menschen der 'freien Gesellschaft'), diese Vertierung des Menschen zum Zwergtiere gesehen und einmal bis zu Ende gedacht hat, der kennt einen Ekel mehr... und vielleicht eine neue Aufgabe."

In der neueren soziologischen Forschung gibt es eine Fülle von Untersuchungen, die die paradoxe Struktur von Individualisierung und kollektiver Standardisierung reflektieren. So hat z.B. Ulrich Beck in seinem Band "Risikogesellschaft" anhand mehrerer Detailbeobachtungen aufgezeigt, in welcher Weise sich Individualisierung unter den Rahmenbedingungen eines Vergesellschaftungsprozesses vollzieht, der seinerseits individuelle Verselbständigungen gerade in zunehmendem Maße unmöglich macht. Die Herauslösung aus traditionalen Lebenszusammenhängen, so Beck, gehe mit einer Vereinheitlichung und Standardisierung der Existenzformen einher; es entstehe "das soziale Strukturbild eines individualisierten Massenpublikums oder – schärfer formuliert – das standardisierte Kollektivdasein vereinzelter Massen-Eremiten." Eine mittlerweile 'klassisch' gewordene Schilderung des Zusammenhangs findet sich in der 'Dialektik der Aufklärung' von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer. Was hier in den vierziger Jahren an sozialkritischer Analyse mit Blick auf Medien und Kulturindustrie formuliert wurde, hat heute im Hinblick auf das expressive Darstellungsprogramm des Subjekts im Rahmen eines expansiven Erlebnismarktes unverkürzte Geltung und Aktualität: "Der Generalnenner der Kultur", so Horkheimer und Adorno, "enthält virtuell bereits die Erfassung, Katalogisierung, Klassifizierung, welche die Kultur ins Reich der Administration hineinnimmt. Erst die industrialisierte, die konsequente Subsumtion ist diesem Begriff von Kultur ganz angemessen. Indem sie alle Zweige der geistigen Produktion in gleicher Weise dem einen Zweck unterstellt, die Sinne der Menschen vom Ausgang aus der Fabrik am Abend zur Ankunft bei der Stechuhr am nächsten Morgen mit den Siegeln jenes Arbeitsganges zu besetzen, den sie den Tag über selbst unterhalten müssen, erfüllt sie höhnisch den Begriff der einheitlichen Kultur, den die Persönlichkeitsphilosophien der Vermassung entgegenhielten."

Die von Horkheimer und Adorno konstatierte Entwicklung ist längst erhärtet worden, daß nämlich die durch Moden, Trends und Erlebnismärkte heiß stimulierte Gesellschaft in stählernem Rhythmus zu unersättlicher Uniformität getrieben wurde, daß sie die Imitation absolut gesetzt hat und sich allenfalls mit der Reproduktion desselben bescheidet. "Alle sind frei, zu tanzen und sich zu vergnügen. Aber die Freiheit in der Wahl der Ideologie, die stets den wirtschaftlichen Zwang zurückstrahlt, erweist sich in allen Sparten als die Freiheit zum Immergleichen."

Die Maschine rotiert auf der gleichen Stelle. Gefragt sind Tempo und Dynamik. Nichts darf beim Alten bleiben, alles muß unablässig laufen, in Bewegung sein und "das Weitergehen und Weitermachen wird zur Rechtfertigung für den blinden Fortbestand des Systems, - ja für seine Unabänderlichkeit."

Je fester dieser Mechanismus läuft, so Horkheimer und Adorno, um so summarischer kann die Erlebnisindustrie mit den Bedürfnissen der Konsumenten verfahren, sie produzieren, steuern und disziplinieren. "Pseudoindividualität", so die Autoren, wird für die Erfassung und Entgiftung der Tragik vorausgesetzt: "Nur dadurch, daß Individuen gar keine sind, sondern bloße Verkehrsknotenpunkte des Allgemeinen, ist es möglich, sie bruchlos in die Allgemeinheit zurückzunehmen."

Auch diese Zusammenhänge haben ihre Parallelen in der aktuellen Gegenwartskunst: In der Oper "The Mother of Black-Winged Dreams" von Hanna Kulenty und dem kanadischen Schriftsteller Paul Goodman wird Clara, die Heldin des Stücks, mit gleich zwei Double-Paaren konfrontiert, die sich zum Verwechseln ähnlich sehen. Symbolisch für die Multiplikation und Abspaltung vom Ego heißen sie "Schere" und "Klick", das zerschnippelte Ich. Während Clara selbst weitgehend passiv bleibt, übernehmen die anderen die Handlung, die bei allen Steigerungen letztlich in Monotonie und mechanistischen Vervielfältigen erstarrt.

6. Gesellschaftliche Rahmenbedingungen: Das Ende der metaphysischen Geborgenheit

Sowohl die Mythologien der Antike als auch das Christentum des Mittelalters führten zu einer durchgehenden Verankerung des Menschen in einem Un-Bedingten. War noch im Mittelalter die christliche Lehre durchgehende Sinn- und Ordnungsstruktur sozialen Lebens, Grundkonsens und Legitimationsinstanz des Denkens und Handelns, so beginnt mit der neuzeitlich philosophischen Reflexion über die Autonomie menschlicher Vernunft ein radikaler Umbruch, der zur universalen Durchsetzung des selbständigen, unabhängigen, von sich ausgehenden Denkens führte. Mit dem aufkommenden Grundtypus der instrumentellen Vernunft, die ihrer eigenen Gesetzlichkeit folgt, begann die Plausibilitätsstruktur der christlichen Welt zu wanken, wurden große Teile der Gesellschaft und Ausschnitte der Kultur aus der Herrschaft religiöser Institutionen und Symbole entlassen, wurde schließlich das Gebäude der Wissenschaft neu errichtet und die rational-systematische Weltbeherrschung der wissenschaftlich-technischen Zivilisation ermöglicht. Dieser Umbruch und Wandel in der Grundstruktur des Denkens, der weitreichende Folgen auf allen Ebenen gesellschaftlichen Lebens mit sich brachte, war ein langer, komplexer und dynamischer Prozeß, der – keineswegs gradlinig – in der Spannung von Gegenbewegungen und Entwicklungsschüben vorangekommen ist.

Er nahm seinen Anfang mit der italienischen Renaissance des 15. / 16. Jahrhunderts und gelangte über den Humanismus, die deutsche Reformation und die französische Aufklärung zu weiter Ausdifferenzierung. Konnte sich die Vernunft früher in ihrer weltbildkonstituierenden Rolle und Überlegenheit gegenüber den traditionalen Wissensbeständen des Christentums und Humanismus als die klassische Einheitsinstanz behaupten und ihren Monopolanspruch gegenüber der außerfachlichen Öffentlichkeit aufrechterhalten, so ist sie sich nun selbst zum Problem geworden: Wissenschaft beginnt sich selbst zu überprüfen, wird selbstbezüglich (reflexiv), hat die Basis ihrer ontologischen Voraussetzungen und Prinzipien verloren. Sie wird eine unter anderen Möglichkeiten der Weltdeutung.

Die Moderne hielt, um eine Formulierung Zygmunt Baumanns aufzugreifen, die Differenzierung, die sie durchsetzte, für Universalisierung; sie ging davon aus, daß das Projekt der Universalität unvollständig sein mag, aber höchst definitiv bestehen bleiben würde. Heute erkennt sie diesen Selbstbetrug: Es gibt keine allgemeinen Bezugspunkte mehr, keine metaphysische Einheit, kein letztes Ziel; es gibt nicht mehr die Universalität einer höchsten philosophischen oder politischen Ordnung. Die sichere Einbettung des einzelnen in ein metaphysisches System traditioneller Wirklichkeitsdefinitionen und absoluter Gewißheiten ist zerbrochen.

Nur Nebel und Sand in die Augen gibt es für den, der noch Anworten auf letzte Fragen erwartet. Der verunsicherte Denker, so André Glucksmann, "hat nicht mehr die Schlüssel fürs soziale oder moralische Paradies. Jetzt möbliert er unsere vollgepfropften Höllen mit dem leeren Himmel. Er gibt sich als Meisterdesillusionierer. Nur eines verlangt er noch: Man soll ihn nichts mehr fragen. Damit hat er die Anwort auf alles."

Durch die kritisch-reflexive Hinterfragung und Zerlegung aller Geltungsansprüche wurden absolute Gewißheiten Zug um Zug als selbstgemachte Illusion entlarvt. Der Motor der gesellschaftlichen Entwicklung hat in seiner rasanten Dynamik das normative Gefüge gesellschaftlich abgesicherter Geborgenheitsräume mit ihr sinnstiftenden Lenkungs- und Stabilisierungsfunktion untergraben und damit die durchgehende Verläßlichkeit unstrittiger Basissicherheiten der individuellen Lebensführung in hohem Maße zerstört.

An die gleiche Stelle der einen Weltgeschichte ist die horizontale Gleich-zeitigkeit verschiedener zersplitterter Rationalitäten, Wahrheiten und Weltbilder getreten, deren unterschiedliche Geltungs- und Gültigkeitsansprüche miteinander in Konkurrenz stehen. Gewißheiten sind nichts mehr als Hypothesen, Wahrheiten sind nichts mehr als zeitweise Stationen auf einem Weg. "Fakten", so Ulrich Beck, "ehemalige Himmelsstücke der Wirklichkeit, sind nichts anderes mehr als Antworten auf Fragen, die auch anders hätten gestellt werden können." Vor diesem Hintergrund wird das Denken insofern krisenhaft, als es seinen rationalen Grundlagen nicht mehr vertrauen kann und den Anspruch aufgeben muß, Ordnung in die Verwirrung der Welt bringen zu wollen. Es gibt, so Friedrich Nietzsche, "wenig so empfindliche Schmerzen, als einmal gesehen, erraten, mitgefühlt zu haben, wie ein außerordentlicher Mensch aus seiner Bahn geriet und entartete: Wer aber das seltene Auge für die Gesamtgefahr hat, daß 'der Mensch' selbst entartet, wer, gleich uns, die ungeheuerliche Zufälligkeit erkannt hat, welche bisher in Hinsicht auf die Zukunft des Menschen ihr Spiel spielte, - ein Spiel, an dem keine Hand und nicht einmal ein 'Finger Gottes' mitspielte! – wer das Verhältnis errät, das in der blödsinnigen Arglosigkeit und Vertrauensseligkeit der 'modernen Ideen' ... verborgen liegt; der leidet an einer Beängstigung, mit der sich keine andere vergleichen läßt." Die Welt wurde entzaubert; hinter dem Vorhang jedoch, so läßt sich an Anlehnung an Wulff Rehfus sagen, fanden wir nur uns selbst.

Im Rahmen des hier gesetzten Themas müssen diese wenigen Andeutungen genügen, um aufzuzeigen, daß das heimatlos gewordene Individuum dazu verurteilt ist, seine personale Orientierung sozusagen experimentell durch Selektion von Geltungsansprüchen in einem Umfeld höchst widerspruchsvoller Bedeutungs- und Erfahrungswelten auszubalancieren. So hat Peter L. Berger anschaulich beschrieben, in welcher Weise das Individuum als Pendler zwischen konkurrierenden Plausibilitätsstrukturen agiert und in diesem Spektrum nicht nur vor die Wahl gestellt, sondern vielmehr zur Wahl gezwungen ist ("Zwang zur Häresie").

II. Die Gesellschaft: Von der Wertegemeinschaft zur ‚multioptionalen‘ Gesellschaft

Die vertikale Struktur des Kulturbegriffs beinhaltete, daß sich eine Gesellschaft an der Objektivität und universalen Gültigkeit eines vorgegebenen normativen Rahmens abzuarbeiten hatte. Im Vollzug dieses Vorgangs, der sich in außerweltlichen Evidenzen abstützen konnte, gelangte eine Gesellschaft zu einem unverwechselbaren Profil kulturellen Selbstverständnisses; es war dabei maßgeblich von seiner geschichtlichen Herkunft bestimmt. Verpflichtung war der zentrale Anspruch. Diese vertikale Struktur der Kultur ist nicht mehr vorhanden. In der gegenwärtigen Gesellschaft ist die taumelnde Verunsicherung im Hinblick auf ein Fundament kulturellen Selbstverständnisses hautnah spürbar.

Mit der Betrachtung der hier vorliegenden Zusammenhänge wird ein riesiges Areal betreten, das in dem hier vorgegebenen Rahmen auch nicht annähernd bearbeitet werden kann. Die Ausführungen zu diesem Abschnitt sollen daher auf die Betrachtung des Aspekts lebensweltlicher Sinndeutung begrenzt werden, um eine Verklammerung zum Kapitel 1 dieser Arbeit zu erreichen.

Die gegenwärtige Gesellschaft erlebt, daß die sinnvermittelnde, integrative Kraft eines Konsenses kultureller Verbindlichkeit verlorengegangen ist. Der in der Wissenschaft schon früher verbindlich gewordene Pluralismus ist unwiderruflich zur allgemeinen Grundverfassung der Gesellschaft und ihrer Kultur geworden. Die 'harmonisierenden' Vorstellungen, die sich ehemals hinter den Begriffen Kultur, Identität und Tradition verbargen, sind inzwischen abgelöst worden durch die Feststellung, daß sich eine bunte Vielfalt von Deutungsmustern, differenter Lebensformen und Wertauffassungen in horizontaler Ebene ausgebreitet hat. Hier stehen, wie Clifford Geertz hervorhebt, nicht miteinander geteilte Erfahrungen, sondern buchstäblich geteilte oder besser: verteilte Erfahrungen im Mittelpunkt des Erlebens. Gemessen am Maßstab der Episteme als des wahren Wissens, so Karl Löwith, "ist heute die doxa kein religiöser Glaube mehr, vielmehr verbirgt sich in ihr eine endlose und beliebig interpretierbare Fülle von semi-industriell erzeugten Geschichten, deren Verschleiß schon eingeplant ist". Was sich hier unter dem Stichwort lebensweltlicher Sinndeutung in alle Lebensbereiche vorangefressen hat, zeugt von einer unendlichen Breite, Konzentration und Verdichtung. Unter dem Titel "Multioptionsgesellschaft" hebt Peter Gross hervor, die in einem Feld entfesselter Optionen anzutreffenden Arrangements von Deutungen, Wertauffassungen und Lebensformen seien "phantastisch, erfindungsreich imaginär, überschwenglich und abgründig"; sie müssen, so Gross, nicht wahr, sondern 'passend' sein.

 

1. Die postmoderne Kultur: Torkelnde Freiheit?

Passend ist für die Zielgruppe der Jugend die Musik der aktuellen Charts, z.B. der Prinzen-Song: "Du mußt ein Schwein sein in dieser Welt." Eine Textprobe: "Du mußt gemein sein in dieser Welt, gemein sein. Denn willst du ehrlich durchs Leben gehen, ehrlich, kriegst du 'nen Arschtritt als Dankeschön, gefährlich...." Mit über 800.000 verkauften Exemplaren stand das Stück über mehrere Monate ganz oben in den Charts des Jahres 1995. Das Fernseh-Feuilleton "Titel, Thesen, Temperamente" bejubelte den Song als geniale Hymne an den Zeitgeist.

Noch größeren Erfolg hat die Gruppe "Die Doofen." Ihr Text ist im Jahre 1995 bei den Jugendlichen zum Gassenhauer avanciert: "Ohrenschmalz, Kragenspeck, Mundgeruch und Nageldreck, Achselschweiß im Überfluß, Fettfrisur und Käsefuß. Nimm mich jetzt, auch wenn ich stinke, denn sonst sag' ich Winke Winke und Good Bye. Denn dort an der nächsten Lampe ist auch schon die nächste Schlampe für mich frei." Die Umsätze dieser Gruppe überschritten mit diesem Lied bereits im Jahre 95 (Juni) die Eine-Million-Stück-Marke.

In einer Weihnachtssendung für Kinder traten im Dezember 1996 drei Mitglieder der Girlgroup "Tic, Tac, Toe" im Aufzug der Heiligen drei Könige auf. Nach einführendem weihnachtlichen Gespräch mit Talkmaster Thomas Gottschalk warfen sie plötzlich ihre Verkleidung ab und sangen im Bikini ihren Kultsong "Ich find' dich scheiße", der im Jahre 1996 über mehrere Monate den ersten Platz der deutschen Charts gehalten hat (ebenso wie ihr darauffolgender Song "Verpiß dich!") (Anhang 2).

Steht man etwas verunsichert vor diesen Fakten, bekommt man erläuternde Hilfe von Gero Günther. Im Literaturmagazin entwickelt er eine "Ästhetik" der Pop-Kultur. Pop, so seine Auslegung, schlüpft gern in andere Häute. "Scheu nicht davor zurück, hundert Seiten lang schwul zu sein, Gesetze zu übertreten oder dir von masochistischen Freiern die Füße lecken zu lassen. Pop verkauft sich, ist nicht authentisch, kupfert schamlos ab, hat keinerlei geschmackliche Skrupel. Nennt uns ruhig abgestumpft und desensibilisiert. Am meisten graut uns vor der Langeweile. Billiger Mist und prätentiöser Dreck spornen immens an."

Was für die einen die Pop-Musik ist, ist für die anderen die "Love-Parade", das Unternehmen "Chaos-Tage" oder einfach "Ficken, Fressen, Saufen." Dem einzelnen und seinem Belieben ist es überlassen, zu entscheiden, in welche Deutungsmuster und Lebensformen er (gestützt durch die Anweisungen von Experten) 'einsteigen' will und wann er sie wieder zu verlassen gedenkt. Alles, was gilt, gilt bis auf Widerruf, alles steht zur Disposition. Die Gesellschaft ist immer weniger in der Lage, Tabus zu ertragen.

Die Bilder, mit denen die kulturelle Situation der Gesellschaft beschrieben wird, sind vielfältig und originell. In unserem Flugzeug, so lautet eine karikierende Beschreibung unserer kulturellen Situation, "sind die Bordinstrumente ausgefallen und keiner weiß, wo wir uns befinden. Aber die Motoren arbeiten gut und wir kommen gut voran."

Unsere Kultur, so lautet eine andere Einschätzung, "gleicht einem Karussell, das sich immer schneller dreht und jeden Moment in Stücke zu fliegen droht. Passagiere und Passanten gleichermaßen werden von einem Schwindelgefühl erfaßt. Der Boden sicherer Gewißheiten beginnt zu schwanken, Haltsuchende – vom verführerisch bunten Wirbel gelähmt – versinken in der Bodenlosigkeit der Ereignisse"; unsere Kultur, so heißt es weiter, gleiche einem "fröhlichen Tanz auf dem Vulkan", es zeige sich ein spielerischer Zynismus gegenüber der eigenen Ohnmacht; Ernüchterung mache die Runde. Vor dem Hintergrund dieser Einschätzungen ist das Wort von der "Kulturkrise" zu einer gängigen Vokabel geworden.

Unsere Kultur, so lautet ein weit verbreitetes Urteil, ist ausgebrannt, sie befinde sich im Zustand der Ermüdung, im Stadium nihilistischen Seufzens.

Was Nietzsche für seine Zeit mit Entsetzen und Schrecken konstatierte, zugleich aber auch als die innere Logik der Geschichte ansah, scheint heute in radikalisierter Form erfahrbar: "Mußte man nicht alles Tröstliche, Heilige, Heilende, alle Hoffnung, allen Glauben an verborgene Harmonie, an zukünftige Seligkeiten und Gerechtigkeiten opfern? Mußte man nicht Gott selber opfern und, aus Grausamkeit gegen sich, den Stein, die Dummheit, die Schwere, das Schicksal, das Nichts anbeten? Für das Nichts Gott opfern – dieses paradoxe Mysterium der letzten Grausamkeiten blieb dem Geschlechte, welches jetzt eben heraufkommt, aufgespart: wir Alle kennen schon etwas davon."

Die ebenso aus dem Geist der Skepsis genährte neokonservative Position der zeitgenössischen Kulturkritik sieht in der Kultur nicht Wirklichkeit, sondern nur "Kompensation von Defiziten und spürbare Erfahrungen von Mängeln, Verlusten, Frustationen, von Ausfalls- und Verfallserscheinungen." Kultur, so Hermann Lübbe, ist nicht substantiell, sondern nur ein reaktives Kompensieren von etwas, was als solches mit Kultur in einer einsehbaren Weise nichts zu tun hat.

Eine ‚Kultur der Kompensation‘ ist von der Kompensation durch Kultur nicht mehr zu unterscheiden, wenn Kultur nicht mehr als eine Funktion im Ensemble moderner Daseinsbedingungen ist.

Das, was uns insgesamt als Ausdrucksformen gesellschaftlich-kultureller Situation entgegenschlägt, bringt eine inflationäre Häufung gutgemeinter Appelle und Mahnungen hervor: 'Wo ist die integrative Kraft eines normativ verbindlichen Wertefundaments geblieben?', so lautet die zugleich mahnende wie resignierende Feststellung von Beobachtern.

Der freiheitlich-säkularisierte Staat, so wird in Anknüpfung an ein bekanntes Wort des ehemaligen Verfassungsrichters Ernst Wolfgang Böckenförde hervorgehoben, lebe von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren könne. Also, bitteschön, so lautet die variantenreich vorgebrachte Forderung, habe man sich neu auf die eigentlichen Werte unserer Kultur zurückzubesinnen. Werte, so lautet auch die Feststellung Niklas Luhmanns, stehen heute für die gängige "Erlösungsformel."

Beschäftigt man sich etwas genauer mit der Frage der gesellschaftlich-kulturellen Werte, so entdeckt man ein durch und durch paradoxes und zum Teil diffuses Bild. Einerseits wird der Verlust der Werte beklagt, andererseits gibt es eine ansteigende Zahl sogenannter 'neuer Werte', auf der einen Seite soll der gesellschaftliche Konsens von Werten abhängen, andererseits wird über Werte nur noch gestritten (bzw. dies inzwischen auch schon nicht mehr).

Hier ist nicht der Ort, die recht umfassende Diskussion um den sogenannten Wertewandel ausführlich darzulegen. Wir setzen die Kenntnis der Kontroverse um Ronald Ingelhart voraus und halten lediglich fest, daß sein Erklärungsansatz heute als zu eindimensional betrachtet wird, da er von einer einfachen Substitution materieller durch postmaterielle Werte ausgeht. Demzufolge lassen sich heute Positionen finden, die die These eines mehrdimensionalen Wertewandels vertreten. Hier muß der Hinweis genügen, daß die Pflicht- und Akzeptanzwerte in der Einschätzung der Forscher rückläufig sind, während die Selbstentfaltungswerte in ihren verschiedenen Ausdrucksformen wie z. B. den hedonistischen, idealistischen und individualistischen Werten an Bedeutung gewonnen haben.

"Nicht nach Plan und Vorschrift leben, sondern tun, was mir Spaß macht", so lautet die zu 95 % genannte Wertpräferenz der Jugendlichen in einer Umfrage der Deutschen Shell. Immer mehr Jugendliche leben nach der Devise, Aktivitäten der Freizeit im Modus der Gleichzeitigkeit auszuleben. Die 14 - 24jährigen, so die 1996 veröffentlichte Studie des BAT-Freizeitforschungsinstitutes "wollen alles sehen, hören, erleben und vor allem im Leben nichts verpassen." Um keine Zeit zu verlieren, werden immer mehr Aktivitäten in der Freizeit kombiniert und im Fast-Food-Stil zugleich erledigt (Horst Opaschowski, in: Die Welt vom 27. 11. 1996). Der mit dem "Optionspluralismus" verbundene Steigerungsimperativ kann anscheinend nur noch durch den Mechanismus der Gleichzeitigkeit bewältigt werden.

Um verkürzende Pauschalisierungen zu vermeiden, müssen die Aussagen zum Wertewandel vor dem Hintergrund komplexer Zusammenhänge gesehen werden, wie z. B. der generationsspezifischen oder lebenszyklischen Betrachtung. So wird zur Zeit beispielsweise untersucht, ob die Pflicht- und Akzeptanzwerte zum Ende der 90er Jahre nicht wieder ansatzweise neue Relevanz gewinnen. Die Untersuchung von Claudia Koch-Artzberger und Karl Otto Hondrich stellt ausdrücklich die wachsende Zahl sogenannter neuer Werte heraus wie z. B. Solidarität, während Helmut Klages seine bisherige Forschung um den Begriff der "Wertsynthese" erweitert hat. Die hier nur angedeutete Skizze des gegenwärtigen Diskussionsstandes sollte lediglich deutlich machen, daß wir unter dem Wertewandel einen vielschichtigen "mehrdimensionalen" Prozeß zu verstehen haben, der auf verschiedenen Betrachtungsebenen gleichzeitig analysiert werden und die Frage der Wertmischtypen einbeziehen muß. Wenn wir nun die eingangs angeführte Forderung wieder aufgreifen, die kulturellen Werte sollten sozusagen das Zentrum der Gesellschaft wiederherstellen, so kann unser Fazit nur ernüchternd ausfallen: Werte sind begründungspflichtig geworden und damit ist die Berufung auf Werte nichts anderes als der Startschuß zum Diskurs. Und abgesehen von 'Sonntagsreden' bei entsprechenden Anlässen (wie z. B. bei Kirchentagen oder dem Wechsel bedeutender politischer Ämter) findet mittlerweile selbst der Diskurs über Werte nicht mehr statt. Gleichmütig, souverän und selbstverständlich breitet sich der Wertepluralismus in der Gesellschaft aus und feiert sich selbst. Man kann über Werte diskutieren, man darf sie 'erforschen', ansonsten gilt nur noch, daß sie zum einzelnen passen. "Mit den Werten", so konstatiert Jürgen Kaube sehr zutreffend, "ist es gegenwärtig harmlos bestellt." Der Gang der Aufklärung zur Selbstzerstörung, so Wulff Rehfus in seiner Abwandlung eines Hegel-Wortes, "ist der Gang zur Beliebigkeit der entgrenzten Freiheit, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben." So vielfältig wie die Werte sind auch die 'Lösungskonzepte' in der wissenschaftlichen Diskussion: Robert Spaemann z.B. glaubt nicht an die Möglichkeit einer säkularen Moral. Er hält daran fest, daß der Inhalt einer wertetragenden Moral nur aus metaphysischen Einsichten gewonnen werden kann.

Und während z.B. Gernot Böhme feststellt, der Aufbruch in eine wertverhaftete moralisch orientierte Existenz beginne mit dem "Aufbruch zum Selbstsein", ist Niklas Luhmann längst weiter:

Er hätte auf die Ausführungen dieses Kapitels vollends verzichtet, weil er sich vom Begriff der Kultur sowie dem der Moral bereits verabschiedet hat. Kultur, so Luhmann in seinem Band "Beobachtungen der Moderne", beinhaltete früher den Aspekt der Disziplinierung des Individuums. Demgegenüber ist die Kultur heute in Luhmanns Augen nicht nur überraschungsfest und überraschungsunfähig geworden, vielmehr versetzt sie selbst ihrerseits Überraschungsschocks. Es genügt für Kultur, "es absichtlich zu tun," und die Freiheit, die man für individuelles Self-framing in Anspruch nimmt, bringt zum Ausdruck, daß es im ganzen so ist.

Luhmanns Ausführungen zur Frage der Werte haben mit Blick auf unsere obengenannten Betrachtungen eine bestechende Präzision: Für heutige Bedingungen, so Luhmann, können Werte als inflationsstabil gelten, "denn es tut ihnen keinen Abbruch und man muß sie nicht entwerten, wenn man sieht, daß man mit ihnen nichts anfangen kann. Man folgt dem Rat der Mode und geht zu anderen Werten über." Werte sind nach seiner Einschätzung nichts anderes als eine "hochmobile Gesichtspunktmenge"; sie gleichen nicht, wie einst die Ideen, den Fixsternen, sondern eher Ballons, deren Hüllen man aufbewahrt, um sie bei Gelegenheit aufzublasen, besonders bei Festlichkeiten." Und wir fragen vor dem Hintergrund dieses Zitats ausdrücklich: Sollte denn die mahnende Einforderung des Wertekonsenses durch den Bundespräsidenten Roman Herzog anläßlich des Katholikentages 1998 tatsächlich mehr gewesen sein, als die routinierte Inszenierung einer letztlich nichts bewirkenden Feiertagssymbolik? Auch im Zusammenhang mit den Aktivitätsformen sozialer Bewegungen (Murroroa, Castor, Brent Spar) haben Luhmanns Ausführungen zur Frage der Werte eine faszinierende Klarheit: Luhmann beklagt, daß das (mit den Werten) geforderte Engagement auf die nur jeweils aktuellen Werte eingeschränkt wird; "Nur sie zählen in der öffentlichen Meinung. Es ist zum Mitlaufen! Diese Möglichkeit wird mit dem Konzept (der Werte, S. F.) angeboten. Man kann als Avantgarde dienen oder gerade noch rechtzeitig Anschluß finden." Als ebenso ausgehöhlt betrachtet Luhmann das Paradigma der Moral.

Wenn heute "ethische Bedenken" diskutiert werden, so ist das für ihn in einer fast lächerlichen Weise inadäquat. Nüchtern gesehen, so Luhmann, ist der Ethik-Tank (wenn es so etwas überhaupt noch gibt) nicht groß genug, um ethische Gesinnung an all die moralischen Schwachstellen unserer Gesellschaft zu leiten. Auch wenn sich die Philosophie zu höchster Virtuosität herausgefordert sieht, muß man letztlich einsehen, daß die Probleme und Folgen dieser Gesellschaftsformation nicht mehr in der Form der Verteilung von Achtung und Mißachtung gelöst werden können. Mit Moral, so Luhmann, immunisiert man sich gegen die Evidenz des Nichtwissens. "Die ganze Hilflosigkeit der Moral zeigt sich in der letzten Fassung ihrer gesellschaftlichen Ambition: daß nur noch der Achtung verdient, der gegen die Gesellschaft ist."

Die Konsequenz liegt für Luhmann klar vor Augen: Die Geschichte verliert das Exemplarische, das Modellhafte, das moralisch Belehrende und gewinnt eine "temporale Dimensionalität, in der .... sie selbst in den Möglichkeiten des Rückblicks und des Vorblicks variieren kann – eine Konstruktion mit enormem Reichtum an Aufnahmemöglichkeiten. Denn nun kann man alles, was gleichzeitig lesbar ist, historisch auseinanderziehen und auf Zeitgeiste hin relativieren. Man widerspricht sich dann nicht, wenn man feststellen muß, daß man früher so und heute anders gedacht hat; man muß Geltungen nur mit einem Zeitindex versehen, und schon sind sie miteinander kompatibel – und zwar nicht in der Sache, aber in der Zeit."

 

2. Indifferenz religiöser Energie: "Markt der Möglichkeiten."

Die Bind ungskraft der christlichen Religion ist nachweislich zerbrochen. Kirchlich gebundene Glaubenspraxis ist immer seltener anzutreffen, die Kirchenaustritte steigen, die Legitimationskrise der institutionellen Kirchen beherrscht die öffentliche Diskussion.

Nicht triumphierender Atheismus oder engagierte Gegnerschaft, sondern die Indifferenz einer von Individualismus und Konsumismus geprägten Wohlstands- und Freizeitgesellschaft hat die Kirchen ins Abseits gedrängt. Zweifellos suchen beide Kirchen nach "Durchgriffspunkten", an denen sie sich in die Gesellschaft und deren Problemzonen einhaken können, aber nicht selten erschöpfen sich derartige Vorgänge in ritualisierten Appellen, die entweder der gesellschaftlichen Entwicklung hinterherlaufen oder die Schere der Entfremdung vom Kirchenvolk auseinandertreiben.

Als Beispiel können wir das im Jahre 1997 von beiden Kirchen veröffentlichte "gemeinsame Sozialwort über Arbeitslosigkeit und die soziale Lage in Deutschland" anführen. Die "analytisch auf der Höhe der Zeit argumentierende Bestandsaufnahme", so die Einschätzung vieler Beobachter, sei zwar gelungen, mit der üblichen 'Sowohl-als-auch-Metaphorik' habe man sich jedoch aus einem wirtschaftspolitischen Gemischtwarenladen bedient, der es allen recht machen wolle und die Realität hoffnungslos verfehle. Karl Lehmann, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz stellte in diesem Zusammenhang fest, der politische und gesellschaftliche Einfluß der Kirchen zeige sich daran, daß ihre Verlautbarungen "totgelobt" würden.

Andere wiederum verweisen gerade darauf, daß eine Hauptaktivität der Kirchen anscheinend (nur noch) in der inflationären Produktion von Appellen, Aufrufen, Verlautbarungen besteht, die zwangsläufig ins Leere schießen müßten. Abgesehen davon, daß eine solche Aussage allein angesichts des sozialen Leistungsangebotes der Kirchen nicht gehalten werden kann, sehen wir allerdings auch die durchweg prekäre Situation der Kirchen im Hinblick auf wirksame 'Durchgriffmöglichkeiten' in gesellschaftlichen Sachgebieten. Wenn z.B. gefordert wird, eine pluralistische Gesellschaft müsse "in ihrer eigenen christlich codierten Mehrheitskultur den heiligen Sinn finden, um die neue multireligiöse Situation zu bewältigen", so muß schonungslos zurückgefragt werde: Was ist mit dieser Forderung gemeint? Was hier theologisch-immanent plausibel beantwortet werden kann, hinterläßt außerhalb dieses Erklärungsrahmens reine Hilflosigkeit.

Ungeachtet dieser Situation ist das globale Bedürfnis nach praktizierter Religiösität jenseits einer dauerhaften amtskirchlichen Bindung nicht nur vorhanden, sondern auch nachweislich gewachsen:

Kirchentage melden Besucherrekorde; Wallfahrten, Gebetskreise sowie Fasten- und Meditationsseminare liegen im Trend. Bei den 300 deutschen Männer- und Frauenklöstern, die Kursangebote wie Exerzitien, Meditations- und Fastenwochenenden durchführen, melden sich jährlich 10.000 Interessierte. "Immer mehr Deutsche wollen den Urlaub im Kloster verbringen" meldete die Katholische Nachrichtenagentur KNA am 24. 1. 95. Die Nachfrage sei so groß gewesen, daß man die Werbung reduzieren mußte. Pilgerten laut KNA Anfang der 80er Jahre jährlich rund sechs Millionen Gläubige zum Grab des Hl. Jakobs ins nordspanische Santiago de Compostela, so waren es im Jahre 1995 bereits drei Millionen mehr. Auch die deutschen Wallfahrtsorte ziehen von Jahr zu Jahr mehr Pilger an. Auffällig ist in diesem Zusammenhang das gewachsene Interesse an christlicher Spiritualität und Mystik. "Du machst die Augen zu und bist weit weg!" so lautet die Aussage eines Fans klerikaler Vokalkunst. Er spricht von gregorianischen Gesängen, die mit elektronischer Popmusik versetzt wurden. Die Musikstücke werden von einer Band vorgetragen, die mit Mönchskutten und Sonnenbrillen verkleidet auftritt und mit diesem Markenzeichen im Jahre 1995 den dritten Platz der Pop-Charts erreichte.

Ein anderes Beispiel ist die Disco "Ewig" im evangelischen Kirchenkreis Hattingen-Witten: Christliche Spiritualität im Gewand der Pop-Kultur: Disc-Jockeys tragen Messdiener-Gewänder und die Kellnerinnen Kutten. Kirchenbänke auf der Tanzfläche, Disco-Nebel im Weihrauchduft, "wir müssen mit vollem Ritual in die jugendliche Alltagswelt", so Hans Werner Ludwig (40), Leiter des Jugendreferates (vgl. Anhang 3).

Von den vielen Ausdrucksformen, die sich hier auftun, wollen wir gleichsam exemplarisch die Kirchentage der Jahre 1995 – 1998 betrachten: Im Vorfeld der Kirchentage herrscht zunächst einmal nachdenkliche Stille: So konstatierten die Veranstalter des evangelischen Kirchentages 1995 ("Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist."), der Kirchentag finde im Zeichen gesellschaftlicher Orientierungslosigkeit statt, fundamentale Unsicherheit über die gesamtgesellschaftlichen Wertgrundlagen hätten sich breitgemacht. "Wir alle", so Heinz Zahrnt "sind Zeugen des größten und umfassendsten Säkularisierungsprozesses, der jemals in der Geschichte des Christentums, vielleicht sogar in der Religionsgeschichte stattgefunden hat," der Himmel sei "eingestürzt", nichts mehr sei selbstverständlich, kein Dogma, kein Ritus, kein Mandat; wahr sei, was nütze und moralisch erlaubt, was sich mit dem Schein des Rechts ergattern lasse.

Die eindringlichen Appelle der Präsidiumsmitglieder des Kirchentages sowie mehrerer Kommentatoren (Friedrich Schorlemmer) richten sich darauf, diese fundamentale Herausforderung der Gesellschaft anzunehmen; die Menschenwürde dürfe nicht einer neuen "Ethik der Interessen" (Wolfgang Huber, Bischof von Berlin-Brandenburg) geopfert werden. Gefordert wird, daß das Wort 'wertkonservativ' wieder einen helleren Klang bekommen, daß der Kirchentag mit den erwarteten ca. 120.000 Besuchern ein "Stück weit Protest gegen die postmoderne Beliebigkeit" werden müsse (Wittenberger Pfarrer und Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels von 1993, Friedrich Schorlemmer sowie Präsidiumsmitglied Eppler).

Gleiche Töne auf dem Kirchentag in Leipzig im Jahre 1997 und auch auf dem Katholikentag im Jahre 1998 in Mainz: Bundespräsident Herzog hob hervor, der Katholikentag müsse dazu beitragen, den Wertekonsens zu fördern. Hans Joachim Meier, der Präsident des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken stellte fest: "Wir sagen dem ungehemmten und schamlosen Egoismus den Kampf an und verteidigen die ethischen Grundlagen des mitmenschlichen Zusammenlebens!" Bundestagspräsidentin Antje Vollmer konstatierte, die Deutschen hätten noch gar nicht begriffen, daß ihnen gerade eine Wurzel ihrer Kultur wegbreche und überhaupt mache sie sich große Sorge, wer denn noch als "Träger gewisser Traditionen und Kultur zur Verfügung stehe." Die Prägekraft des Christentums, so lautet die Botschaft der offiziellen Veranstalter, gehöre nicht ins Museum oder in die privaten Winkel, sondern als Demonstration eines gemeinsamen Standpunktes in die Öffentlichkeit. Soweit die Ankündigungen.

Das, was die Kirchen- und Katholikentage der oben genannten Jahre hervorbrachten, sah allerdings anders aus. Den Veranstaltern wurde (auch kirchenintern) vorgehalten, daß die "religiösen Erlebnis-Events" mit ihrem Programmangebot mit bis zu 2.000 Veranstaltungen wie zum Beispiel Jugendtreffen, Musikhappenings, Politforen, Öko-Shops, Motorradfahrer-Gottesdiensten auf St. Pauli einschließlich des geprägten Schlagwortes vom "Schnupperangebot Christsein" (1995 auf dem evangelischen Kirchentag) sämtliche Spielarten individualisierter Religiösität hervorbrächten und damit letztlich selbst zu einem Forum der Beliebigkeit beitrügen. Und in der Tat war z. B. auf dem Ev. Kirchentag 1995 alles zu finden:

Auf dem Forum "Spiritualität und Widerstand" trafen sich Atomkraftgegner aus Wackersdorf, Gorleben und Brockdorf, die die Überalterung ihrer Gruppen beklagten. Auf dem "Markt der Möglichkeiten" versammelten sich die Asketen im Evangelischen Kloster, die politisch motivierten Gruppen kamen zu Protestkundgebungen in Sachen Asyl, Weltwirtschaftsordnung und Shell zusammen, während Talkmaster und Pfarrer Jürgen Fliege (RTL) vom Frauenforum kommend in einer anderen Halle aufkreuzte und ins Mikrophon raunte: "Wie funktioniert bei euch das Beten?"

Auf dem Katholikentag im Jahre 1998 dasselbe Bild: Etwa 1.200 Veranstaltungen wie z. B. "Aktion Lila Stola", der Workshop "Kirche und Tiere", die Initiative "tertio milleno ad veniente", eine "Body-painting-Aktion" (für Männer nicht zugelassen), über den Workshop "Katholisch-lesbisch, na klar!" bis hin zur Aktion "Auch Männer weinen", war alles vertreten.

Darüberhinaus können wir beobachten, daß sich die gleichsam freigesetzten Ausdrucksformen religiöser Aktivität in chiliastischer Sehnsucht ganz auf die politischen Probleme des Diesseits richten: Religiöse Aktivität im Zusammenhang mit "Rheinhausen", "Brent Spar", "Murroroa", um nur einige zu nennen. "Mit Gott gegen Castor", so lautet der bezeichnende Titel eines 'Zeit-Dossiers' vom 28. 2. 1997, in dem die Gorleben-Gebete im Rahmen politischer Aktionen als Symbol öffentlichen Widerstands herausgestellt werden. Der religiöse Betätigungsdrang, so Hans-Dieter Bastian, "überbordet die institutionellen Zäune der Großkirchen und flottiert jenseits der Konfessionen frei, unreguliert und anarchisch. Das Medium, in dem er sich darstellt, ist die Moral. Sie fragt nicht nach Gott, sondern nach Menschlichkeit. Sie spendet nicht Vergebung, sondern Handlungsgewißheit. Sie predigt nicht Erlösung vom Übel, sondern den Frieden der Gutwilligen. Ihr Gottesdienst ist nicht die zweckfreie Feier, sondern die zweckhafte Aktion."

"Muß unsere Kirche eine Erlebniskirche werden?", fragte 1995 der Hamburger Theologe Bernd Schwarze, während sein Kollege, der Hamburger Pfarrer Thies Grundlach konstatierte, ihm erscheine die Kirche jetzt schon als eine Mischung aus GEW und pen club, in die nur noch diejenigen eingeladen würden, die dieselbe Meinung teilten. Die ebenso bescheidene, wie fundamentale Frage, was das Christentum eigentlich ausmacht und wie es eine kulturelle Reintegration erreichen kann, ist von den Kirchen- und Katholikentagen im Urteil vieler Beobachter (wie immer) unbeantwortet geblieben.

Die Kommentare, die die Kirchentage der letzten Jahre (bzw. allgemein die Entwicklung zu pluralistischen Formen christlich-religiöser Praxis) begleitet haben, sind bissiger geworden: Die große "Waffenschau der kirchlichen Verbände", das obsessive Pochen auf Einmischung, so Christian Geyer, geht gelegentlich so weit, "daß man den Eindruck gewinnen könnte, hier solle gewissermaßen aus therapeutischen Gründen geglaubt werden." Das Glaubensbekenntnis auf diesen Veranstaltungen, so eine Studie des Berliner Instituts für Religionssoziologie, ist heute weniger ein konturiertes Credo als vielmehr ein prinzipiell unabschließbarer Diskurs, in dem sich die Teilnehmer gegenseitig eröffnen, was sie wirklich glauben. Der religiöse Affekt, der frei über dem 'Markt der Möglichkeiten' schwebt, so wiederum Christian Geyer im Hinblick auf den Kirchentag in Leipzig 1997, "ist eher eine Vision für Unternehmensberater, aber keine für die Kirche. Der Gläubige erfährt Gott offenbar als Kumpel, dem er in der Skala der Sinnangebote zwischen Erlebnisurlaub und erfüllter Sexualität großzügig einen Platz zuweist." Bei allem Respekt vor den religiösen Ausdrucksformen des einzelnen wollen wir uns (wenn auch vorsichtig) dieser Kommentierung anschließen, um hervorzuheben, daß das vorfindbare synkretistische Gemisch von Spiritualitäten gerade nicht Ausdruck religiöser Individualität ist, sondern Ausdruck religiöser Indifferenz. Hinter dem 'Patchwork des Glaubens' steht unseres Erachtens der Verzicht auf eine individuelle und verbindliche Wahl, hier zeigt sich christlich-religiöse 'Multioptionalität' und darin: religiöse Unentschiedenheit, also 'Bodenlosigkeit'.

Jenseits dieser immer noch christlich orientierten Angebotsstruktur tummeln sich im Bereich einer sozusagen 'halbsäkularisierten' Spiritualität und Mystik die abenteuerlichsten Kombinationen. Man experimentiert unbefangen mit wechselnden Inhalten verschiedener Weltreligionen, kombiniert sie umstandslos mit Elementen christlicher Mystik, mit Naturmythen oder Esoterik (oder mit allem) um letztlich immer nur das eine zu suchen: die individuell konzipierte 'erlebniszentrierte' Erfahrung einer wie immer gedachten Transzendenz in strikter Unabhängigkeit von anhaltender Verpflichtung. Die viel besuchten Esoterik-Tage in Frankfurt (1995) und Berlin (1996) gaben einen plastischen Eindruck davon, daß die Regale im Supermarkt der esoterischen und astrologischen Angebote prall gefüllt sind. Von makrobiotischen Küchengeräten, Runen-Sets, heilenden Steinen, karibischen Voodoo-Riten über Partnerschaftszusammenführung bis hin zu Energieübertragung und Essenzen-Workshops ist alles vorhanden, wird ein x-beliebiges Gebräu zusammengekocht. Fitneß, so die Zeitschrift 'Psychologie heute' in den Jahren 1997 und 1998, "gewinnt zunehmend religiöse Dimensionen." Titel wie "Fitneß ist Religion", "Geistliches Laufen (spirited walking)", "Schwitz deine Gebete raus" und "Transzendental-Diät" beherrschen die Schlagzeilen.

Psychotechniken einschließlich begleitender Methoden (wie Fasten, Meditation und Atemübungen) versprechen unter Rückgriff auf Elemente fernöstlicher Religion und Philosophie, das "personale Zentrum" auszuloten. Hier geht es darum, die "authentische", "transpersonale Erfahrung des Innewerdens", das Eins-sein mit Allem zu erleben, eine "Stimme zu erfahren, die alle Sinne besänftigt." Im Mittelpunkt steht das Angebot, eine "Hermetik als existentielle Erfahrung ozeanischer Selbstentgrenzung" zu erleben.

Die Menschen, so Mircea Eliade, "sind manchmal unter einem ganzen Wust religiös-magischer Vorstellungen begraben, die bis zur Karikatur entstellt sind." Über allen Angeboten, Betätigungsformen, Workshops und Seminaren, die sich in den Zwischenräumen von Religion, 'Hintertreppenmythen', von Politik, Psychotechniken und esoterischem Schwindel etabliert haben, schwebt der Begriff der Inspiration. Die Auslegung und lebenspraktische Umsetzung dieses Begriffs zielt gleichsam auf die 'göttliche Verklärung' des Alltags. Wir stimmen Wulff Rehfus zu, wenn er mit Blick auf sämtliche Spielarten dieser Aktivitätsformen feststellt: "Ob es dem Frieden, den Bäumen, Gott, den Hunden, den Frauen oder sonst wem gilt, überall zeigt sich die Kompensation der Ratlosigkeit, die sich zu einer beliebigen Meinung und Aktivität entschlossen hat."

Vor dem Hintergrund der vielfältigen Ausdrucksformen pseudoreligiöser Aktivität wundert es nicht, daß sich zur Kennzeichnung dieser Situation ein entsprechendes Vokabular herausgebildet hat. Beobachter sehen eine "synkretistische Universalreligiösität mit radikaler Diesseitsorientierung", eine Cafeteria-Theologie aus Versatzstücken quasi-religiöser Inhalte", eine "religiöse Bastelmentalität" und schließlich die Tendenz, daß man von "schlüsselfertigen Sinngebäuden nichts mehr wissen wolle und statt dessen eher an individuellen Wohnmobilen mit Allradantrieb bastle." Wenn andere mit Blick auf die Talk-Shows im Fernsehen meinen, die verwaschenen Botschaften einer selbstgenüßlichen "Sofaecken-Transzendenz" ausgemacht zu haben (Arno Schilson), so wird dies von anderen Kirchenvertretern mit dem Hinweis kommentiert, es habe sich insgesamt eine "barbarische religiöse Ahnungslosigkeit" (Eberhard Jüngel) breitgemacht; der Verlust der Kirchenbindung habe nichts anderes als eine Unzahl von Obskurantismen hervorgebracht. Wir gehen noch einen Schritt weiter, indem wir mit dem Berliner Theologen Richard Schröder feststellen, daß sich in den dargestellten Ausdrucksformen die "asoziale Religiösität einer rücksichtslosen Erlebnissteigerung (zeigt), die ein Göttliches im Ich sucht und ausleben möchte."

"Der Himmel ist verlassen", so kommentiert Jean Marie Guehenno die Situation "und die zahllosen Zeichen, die auf uns niederprasseln, verweisen in keiner Weise auf ein einigendes Ganzes." Religion nimmt in der gegenwärtigen Gesellschaft eine neue Funktion wahr: In einer Welt, wo alles eine Funktion, aber nichts eine Bedeutung hat, verehren wir im Unbestimmten, so Guehenno, "die letzte Zuflucht der Bedeutung." Der Pluralismus der fragmentierten Gesellschaft entfremdet uns nicht von der Religion, es verändert sich allenfalls die Natur der religiösen Erwartung. Das metaphysische Problem besteht nicht darin, in der Ungleichheit das Universale zu entdecken, sondern in der grenzenlosen Standardisierung vernetzter Beziehungen das Differenzieren zu rechtfertigen: Religion trennt, statt zu einigen. Unfähig zur Universalität steht Religiösität heute im Dienste der Reflexion über Selbstfindung und Selbstkongruenz, und wir möchten – heute mehr denn je – hinzufügen: als Schutz vor der Selbstdiagnose der eigenen Schwäche.

 

3. Eine exemplarische Betrachtung: Das "Kruzifix-Urteil" des Bundesverfassungsgerichtes

Die öffentliche Diskussion um das Kruzifix-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes (BVG) vom Jahre 1995 hat in unserem oben genannten Zusammenhang exemplarische Bedeutung und ist geeignet, die bisherigen Überlegungen zu veranschaulichen und zu bekräftigen. In der nachfolgenden Betrachtung richtet sich das Interesse vorrangig auf die inhaltlichen Argumente, die das Urteil in der öffentlichen Diskussion hervorgebracht hat. Das Urteil hat das Volksempfinden nachweislich provoziert. Die sich damals artikulierende Bestürzung und Empörung hat gezeigt, welches Erregungspotential in der Sache verborgen lag.

Hier zeigte sich die Kraft und Phantasie der Wirklichkeit gegenüber der Abstraktion der Rechtssprechung. "Man kennt die Bundesrepublik nicht wieder", war das Urteil der Kommentatoren. Das Urteil, so lautete die eine Einschätzung, ist eine Verbeugung vor dem Zeitgeist (Karl Lehmann), ein Angriff auf Brauch und Werte. In der Einschätzung anderer war es ein "Urteil der Intoleranz" (Edmund Stoiber); mit dem Urteilsspruch werde, so Scharnagel im Presseclub der ARD vom 20. 8. 1995, eine "Brandfackel in den inneren Frieden der Gesellschaft geworfen, die kulturelle Erosion werde beschleunigt."

Die ganze Diskussion ist nichts anderes als ein "pseudoreligiöser Hexensabbat" (Robert Leicht), lautet die Reaktion der anderen Seite. Die Gesellschaft sei in Wahrheit nicht religiös, sie wolle es nur nicht zugeben; zwischen Baghwan und der Kirche gebe es letztlich keine Unterschiede, so Robert Leicht im Presseclub vom 20. 8. 95. Für den pluralistischen, weltanschaulich neutralen Staat, so Helmut Simon, ist die Entscheidung des BVG eine längst fällige Normalisierung, das BVG habe gestoßen, "was für die meisten schon im Fallen war und war darin konsequent."

Selbst Kirchenvertreter äußerten: "Ich habe Verständnis für das Urteil. Es ist sehr gut nachvollziehbar und logisch. Der Staat ist gegenüber den Religionen zur Neutralität verpflichtet."

Nachdem die Fronten geklärt waren, begann die Dynamik medialer Verselbständigung; die Taktik triumphierte dabei auf beiden Seiten. Zwischen den Positionen, und dies interessiert in diesem Zusammenhang, entstanden merkwürdige Blüten: So wurde vorgeschlagen, das Problem mit der Einrichtung neutraler schulischer Andachtsräume (ähnlich wie in Flughäfen) zu lösen. In Schulen mit hohem Anteil von Muslimen, so der Vorschlag des Berliner Bischofs Wolfgang Huber sowie des Bundeselternrates, sollten neben dem Kreuz auch Bilder der Heiligen Stadt Mekka gezeigt werden (Friedmann). Es muß, so die Rabbinerin der jüdischen Gemeinde Oldenburg und Braunschweig Wyler, Platz für Gott geben, nur müsse dies multikulturell gehandhabt werden. In einer Fernsehdiskussion über die Entscheidung des BVG sprach die Hamburger Bischöfin Jepsen über die Grausamkeit des Kruzifixes mit seiner bildlichen Darstellung eines nackten gefolterten Leibes Christi. Dies sei aus pädagogischen Gründen fragwürdig. "Ist das Kindern Tag für Tag in ihren Schulzimmern zuzumuten?" fragte Frau Jepsen und zog in einer Fernsehsendung ein Kreuz aus der Tasche, das statt des Körpers Christi auf den Balken eine naive Malerei tanzender Kinder zeigte. Diese Vision des Christentums stoße selbst in säkularisierten und multikulturellen Schulen auf keine Probleme, meinte die Bischöfin und empfahl das "sanfte" Kreuz zur allgemeinen Nachahmung. Dieser Vorschlag, so lautet die prompte Entgegnung, sei nichts anderes als eine seichte Popularaufklärung, in der Jesus nur noch als Therapeut auftrete und allenfalls ein angstfreier "Kuschelgott" ausfindig gemacht werden könne.

Mit den hier vorgestellten Diskussionsbeiträgen ist das Kreuz als Zeichen der Einheit in die schneidenden Mühlen diskursiver Zerlegung und öffentlicher Delegitimierung gelangt. Wir geben Konrad Adam recht, wenn er feststellt, die anfänglich diskutierte Frage, ob das Kreuz ein genuin religiöses oder mehr kulturelles Symbol sei, habe sich im weiten Raum der Beliebigkeit aufgelöst; erlaubt sei, was gefällt. Bei den diskutierten Vorschlägen, so Konrad Adam weiter, handelt es sich um die Aufforderung, nichts mehr ernst zu nehmen, "vielleicht die letzte Aufforderung, die man noch ernst nehmen darf." Das ist das eine. In der gesamten Würdigung dieses Beispiels zeigt sich insgesamt eine auf den ersten Blick merkwürdige Ambivalenz, die sich jedoch bei näherer Betrachtung als durchaus 'rationaler' Mechanismus erweist: Vieles spricht dafür, daß das BVG das Kreuz in seiner tiefen religiösen Dimension sehr ernst genommen und unter den Strukturen des säkularisierten Staates gesehen hat. De facto scheint das Kreuz in der Mehrheit der Bevölkerung eine, gemessen am religiösen Aussagewert weitgehend weichere, verflüssigte und eingeebnete Bedeutungsqualität zu haben. Es steht für eine existentielle Dimension, für die die moderne Zivilisation anscheinend keine Sprache mehr hat. Trotz dieser 'aufgeweichten' und 'vagen' Bedeutungszumessung hat das Kreuz als Zeichen einen offenbar hohen Stellenwert. Wir sehen die Erklärung darin, daß vor dem Hintergrund der fortschleichenden Auflösung kirchlicher Glaubenspraxis sowie angesichts des 'pluralistischen Sumpfes privatisierter religiöser Aktivität' das Kreuz (zumindest formal) als die einzig verbliebene Konstante kultureller Herkunft gelten kann und als solche auch gesehen wird. Der Spaß, der sich im bunten Pluralismus religiöser Praxis austobt, hört für breite Bevölkerungsteile anscheinend in dem Moment auf, wenn man ernst mit ihm machen will, d.h. wenn man die Schleusen für privatisierte Vielfalt nun höchstoffiziell öffnen und den Schleusenwärter für immer nach Hause schicken will. Gerade weil "die Einheit unter dem Kreuz nicht mehr vorhanden ist", so Jan Ross, "hält man am Zeichen der Einheit fest." Hier zeigt sich also ein durchaus 'rationaler' Mechanismus, der sich nahtlos in die anfängliche Betrachtung der Verflüssigung religiöser Energie einordnen läßt.

4. Die Dominanz der Parallelwelten institutioneller Politik

Das Modell der Demokratie beruht auf wenigen Grundannahmen und Ideen. Dazu gehört die Vorstellung, politische Richtungen eines Gemeinwesens im Widerstreit der Interessen öffentlich auszuhandeln. Die zivilisierte Bildung von Konsens und Kompromiß und die vertrauens-gestützten Kooperationsabläufe im Rahmen von Parteienkonkurrenz und Mehrheitssuche beinhalten, so der herkömmliche Gedanke von Demokratie, daß sich die öffentliche Gestaltungsmacht der Volkssouveränität als eine Art Einheit oder Gemeinschaft erfährt. Ausgehend von diesen Grundannahmen wurde die Politik des Staates im Kontext einer 'Corpus Metaphorik' als die 'Seele' des Ganzen verstanden. Politische Macht wurde bis in die letzten Verästelungen bürokratischer Apparate hinein als Mittel angesehen, den vorgezeichneten Volkswillen auszuführen. Das Parlament galt als der genuine Urheber von Entscheidungen.

Die Regierung wurde sozusagen als 'Kopf' des Gemeinwesens verstanden, als das alles vorhersehende und steuernde Zentrum. Die staatlichen Institutionen hatten unumstrittene Befugnis und Autorität zur Durchsetzung administrativer Vorgaben.

Es existierte ein politischer Raum als Ort des sozialen, kollektiven Konsenses, den die Großparteien lediglich für sich abzurufen brauchten. Politische Sachverhalte und damit verbundene Fragestellungen richteten sich (fast) ausschließlich an organisierte, korporatistische, kollektive Akteure. Es gab die politische Debatte als Auseinandersetzung über allumfassende Prinzipien der Politik, über integrative Grundideen und Ideologien. Der Politiker sollte hierbei der "Geburtshelfer" der Wahrheit sein: mit der Gabe der Rede und der Vernunft ausgestattet, sollte er im Rahmen der parlamentarischen Zeremonie soziale Transparenz sichtbar machen.

All diese Voraussetzungen, so hat man den Eindruck, sind nicht mehr gegeben.

Die Rede von der strukturellen Krise, von der schleichenden inneren Auszehrung der Politik ist zu einer geläufigen, öffentlich diskutierten Vokabel geworden. Und in der Tat hat es die Kritik leicht, strukturelle Defizite des Politischen offenzulegen. So wird darauf hingewiesen, daß die Probleme vielschichtiger, komplexer und undurchsichtiger, die Handlungsspielräume dagegen durch institutionelle Schwächen wie Überbürokratisierung, Regelungswut von Organisationen und wachsende Macht anomymer Verwaltungsstrukturen enger geworden sind. Die anstehenden Fragen und Probleme, so lautet die Kritik z.B. mit Blick auf die Steuerreformdebatten der Jahre 1996 und 1997, können immer weniger durch die Politik gelöst werden; hier zeige sich ein strukturelles Politikversagen (Putnam), ein Politikstau, der das Fehlen echter Alternativen bloßlege. Die Politik, so lauten andere Einschätzungen, sei in die Anspruchsfalle geraten, d.h. sei konfrontiert mit der Inflationierung der Ansprüche, die sie einst selbst hervorgebracht habe und nun ohne Legitimationsverlust nicht mehr zügeln und kanalisieren könne.. Andere wiederum weisen darauf hin, daß es in der Unüberschaubarkeit politischer Zusammenhänge bzw. Intransparenz von Entscheidungen nahezu unmöglich geworden sei, ein "verantwortliches Bewegungszentrum" auszumachen; eine direkte Folge sei das wachsende Gefühl der Machtlosigkeit in der Bürgerschaft. Die Politik sehe sich einem vertikalen Vertrauensverlust ausgesetzt, der bisher ungeahnte Ausmaße angenommen habe und letztlich für den resignierten Rückzug des Subjekts in die Gefilde privater Beschaulichkeit verantwortlich sei.

Die bisher nur plakativ angedeuteten Aspekte der Kritik nehmen sich vergleichsweise oberflächlich aus gegenüber der tiefergehenden Beobachtung, daß die Parteien und Regierungen im demokratischen System die visionäre Kraft zur Neudefinition kultureller Bezugspunkte verloren haben. Das heißt: Wenn durch die Auflösung politisch-kultureller Grundlagen die Demokratie als Gesellschaftsverfassung dazu verurteilt ist, ihre ‚substantielle Mitte‘ jetzt ausschließlich aus sich selbst heraus zu begründen, so stehen die Parteien diesem Prozeß der Suche nach neuen Formen hilflos gegenüber; sie sind, in Anlehnung an Peter L. Berger ausgedrückt, annähernd ratlos, am Konzept einer "kognitiven und normativen Straßenkarte" für die Gesellschaft mitzuwirken. Zweifellos steht in Programmdiskussionen, Diskussionskreisen und Akademietagungen der Parteien die Frage im Mittelpunkt, auf welche fundamentalen Wertgrundlagen sich die Politik stützen solle. Die Auseinandersetzung läßt jedoch überdeutlich erkennen, daß jene Werte, die im politischen Diskurs als unverzichtbar für eine soziale Gemeinschaft angesehen und unermüdlich propagiert werden, von keiner objektiven universalen Instanz gestützt werden können. Ein bezogener Standpunkt wird durch den Pluralismus vielfältiger Sichtweisen und Anschauungen im günstigsten Falle gleichberechtigt in die Reihe anderer Positionen eingeordnet und schließlich soweit relativiert und eingeebnet, daß er im Meer der Bedeutungslosigkeit versinkt. Die Selbstverständlichkeit und souveräne Überzeugungskraft jener geistigen Antriebskräfte, aus denen die Politik lange Zeit ihre Legitimation und Motivation bezogen hat, ist verlorengegangen. "Ohne klaren Kurs", so Werner Weidenfeld, "tanzen die Parteien auf den Wellenkämmen der medienumtosten Meere"; ohne Kompaß und ohne Orientierung muß politische Kultur "zum Glasperlenspiel verkommen." Zur Not, so ist mehr und mehr zu beobachten, hilft letztlich immer (noch) die Anrufung der Gerichte, näherhin des Bundes-verfassungsgerichtes. Und selbst hier zeigt sich ein ähnliches Bild:

Wenn das Gericht in der Auslegung der Normen des Grundgesetzes auf den dahinterstehenden, ontologisch vorgegebenen Wertehorizont, das Naturrecht, rekurriert, verfährt es entsprechend dem sachlogischen Charakter seiner Arbeit präzise und korrekt. Andererseits isoliert es sich damit selbst, indem das Gericht mit jedem Richterspruch die konfliktreiche Spannung zwischen philosophisch-metaphysischem Begründungsrahmen der Verfassung einerseits und der Kraft empirischer Lebenswirklichkeit andererseits hervortreten läßt. In der Zeit, als die Linken unter den Entscheidungen des Gerichts litten, kritisierten sie dessen Begründungen als Griff in einen Wertehimmel, als materialistisch unhaltbare Metaphysik und ‚Superlegalität‘.

Als sich z.B. im Rahmen des Kruzifix-Urteils im Jahre 1995 die Rechten über das Gericht ärgerten, trugen sie dieselbe Auffassung vor; sie bestritten den Bestand an universellen Normen, in deren Dienst sich das Gericht stellte und verlangten die Bindung an empirische Tatsachen: an den Volkswillen. Boykottaufrufe im Hinblick auf die Umsetzung des Urteils wurden von CSU-Landespolitikern höchst offiziell herausgegeben. In ihrem Dossier ‚Der leere Wertehimmel über Karlsruhe‘ gelangt Sibylle Tönnies zu dem Urteil, das BVG hinke zwangsläufig der Zeit hinterher, es rage wie ein Fossil aus der Aufklärung in unser Jahrhundert hinein und sei dazu verurteilt, einsam dem Werterelativismus entgegenzustehen; es gebe keine aktuelle erfolgreiche philosophische Strömung, die den Prinzipien der Verfassung die Hand reiche.

Vor diesem Hintergrund wird der Verfall des Rechtsbewußtseins der Bürger nachvollziehbar. Unter dem Titel ‚Rechtsgehorsam und Staatsgesinnung in der Krise‘ hat Andreas Püttmann eine Fülle empirischer Belege zusammengetragen, an denen der mangelnde Sinn für demokratisch-legitime Staatsgewalt, brüchigen Rechtsgehorsam, Subjektivierung der Normakzeptanz und das Mißtrauen gegenüber Institutionen überdeutlich erkennbar wurden. An vielen Beispielen konnte Püttmann aufdecken, daß rechtswidriger Druck als wirkungsvoller erfahren wird, als das loyale Vorbringen von Bürgerinteressen. Und nicht selten übernehmen die Parteien selbst in diesem Schema die Vorreiterrolle. Die globale Bilanz ist ernüchternd; die Auszehrung der Demokratischen Staatsverfassung, so lautet die treffende Einschätzung einiger Autoren, findet in ihrem Zentrum statt. Titel wie "Das Ende der Demokratie" (Guehenno) oder "Demokratie ohne Politik" (Dettling) signalisieren, daß sich in der Beobachtung vieler das Politische auf ein versteinertes Schauspiel von Symbolik, Ritualität und Selbstinszenierung reduziert. Hinter den gewohnten Kulissen der Allgegenwart der Parteien, der Wahlkämpfe und Institutionen, so Wilhelm Hennis, "läuft der Motor der Politik im Leerlauf", läuft das "Demokratietheater" (Gerhard Schulze) ab, ohne daß sich etwas ändert. Am Ende, so Bundespräsident Roman Herzog in seiner Rede vom 26. 4. 97 im Berliner Adlon Hotel, "steht meist die Vertagung des Problems, der Status quo setzt sich durch, alle warten auf das nächste Thema," (zit. nach: FAZ vom 28. 4. 97).

Unter der alles durchdringenden Macht des Parteienstaates, so resümiert Hennis, sind wir dabei, "Merkmale deutscher Staatlichkeit zu verspielen, die uns Stärke gaben." Die hier nur skizzierten Andeutungen zur Strukturkrise des Politischen sollen nun durch drei exemplarische Einzelbeobachtungen tiefer ausgeleuchtet werden.

Erstens: Wir beginnen mit dem Nachweis, daß die Gestaltungsmacht institutioneller Politik ausgehöhlt wurde und statt dessen ins ‘Niemandsland‘ diffuser ‚subpolitischer Zwischenräume‘ abgewandert ist. Ulrich Beck hat dargelegt, inwiefern das Potential der Gesellschaftsgestaltung und Veränderung aus dem politischen System in den Bereich der wissenschaftlich-technischen und ökonomischen Modernisierung abgewandert ist. D. h., die Innovationsschübe zur Modernisierung, so Beck, kommen eben nicht aus den Debatten des Parlaments oder den Entscheidungen der Exekutive, sondern ergeben sich aus der Umsetzung von Mikroelektronik, Reaktortechnologie und Humangenetik, also aus Bereichen, die sich im Rahmen der technisch-wissenschaftlichen Modernisierung nach außen entscheidungsverschlossen zeigen, die Gesellschaft mit der produzierten Dauerveränderung aber vor große Herausforderung stellen. Wenn die Entwicklungsrichtungen und Ergebnisse der technologischen Modernisierung in ihrer gesellschaftsverändernden Wirkung bewußt werden und erlebbar sind, werden sie fast zwangsläufig legitimationspflichtig, erhalten eine moralische und politische Dimension in der Öffentlichkeit, die sie ursprünglich nicht gehabt haben, sie verlieren, wie Ulrich Beck formuliert "parallel mit der Reichweite ihrer Veränderungs- und Gefährdungs-potentiale den Charakter der Nicht-Politik: die Neutralität und sachliche Politiklosigkeit der ökonomisch-wissenschaftlichen Sphäre wird aufge-hoben." In schleichenden Prozessen beginnt die technisch-ökonomische Entwicklung als ursprüngliches Medium der Nicht-Politik langsam die Führungsrolle der Politik zu übernehmen und fällt damit zwischen die beiden Kategorien: sie wird etwas Drittes, nämlich "Subpolitik." Hier artikulieren sich quer zur formalen, vertikalen und horizontalen Gliederung von Befugnissen des politisch-institutionellen Systems im Zusammenwirken verschiedener Akteure neue Mitbestimmungs- und Kontrollmöglichkeiten als kollektive Antwort auf die Herausforderungen technologischer Modernisierung. Es werden neue Netzwerke von Kompetenzen, neue Elemente politischer Steuerung auf den Ebenen vielfältiger kultureller und sozialer Teilarenen ausdifferenziert. Sie sind in der Lage, gegenläufig zu formalen Hierarchien institutioneller Entscheidungsträger die Tagesordnung der öffentlichen Politik mitzubestimmen und zu verändern, da sie damit beginnen, unter dem Diktat systemfremder Kriterien in den "Intimbereich" des ökonomischen, technologischen und wissenschaftlichen Managements hineinzuregieren. Jenseits formaler Zuständigkeiten des Parlaments, der Exekutive und Verwaltung wächst ein pluralistisches und widerspruchsvolles buntes Engagement von Groß- und Partialöffentlichkeiten heran, eine professionelle Konfrontation der Interessen und provisorischen Allianzen, die sich auf ad hoc mobilisierte Kompetenzen und Legitimationen stützen. In der Geräuschkulisse der Streitigkeiten auf allen Bühnen und in allen Themen etabliert sich hier eine informelle "Verhandlungsgesellschaft", die ein großes Stück politischer Wildnis hinterläßt. Alles, so Beck, "muß begackert, zerhackstückelt, ver- und zerhandelt werden, um am Ende – mit dem Segen allgemeiner Unzufriedenheit – diese oder jene von niemandem gewollte Wende zu nehmen, vielleicht nur aus dem einen Grund: weil sonst die allgemeine Blockade droht. Das sind die ‚Wehen‘ einer neuen ... Selbstgestaltungsgesellschaft, die alles irgendwie erfinden muß, aber nicht weiß: wie, wofür, mit wem; eher schon: wie nicht, wogegen, mit wem auf gar keinen Fall."

Jean Marie Guehenno weist darauf hin, gerade in der Explosivität des Kleinen, scheinbar Banalen liege ein gutes Stück Wirkung und Geheimnis dieser neuen Dimension des Politischen, der Subpolitik; das Private werde plötzlich das eigentlich Politische: "Der Mikrokosmos der eigenen Lebens-führung ist plötzlich kurzgeschlossen mit dem Makrokosmos globaler Probleme von erschreckender Unlösbarkeit."

Zweitens: Was geschieht nun mit der eigentlichen, offiziellen, institutionellen Politik? Ihre Logik erschöpft sich. Zur Erinnerung: Die Impulse zur Gesell-schaftsveränderung erfolgen aus den innovativen Entwicklungen ursprünglich unpolitischer Bereiche. Die hieraus erwachsene massen-demokratische Aufladung und Verselbständigung der subpolitischen Teilarenen tendiert mehr und mehr dazu, Kompetenz zu demonstrieren, autonome und selbstbezügliche Legitimationen aufzubauen und sich der Anwendung etablierter demokratischer Regeln zu entziehen. Der Machtverfall politischer Institutionen wird damit beschleunigt. Durch die in der Öffentlichkeit wirksam gewordene Dominanz individuell-privater Plausibilitäten jenseits aller Expertenlogik wird die exekutive Politik demokratisch verfaßter Entscheidungsrechte und Führungsstrukturen ausgehöhlt. Eine merkwürdige Dopplung entsteht: Das ursprünglich Nichtpolitische erhält politische Brisanz, während umgekehrt die intakten Abläufe institutioneller Steuerungspolitik in eifrigem Aktionismus ihrem Gegenstand plötzlich hinterherlaufen müssen. Der Handlungs- und Steuerungsanspruch institutioneller Politik ist irreal geworden: "Sie wird zum Sachverwalter einer Entwicklung, die sie weder geplant hat, noch gestalten kann, aber irgendwie doch verantworten muß." Ihre funktionale Leistung läuft Gefahr, in der Unauffälligkeit administrativer Vorgänge zu verschwinden und kann nur noch durch künstlich inszenierte Symbolik wahrgenommen werden.

Auf mehreren Ebenen gleichzeitig ging das Spezifikum der Politik, das exklusive Zentrum politischer Steuerung verloren. "Wir suchen das Politische am falschen Ort", kommentiert Ulrich Beck die Situation, "mit den falschen Begriffen, in den falschen Etagen, auf den falschen Seiten der Tageszeitung." Es handelt sich, so läßt sich zusammenfassend mit Ulrich Beck formulieren, "um einen Kategorienwandel des Politischen bei konstanten Institutionen, intakten, nicht ausgewechselten Machteliten." In den 80er Jahren wurde dieser Kategorienwandel primär mit dem Hinweis auf die Aktivitäten sozialer Bewegungen erklärt. Man erkannte in ihnen eine aufbrechende Form "privatisierter Vernunft", die sich in einer sozialen Mobilisierung Gehör verschaffte und die institutionelle Politik unterwanderte und verunsicherte. "Die Individuen kehren in die Gesellschaft zurück", so lautete die Beschreibung dieses Sachverhaltes. Das gesellschaftlich erstaunlichste und überraschendste, wohl am wenigsten begriffene Phänomen der 80er Jahre, war die unverhoffte Renaissance einer politischen Subjektivität außerhalb und innerhalb der Institutionen.

Es gibt viele Anzeichen dafür, daß dieser Vorgang ab Mitte der 90er Jahre abstraktere Formen angenommen hat. Die traditionellen Protestbewegungen sind in Anzahl und Bedeutung zurückgegangen; der große Umzug, das Laufen und Plakateschwingen als Ausdruck "ziviler Mobilisierung" steht nicht mehr unbedingt im Zentrum. In seinem Beitrag ‚Konzeptkunst‘ (FAZ vom 19.7.95) sieht Niklas Luhmann stattdessen eine neue Qualität subpolitischer Einflußmacht mit tiefgreifenden Auswirkungen auf die Gesellschaft. Damit sind wir bei dem dritten Aspekt angelangt:

Ungeachtet dessen, daß es nach wir vor das Engagement vereinzelter Akteure subpolitischer Teilarenen gibt, wendet sich Luhmann dem Einflußbereich der sogenannten ‚öffentlichen Meinung‘ zu: Was als öffentliche Meinung erscheint, oder in den Massenmedien so behandelt wird, führt er aus, hat nichts mit den empirischen Bewußtseinszuständen unzähliger Individuen in einem bestimmten Zeitpunkt zu tun. Daraus kann man nichts lernen. Die öffentliche Meinung kann in seiner Analyse gar nichts anderes sein, als ein "Geflecht" von Schematismen, die dazu benutzt werden, intransparente Sachverhalte kognitiv zu organisieren." Diese Schemata bzw. Kategorisierungen ("Skripte") erfassen Auslösekausalitäten mit offenen Auswirkungen und konstruieren sie so, als ob es Durchgriffskausalitäten mit guten und schlimmen Ergebnissen wären.

Dies hat Implikationen: Geht es in einer lautstark diskutierten Frage um Beteiligung, Einflußnahme und Machtausübung, so gilt generell (gerade für nichtinstitutionelle Akteure), daß durch die optische und verbale Besetzung von Plätzen, d.h. durch die Aktivierung von Symbolik, die entsprechenden "Skripts" bereitgehalten werden. Auf diese Weise kann jeder, der sich handelnd beteiligen will, für sich selbst einen Platz vorsehen und etwas zu fördern oder zu verhindern versuchen, ohne die Welt oder die Wahrheit zu kennen; ."..was er kennen muß", so Luhmann, "ist sein Skript." Hierdurch wird die emotionale Aufladung schematisierten Erlebens erklärbar: Gerade weil jedes Schema die Intransparenz der Wirklichkeit verdeckt, bieten sich emotionale Verstärkungen an. Werden die Attributionen der Skripts von den aktiv Beteiligten kontinuierlich am Leben erhalten und symbolisch verstärkt und von den Adressaten im Gedächtnis festgehalten, so "festigt sich die öffentliche Meinung durch Erinnerung an sich selbst."

Die bisherigen Ausführungen zu durchweg abstrakteren Formen subpolitischer Einflußmacht sind, wie von selbst, auf ein exemplarisches Beispiel zugelaufen: Wir meinen die Vorgänge um die Versenkung der Ölplattform "Brent Spar" im Jahre 1995.

Zur Erinnerung: Der Shell-Konzern wollte 1995 eine ausgediente Ölplattform im Meer versenken. Durch massendemokratische Aufladung erhob sich internationaler Protest. Der Auslöser kam aus dem nichtpolitischen Bereich (Industrie / Technologie) und führte zu einer gewaltigen Mobilisierung des subpolitischen Faktors: Greenpeace-Aktivisten, Bürgerinitiativen und Medien entfesselten mit der Symbolik eindringlicher Bilder und moralisierender Sprache einen Proteststurm der Empörung, der selbst vor Kindergärten nicht halt machte. Hierdurch wurden Skripte bereitgestellt und jeder konnte wählen. Die Wahl fiel mehrheitlich so aus, daß sich die britische Regierung, die die Genehmigung der Versenkung hartnäckig verteidigte, bald der internationalen Verachtung ausgesetzt sah. Als dann der Shell Konzern von sich aus auf die Versenkung verzichtete, wurde die britische Regierung und damit die institutionelle Politik öffentlich delegitimiert, während die verselbständigte Energie der subpolitischen Teilarenen einen überzeugenden Sieg errungen, d.h. die eigentliche Politik betrieben hatte. Es waren nicht in erster Linie die Massen auf den Straßen, sondern die sozusagen sich selbst inszenierte, frei schwebende und bewegliche Vernetzung von Schematisierungen und Kausalattributionen in subpolitischen Zwischenräumen, die den Sieg davontrug. Jedem Seiteneinsteiger wurde also eine situative, emotional faßbare und vor allem unverbindliche Identifikationsmöglichkeit geboten – und noch darüber hinaus: die Aussicht auf einen schnellen Sieg. Unabhängig von der Bewertung, ob eine Versenkung ökologisch vertretbar ist oder nicht, muß festgehalten werden, daß es Greenpeace in diesem Konflikt verstanden hat, sich als letzte moralische Instanz der Demokratie darzustellen.

"Da ist alles dran", so Thilo Bode, Greenpeace-Manager über die Kampagne "Brent Spar": die visuelle Durchschlagskraft, der Symbolgehalt, ein mächtiger Gegner. Sein ganzes Leben, so Bode, habe er auf eine Aktion wie "Brent Spar" gewartet; ."...man hat all die Typen mit ihren blauen Anzügen in der Ecke. Die ganze Presse ist heiß wie ein Grillwürstchen. Supergeil!" Im Hinblick auf die breite Akzeptanz des Boykotts von Shell-Tankstellen spricht Bode von der neuen Dimension der sogenannten "Verbrauchermacht." Ausschlaggebend waren hierbei natürlich weniger die fis-kalischen Aspekte, als vielmehr die mächtigen Prozesse sozialer Selbstorganisation in den Zwischenräumen von Lebenswelt, institutioneller Politik und Medien. So mußten die Kinder des Verfassers dieser Arbeit im Kindergarten die monströse Bohrinsel malen, die von der zaghaften Macht vereinzelter Greenpeace-Aktivisten aufgehalten wurde.

"Fast scheint es", so Sonja Zekri, "als suche nicht das Anliegen den Protest, sondern als wähle sich der Protest ein Anliegen, an dem er sich am wirkungsvollsten in Szene setzen kann. Nach den Regeln einer neuen ‚Ästhetik des Widerstandes‘ wird die Kampagne zum Produkt stilisiert."

In seinem Buch "Brent Spar oder die Zukunft der Meere" hat Jochen Vorfelder in beeindruckender Anschaulichkeit aufgezeigt, in welcher Weise das gesamte Spektrum der Medien dem massenpsychologischen Schauspiel von Greenpeace in die Hände gespielt hat; "die Symbiose mit den Massenmedien, so Vorfelder, "war für den Erfolg von Greenpeace essentiell."

Als Lobby "fürs Allgemeine" hat diese Organisation den Leerraum besetzt, der durch den Defaitismus der anderen aufgerissen wurde, sie verstand das Vakuum zu füllen, das durch den Rückzug von Parlamenten, Regierungen und Parteien, entstanden ist. Brent Spar, so Thilo Bode in einem ZEIT-Interviev, "war... Greenpeace classics."

Ulrich Beck nimmt dies zum Anlaß, die Greenpeace-Aktionen als Vorboten eines neuen und besseren Weltzeitalters zu begreifen, in dem jeder teilhaben kann an allem. Die verbreitete Rede vom "Ende der Politik", so Beck in einem Artikel der ZEIT, gehe ins Leere; "die Menschen müssen nur ein Zipfelchen direkter Politik mit erfahrbarem Erfolg in die Hände bekommen – und schon sind sie wieder dabei." Gegenüber dieser Einschätzung soll hier jedoch mit Konrad Adam kritisch hinterfragt werden, was passiert, wenn alle vermittelnden Instanzen und Institutionen ausfallen und die souveränen Endverbraucher ihr "Hosianna!" oder "Kreuziget!" massenhaft hinausschreien dürfen. Die Wogen des Protestes, so Adam, laufen dann "ungebremst und von den Medien zu wahren Wellenbergen aufgeschaukelt um den Erdball, jede Einzelfrage auf die simpelste Alternative zugespitzt: die Wahl zwischen Gut und Böse, Licht und Finsternis." Und genau dies ist im o.g. Fallbeispiel klar erkennbar gewesen: In einem verschärften moralischen Klima und Milieu waren die dramatischen Rollen von Heroen und Schurken klar verteilt. In diesem Kampf der ‚Götter‘ gab es kein Abwägen und kein Abwarten. Der einzelne mußte Partei ergreifen, schnell und unbedingt. Die Fronten waren klar und wenn es den Fahnenwechsel überhaupt gab, dann nur in Form der abrupten Umkehr, der Konversion.

Ob Brent Spar, Gorleben, Castor-Transport oder Murroroa-Atoll: An Skripts wurde einiges geboten. Die Gegenüberstellung von guter, gesunder, wilder Natur und schlechter, kranker, zerstörerischer Zivilisation war in ihrer plakativen identitätsstiftenden Einfachheit perfekt gelungen und die symbolischen Akte des "Mitmachens" nahmen in ihrer Vereinzelung immer buntere Formen an: Unter Führung des STERN konnte man seinen persönlichen Protest gegen Murroroa mittels Postkarte an Jacques Chirac / Frankreich senden, um das wohlige Gefühl genießen zu können, "alles versucht zu haben", diesen "Wahnsinn zu verhindern." Eine Gastwirtin aus Dieburg legte 5.000 Karten in ihrem Biergarten aus, eine Weinhändlerin aus Münster versprach, von jeder verkauften Flasche französischen Weins zehn Pfennig zur Unterstützung von Greenpeace zu verwenden. Besuch von Murroroa-Protestkonzerten, Boykottaktionen bei Shell und spontane Murroroa-Work-Shops in Schulen gab es ebenso, wie die Ausgabe von handgemalten Plakaten für Autofahrer mit dem Titel "Hupt gegen den Wahnsinn."

In solchem Facettenreichtum durfte die Prominenz nicht fehlen: Unter dem Titel "Im Chor der Gutmenschen" nennt DER SPIEGEL die Protagonisten, die von Friedrich Schorlemmer bis zu Margarethe Schreinemakers, von Horst Eberhard Richter bis zu Ulrich Wickert, von Christa Wolf bis zu Lea Rosh das einfache Skript salonfähig machten, daß auf einen vermeintlich globalen Notstand mit globalen Maßnahmen reagiert werden müsse. Wir fragen: Mit welcher Begründung konnte man sich diesem Argument entziehen?

Die spezifische Charakteristik der Protest- und Angstkommunikation hat Niklas Luhmann in bestechender Klarheit herausgestellt. Angstkommunikation, so Luhmann in seinem Band "Ökologische Kommunikation", ist immer authentische Kommunikation, da man sich selbst bescheinigen kann, Angst zu haben, ohne daß andere dies widerlegen können. Das gesellschaftliche Problem liegt dabei weniger in der psychischen Realität von Angst, als vielmehr in ihrer kommunikativen Aktualität. Wenn Angst kommuniziert wird und im Kommunikationsprozeß nicht bestritten werden kann, gewinnt sie eine moralische Existenz. Wer Angst hat, so Luhmann, ist moralisch im Recht. Angst " ist das moderne Apriori- nicht empirisch, sondern transzendental." Insofern ist es nur folgerichtig, wenn sich die Protest- und Angstkommunikation für die gute Gesellschaft hält; sie äußert sich aus Verantwortung für die Gesamtgesellschaft, aber gegen sie. In seinem jüngsten Werk "Die Gesellschaft der Gesellschaft" zeigt Luhmann die Implikationen dieses Schemas auf: Von Protestbewegungen ist nicht zu erwarten, daß sie begreifen, weshalb etwas so ist; und auch nicht, daß sie sich klarmachen können, was die Folgen sein werden, wenn die Gesellschaft ihrem Protest nachgibt. Hier versucht man nicht zu verstehen und man braucht auch nicht zu verstehen, denn gegen Komplexität, so Luhmann, kann man nicht protestieren. Die Aktivitätsformen der Protestgruppen in subpolitischen Arenen resultieren in der Einschätzung Luhmanns aus dem Umschlag von Nichtwissen in Ungeduld. "Sie ersetzen das Nichtwissen durch das Wissen, daß wir uns Abwarten jedenfalls nicht mehr leisten können, weil Wissen, wenn überhaupt, zu spät kommen würde. Sie sind in dieser Reflektiertheit allem überlegen, was ihnen Widerstand leistet."

Um protestieren zu können, so Luhmann, muß man die Verhältnisse "plattschlagen", dazu dienen die Schemata und vor allem die Skripts, die sich in der öffentlichen Meinung mit Hilfe der Massenmedien durchsetzen lassen. Schematisierungen und Skripts haben die ebenso banale wie folgenreiche Funktion, auf Probleme hinzuweisen, die dann mit weiteren Schematismen behandelt werden können. Was unter dem Gesichtspunkt sozialer Orientierung für den einzelnen attraktiv ist und zugleich die Reproduktion medialer Inszenierungen lebendig hält, erweist sich unter dem Aspekt demokratischer Verantwortung als höchst brisant, da hiermit gefährliche Potentiale für Demagogie und zunehmende Radikalisierung zu erwarten sind. Denn während jeder in kurzatmiger Leidenschaft für seine Wahrheit eintritt, tut er in Wahrheit nur, was alle tun und kann umso wirkungsvoller gegängelt werden, da er die Drähte, an denen er hängt, nicht mehr sieht.

5. Das Ende der Bürgergesellschaft

Im vorangegangenen Kapitel wurde versucht, die Wirkungsmacht inzwischen sehr abstrakt gewordener politischer Steuerungsmechanismen aufzuzeigen. In diesem Kapitel geht es um eine analoge Feststellung aus der Perspektive der Subjekte bzw. der demokratischen Bürgerschaft. In der Weise, in der sich die Politik aus den Institutionen verabschiedet und ‚draußen‘ irgendwie verflüchtigt hat, hat sie zugleich die gemeinschaftsbindende Kraft kollektiver politischer Klassen bzw. Trägergruppen verloren. An den o.g. Beispielen von Brent Spar und Murroroa konnte gezeigt werden, daß sich die politischen Subjekte nicht länger in den alten sozialen Formationen (Klassen oder Schichten) bewegen, sondern sich, wie Warnfried Dettling sagt "in möglichst freien Assoziationen binden." Hier gibt es eben nicht mehr das Kollektiv politischer Subjekte, die Reformanliegen zielorientiert in eine spezifische Richtung treiben, sondern allenfalls die sprunghafte Spontaneität unvermittelt wechselnder politischer Interessen, die sich, wie Gerhard Schulze unseres Erachtens zu recht feststellt, häufig nur noch in "ästhetischer, emotionaler und erlebnisorientierter Weise artikulieren." Es zeigt sich, daß die "aktive Bürgergesellschaft" als integrierendes Element zwischen dem abstrakten Gebilde des politischen Staates, d.h. der Welt der Megastrukturen einerseits und der ‚hingeworfenen‘ Vereinzelung des Bürgers andererseits weitgehend verlorengegangen ist. Die aktive Bürgergesellschaft wurde bisher als das konstitutive Merkmal demokratischer Gesellschaftsverfassung angesehen. Man verband damit die Vorstellung, daß sich demokratischer Meinungs- und Interessenwiderstreit in einem von Gemeinschaftsbindungen getragenen öffentlichen Regel- und Austauschzusammenhang vollzieht, der mit der Aufmerksamkeit und Anteilnahme der Bürger rechnen konnte.

Statt dessen läßt sich heute beobachten, daß die Subjekte immer weniger in gemeinsamen politischen Räumen verortet sind, daß die alten sozialstrukturellen Milieus als politische Trägergruppen auseinandergefallen sind. Die von den Großverbänden organisierte Kollektivierung und Freisetzung politischer Interessen sowie die Solidarisierung oder politische Aufladung ‚gewachsener‘ interessenhomogener Milieus sind keine echten Faktoren mehr im politischen Prozeß. Das einende Band politischer Gemeinschaften ist Zug um Zug durch politische Fragmentarisierung und die atomistische Sichtweise vereinzelter Bürger ersetzt worden. Die nach wie vor wertbestimmten Aktivitäten des einzelnen scheinen, wie Peter L. Berger feststellt, in einem ‚sozialen Vakuum‘ abzulaufen und haben deshalb eine höchst unzuverlässige und zerbrechliche Überzeugungs- und Bindungskraft.

Unzählige Beiträge weisen auf die bedenklichen Folgen dieser Entwicklung hin, beklagen die mangelnde Bereitschaft zu staatsbürgerlichem Engagement im Ehrenamt, die Unverantwortlichkeit für das Ganze. Niemals, so lautet die übereinstimmende Einschätzung vieler Beobachter, könne die Demokratie gleichgesetzt werden mit einem nur formalen, institutionell-funktionalistischen Apparatismus zur Regelung von Sachentscheidungen. Die ausgehend von dieser Bestandsaufnahme vorgetragenen Lösungskonzepte zur institutionellen und philosophisch begründeten Neu- und Umgestaltung der bundesrepublikanischen Demokratie sind vielfältig:

Von Bundespräsident Herzog über Politiker (z.B. Biedenkopf u.a.) und völlig unterschiedliche sozialwissenschaftliche Ansätze (wie z.B. Beck, Klages, Berger, Guehenno, Offe, Weidenfeld u.a.) bis hin zu den weitgehend ‚etablierten‘ Lösungskonzepten Etzionis geht es um die gemeinsame Frage, wie sich die Demokratie in einen Kernbestand gemeinsam getragener Wertgrundlagen wiederverankern kann bzw. wie das Gleichgewicht zwischen der Verlorenheit individueller Autonomie und gesellschaftlicher Ordnung hergestellt und bewahrt werden kann, um die Zukunftsfähigkeit demokratischer Gesellschaftsverfassung zu sichern. Und es ist nicht außergewöhnlich, daß diese von vielen Autoren mitgetragene und z. T. leidenschaftlich geführte Diskussion zuweilen lediglich jene ernüchternde Antwort findet, die Etzioni bereits sehr früh in den USA erhalten hat: "wishful thinking."

 

6. Die globale Herrschaft supranationaler Strukturen

Schon auf dem ersten Blick ist erkennbar, daß eine Fülle gesellschaftspolitischer Konflikte und Problemlagen (wie z.B. Kriminalität, Umweltbelastungen durch Schadstoffausstoß, Krankheitsbilder wie z.B. Aids) globale Dimension angenommen haben. Sie tragen mehr und mehr dazu bei, das Prinzip nationalstaatlicher Souveränität im Sinne einer fast monolithischen Geschlossenheit politischer Verfügungsgewalt aufzulösen. Das Wort von der Wirkungskraft der Globalisierung ist in aller Munde.

In Anlehnung an die Unterscheidung Franz Xaver Kaufmanns sehen wir in diesem Begriff zunächst einmal den Aspekt der Internationalisierung, d.h. die fortschreitende Ausdehnung grenzüberschreitender Handlungen vorwiegend im Bereich der Politik, der Wirtschaft und Wissenschaft. So deuten Stichworte von der "entgrenzten Ökonomie" und der "Internationalisierung der Politik" darauf hin, daß sich Wirtschaftsaktivitäten und Finanzströme der Großunternehmen sowie Gesetzgebungsprozesse und politische Strukturvorgaben längst der einzelstaatlichen Steuerung entzogen haben und sich statt dessen in einem undurchsichtigen Geflecht international vernetzter Strukturen verborgen halten.

Ein zweiter Aspekt ist die Globalisierung im eigentlichen Sinne, d.h. die Entstehung und Intensivierung einer weltweiten Kommunikationsgemeinschaft durch die weltumspannende Vernetzung von Verkehrsmitteln und elektronischen Medien, der sich letztlich niemand entziehen kann. Der dritte Begriff der Transnationalisierung bringt das Entstehen eines die nationalstaatlichen Rechtsverordnungen übergreifenden Institutionsgefüges bzw. eines multilateralen Netzes kollektiver Akteure zum Ausdruck. Man kann leicht erkennen, daß wichtige Funktionen in Wirtschaft, Währung, Wohlfahrt und Sicherheit ‚nach oben‘ in internationale Behörden abgewandert sind bzw. durch ein wachsendes Geflecht transnationaler Abkommen und Organisationen reglementiert werden.

Im Unterschied zur Internationalisierung sind hier nicht situativ benutzte Verflechtungen gemeint, sondern die institutionell verfestigten Strukturen transnationaler Querverbindungen und Kooperationen in ihren interdependenten Abhängigkeiten, wie z.B. bei weltweit operierenden Finanzmärkten oder Wirtschaftsunternehmen (mit der Produktion in Thailand, dem Verkauf in Deutschland und der Versteuerung in Luxemburg). Der Autonomiegewinn dieser "unstofflichen Weltwirtschaft" (Franz Xaver Kaufmann) ist enorm. Es sind, wie Paul Noack feststellt, die "Größenordnungen, die beängstigen, nicht die Prinzipien." Wenn nachfolgend von Globalisierung gesprochen wird, so sind die hier angedeuteten Aspekte in ihren inneren Beziehungen mitzusehen.

Globalisierung, so lautet die allgemeine Feststellung, läutet einen tiefgreifenden qualitativen Wandel in der strukturellen Verfassung der Gesellschaften ein. Die Möglichkeiten sowie die Macht nationalstaatlicher Regelung und Intervention sind erkennbar geschrumpft, parallel hierzu, so lautet die Klage, werden Konflikte im Feld globaler, ungeordneter Strukturen nur noch auf chaotische und anarchische Weise entschieden bzw. gelöst. "Clinton, Spielberg und Gates", so lautet die desillusionierende Einschätzung eines Beobachters, "sind Repräsentanten der gegenwärtigen Hegemonialmacht, postmoderne Technokraten und heutige Entsprechungen der Machttrias Politik, Religion, Geld."

Im hier gegebenen Rahmen kann eine umfassende Gewichtung des inzwischen stark angewachsenen Diskussionsspektrums auch nicht annähernd geleistet werden. Die folgenden Ausführungen beschränken sich daher auf eine zusammenfassende Darstellung unstrittiger Grundannahmen, die quer zu allen Beiträgen auffindbar sind. Unstrittig ist z.B. die Feststellung Jean Marie Guehennos, daß sich mit der Globalisierung die Sachlogik und Effizienz kybernetischer Selbstläufe im Bereich der Politik, der Wirtschaft und des Rechts gewaltig ausgedehnt hat. Mit der rasanten Verdichtung supranationaler Strukturen und der Vervielfachung weltweit agierender Akteure sind die Interaktionsläufe weitgehend intransparent geworden. In der Folge muß sich die nationale Politik von der Logik alter Prozesse lösen. Sie steht vor der paradoxen Aufgabe, Verantwortung für Entscheidungen übernehmen zu müssen, die in anonymen Strukturen weit entfernter Räume getroffen worden sind. Die nationale Politik kann in diese Strukturen nicht hineinregieren. D.h. die politische Ebene des Nationalstaates wird ihre Bedeutung als Zurechnungszentrum zwar nicht verlieren, aber über die Entscheidungsbedingungen kann sie immer weniger verfügen. Die Vorstellung vom Nationalstaat als einer demokratisch sich selbst steuernden Schicksalsgemeinschaft wird immer unrealistischer. Denn die nationalstaatlich verfaßte Gesellschaft beruht auf der Vorstellung der politischen wie kulturell-moralischen Konstituierung gesellschaftlicher Einheit und ist darüber hinaus charakterisiert durch das Merkmal der Unabhängigkeit von anderen sozialen Einheiten. Kaufmann weist darauf hin, daß der Prozeßbegriff der Globalisierung genau diesen Zustandsbegriff der Gesellschaft (als sinn- und gemeinschaftsstiftenden Verbund) in Frage stellt. Da eine gemeinsame transstaatliche politische Öffentlichkeit ebenso fehlt wie eine über die EU hinausgehende parlamentarische Regulierung globaler politischer Herrschaft, ist die nationale Politik weitgehend dazu verurteilt, wie Werner Weidenfeld feststellt, "in der Enge provinzieller Nabelschau zu verkümmern."

Mit anderen Worten: Die Distanz zwischen nationaler Politik und der globalen Herrschaft supranationaler Strukturen ist enorm gewachsen, ist in ihrer Widersprüchlichkeit erkennbar geworden, ihre lähmenden Auswirkungen sind offen zu Tage getreten. Was kann sich in den Zeiten der Globalisierung durch Wahlen noch ändern außer der politischen Rhetorik? Wird der politische Streit gegenstandslos? Die Politik steht damit vor gewaltigen Herausforderungen. Auch auf dem Gebiet der Kultur kann man beobachten, wie die Globalisierung die Nationalstaaten nach innen (bzw. nach unten) entleert. Basissicherheiten menschlicher Gemeinschaften wie z.B. gesellschaftsspezifische Wertehorizonte und kulturelle Identitäten schwinden, zurück bleibt ein fragmentiertes Gebilde insularer Lebensstile, vereinzelter Überzeugungsgemeinschaften und Sonderinteressen. Wenn Guehenno feststellt, daß es keiner ertragen kann, einer abstrakten, unkontrollierten Globalität gegenüberzustehen, so faßt er damit das Anliegen vieler Autoren zusammen, nämlich die Anpassung an die unumkehrbare Globalisierungsentwicklung mit einer kritischen Reflexion darüber zu koppeln, welches Band zwischen der globalen Macht und der Gemeinschaft bestehen soll, damit letztlich immer noch eine irgendwie verfaßte 'Mitte' identifiziert werden kann. Das Problem ist bekannt, die Antworten und Lösungen wie immer vielschichtig und umstritten. Betonen die einen, die Entwicklung werde in einer profillos-standardisierten Einheitskultur erstarren, so fordern die anderen, die Demokratie müsse möglichst viel von ihren Formen und ihrem spezifisch national geprägten Gehalt in die sich neu bildende transnationale Ordnung hineintragen und wieder andere sehen die Zukunft gerade nicht in der 'Kuppel' einer globalisierten Gemeinschaft, sondern allenfalls im Rückzug auf die Konkretheit und Überschaubarkeit politisch-kultureller Basisgemeinschaften. Festzuhalten bleibt, daß der in den ersten Abschnitten dieses Kapitels angedeutete Befund der dezentralen Zerfaserung des genuin Politischen sowie der Verflüssigung substantieller Kultur und Öffentlichkeit auch unter dem Stichwort der Globalisierung klare Bestätigung gefunden hat.

7. Das Fernsehen zwischen Bedeutungsverlust und Machtausweitung

Der Umbruch zur Informationsgesellschaft hat längst begonnen. Die rasende Entwicklung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, die Vernetzung und Digitalisierung haben eine Medienrevolution in Gang gesetzt, die die Grundlagen der Gesellschaft berühren. In kurzer Zeit ist eine weltumspannende Kommunikationsstruktur entstanden, bei der räumliche und zeitliche Beschränkungen nahezu unerheblich geworden sind. Wirtschaft, Arbeitswelt sowie der lebensweltliche Alltag stehen gleichermaßen vor neuen Herausforderungen. Längst hat diese ‘neue Welt’ ein entsprechendes Vokabular hervorgebracht: Multimedia, Elektronic-Highway, Interaktivität, Telepräsenz, Delokalisieren, Telekosmos, E-mail, Cybercash, CHAT, IRC (Internet Relay Chat), Hypertext sind nur einige Begriffe, die das ‘digitale Neuland’ skizzieren. Aufgrund der unübersehbaren Fülle der Zahlen, der qualitativen Veränderungen und Optionen ist es im Rahmen dieser Arbeit unmöglich, einen vollständigen Überblick über sämtliche Aspekte der technologischen Innovation zu geben. Die nachfolgenden Ausführungen sollen daher die Entwicklung nur skizzenhaft andeuten:

Die Computerindustrie hat 1996 70,9 Millionen Heimcomputer verkauft, 18 % Zuwachs gegenüber dem Vorjahr. Im Jahr 1998 wurde erstmals die Marke von 100 Millionen überschritten. Im Jahre 1997 ist in Deutschland der Markt für informationstechnische Hardware, Software, Dienstleistungen und Telekommmunikationstechnik auf 200 Milliarden DM gewachsen; die Branche, so Fachleuchte, werde sich zum wichtigsten Wirtschaftszweig entwickeln. Die Chip-Herstellung steigt explosionsartig an: ein Wachstum von jährlich 50% ist derzeit die Regel; über 900 Millionen Chipkarten waren 1997 in Umlauf. Unsere Branche, so Intel-Manager Jens Bodenkamp, "entwickelt etwa alle 18 Monate Chips, die doppelt so leistungsfähig sind wie ihre Vorgänger, und das zu gleichen Preisen." Bis zur Jahrtausendwende, so Ulrich Hamann, Leiter des Geschäftsbereichs Chipkarten-IC bei der Firma Siemens, haben Chipkarten die Rechenleistung heutiger PCs. Die Chip- und Computerindustrie hatte Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre einen Produktzyklus von ca. 3. Jahren. Heute, im Jahre 97, liegt er bei anderthalb Jahren mit fallender Tendenz. Bereits im Jahre 1996 gab es 50 Millionen Benutzer des Internets (in Deutschland 6 Millionen); die Wachstumsraten lagen bei 10% monatlich. Im Jahre 96 und 97 hat sich die Größe des WWW alle 50 Tage verdoppelt. Zur Jahrtausendwende rechnet man mit 1 Milliarde Nutzern. Bereits 1997 waren mehr als 10 Millionen Computer auf der ganzen Welt per Telefon oder Datenleitung miteinander verbunden und tauschen permanent Informationen aus. Im Jahr 2000, so der Generaldirektor der Deutschen Bibliothek Klaus Lehmann, werden 25% der wissenschaftlichen Publikationen in digitaler Form vorliegen. Bereits 1997 wuchs die Zahl der Abonnenten des T-Online-Dienstes Woche für Woche um je 10 000 Kunden.

Was sich in qualitativer Hinsicht an Umwälzungen vollzieht, kann hier nur angedeutet werden: Das Fernsehen wird gravierende Veränderungen erfahren. In ca. 10 Jahren, so schätzen Fachleute, wird es die bisherige Trennung zwischen Unterhaltungselektronik und Computern nicht mehr geben. Die Branchen, so die allgemeine Überzeugung, wachsen zusammen. Die jetzt schon in den Schnittstellen zwischen Fernsehen, Computern, Online-Diensten und ihrer Vernetzung auszumachenden Innovationen verändern jeden Aspekt des Lebens: die Arbeitswelt, die private Kommunikation, die Unterhaltung ("Mehrwertdienste"). Ein Beispiel hierfür ist das Internet. Das hier feststellbare Wachstumspotential sowie die Dynamik innovativer Umwälzungen haben revolutionäre Kraft. Der Informationsaustausch im Internet wächst Tag für Tag; von der Homepage des Stammtischbruders bis zum Informationsdienst des Weißen Hauses ist alles vertreten. Für viele ist der Umgang mit dem Internet zum selbstverständlichen Bestandteil des Alltags geworden. So ist es bereits jetzt möglich, Partnerschaften über das Internet aufzubauen, virtuelle Nachbarschaften zu gründen oder sich an der Diskussion über virtuelle Parteiprogramme zu beteiligen. Und selbst das Zahlen von Waren und Dienstleistungen erfolgt durch den synthetischen Geldverkehr: Via Modem wird das Geld vom Bankkonto auf die Festplatte geladen und von dort (per Mausklick) übers Internet direkt an ein virtuelles Kaufhaus geschickt oder der Betrag wird mittels eines Kartenlesegeräts, das bald serienmäßig in jedem PC eingebaut wird, auf eine Chipkarte gebucht. Die Fülle der eröffneten Möglichkeiten erscheint grenzenlos; so kann man per Mausklick selbst steuernd in die Bildröhre des Fernsehers eindringen, d.h. in das Geschehen eines Films eingreifen und seinen Inhalt verändern. Forscher arbeiten daran, Computer in die alltägliche Umwelt zu integrieren, um die menschliche Wahrnehmung zu erweitern. "Nahezu jeder Alltagsgegenstand," so der Physiker Neil Gershenfeld, "läßt sich mit einem Aufwand von einigen Pfennigen in das Informationsnetz einbeziehen." Eines Tages, so prophezeit Mark Weise, Cheftechnologe des Xerox Parc Forschungslabors, "werden wir auf Schritt und Tritt hunderte von Computern um uns herum haben, eingebaut in Möbel, Bücher, Laternenmasten oder sogar Kleidung, die uns ständig mit Informationen versorgen." Von den hier nur kurz angedeuteten Gebieten medientechnologischer Innovationen wollen wir in diesem und in den nachfolgenden Abschnitten das Fernsehen und das Internet etwas genauer betrachten, um Anhaltspunkte für die "Bodenlosigkeit" ihrer Wirkungsmechanismen aufzuzeigen.

Werfen wir zunächst einen kurzen Blick auf die gewandelte Wirkungsmacht des Fernsehens sowie auf die veränderten Bedingungen, die heute mit diesem Medium verbunden sind: Beim ‘alten’ Fernsehen, das bis in die 70er Jahre von der Dominanz der öffentlich-rechtlichen Sender bestimmt war, scharte sich die Fernsehgemeinde zu genau festgelegten Zeiten um das Gerät. In der Beschreibung der hier vorlegenden Kommunikationsstruktur hatten die Begriffe "Öffentlichkeit", "Permanenz" und "Auswahl der Programme" noch ihren festen Platz. Inzwischen haben sich die Rahmenbedingungen des Fernsehens radikal verändert. In der Betrachtung der gegenwärtigen Situation ist unverkennbar, daß das bislang vorherrschende Kommunikationsparadigma der Übertragung (und Übertragbarkeit) von Informationen von Sendern zu Empfängern ins Wanken geraten ist.

Die Vermehrung des medialen Angebots, z.B. durch die gewachsene Zahl von Privatsendern, hat den ungeordneten, unsystematischen Zerfall des Medienpublikums hervorgebracht. So hat Christina Holtz-Bacha anschaulich belegen können, daß die Reichweiten der einzelnen Sender-Angebote immer kleiner geworden sind und auf der Seite der Konsumenten ein Auseinanderdriften der Publikumsfragmente in eine Vielzahl individueller situations- und bedürfnisangepasster Nutzungsformen (mit je spezifischem Medienmenü) eingetreten ist. Vor diesem Hintergrund muß ernsthaft bezweifelt werden, ob das Fernsehen als Massenkommunikationsmittel noch eine Integrationsfunktion im Hinblick auf das Gesellschaftsganze (z.B. die Stützung politischer Entscheidungen) wahrzunehmen vermag. War es früher möglich, daß das Fernsehen seinem Publikum ein "Potential gemeinsamen Erlebens" (Manfred Rühl) bieten konnte, so ist heute der Fernsehkonsument mehr und mehr zum ‘Erfinder’ seiner eigenen Information geworden. Unter dem Diktat der Einschaltquoten befindet sich das Fernsehen heute in einer paradoxen Situation zwischen Bedeutungsverlust und Machtausweitung.

Zum Bedeutungsverlust: Von Quoten gejagt besteht der Wettbewerb der Sendeanstalten darin, alles der Verborgenheit zu entreißen und ins Studiolicht zu zerren. Mit einem perfektionierten System inszenierten ‘Emotainments’ produziert das Fernsehen in aufdringlicher Ereignisbeschwörung Erlebnis-, Gefühls- und Beruhigungsprogramme, mit denen die Emotionen der Zuschauer systematisch durchgepflügt werden. Ungezügelter Show-Darwinismus und bedeutungsschwangeres Getue versammeln sich zu einem nichtssagenden Gesellschaftsspiel, das sich auf dem Bildschirm ausgebreitet hat.

Beispiel hierfür ist das hemmungslose Dauergeplapper der Talk-Shows im Deutschen Fernsehen. In einer auf den Tag verteilten Rundumversorgung wird dem Zuschauer ein breites Spektrum "aktueller, lebensnaher und aufregender Themen" offeriert, bei denen die Schamschwellen rasant gesunken sind. An Themen ist alles vertreten, mit denen die unendliche Banalisierung und Trivialisierung schleichend vorangetrieben wird: "kein Schwachsinn, keine Perversion, keine noch so abwegige Marotte, die nicht die Bildschirme bevölkern würde" (Bundespräsident Roman Herzog).

"Toll, wie du das rüber bringst" ist nur eine Variation der üblichen Kommentare, mit denen die Moderatoren die Studiogäste ermuntern, die Exhibition ihres Fühlens mutig fortzusetzen. In der Beobachtung jener medialen Inszenierungen erinnert vieles an Nietzsche, der in bezug auf die "modernen Ideen" einst festgestellt hat: "(...) nichts wirkt an ihnen so ekelerregend, als ihr Mangel an Scham, ihre bequeme Frechheit des Auges und der Hand, mit der von ihnen an alles gerührt, geleckt, getastet wird." Bei den politischen Talk-Shows zeigt sich das gleiche Bild. Hier werden Meinungen im "six-pack" angeboten. Wir geben Reinhard Mohr recht, wenn er feststellt, im politischen Infotainment der Neunziger Jahre habe sich eine "revolutionäre Liturgie aus Betroffenheit, Provokation und Endlosdebatte" etabliert, in der die Meinung als Ware serviert wird, schön verpackt und leicht zu nehmen, ohne auch nur den Anschein zu erwecken, es gehe um irgendeine Sache, um Wahrheit, Originalität oder die Lösung eines Problems. Durch die Inszenierung "gedichteten Pseudostreits" und die zänkische Pose eines "glamourösen Politzirkus", so Mohr, ist es den "Meinungssimulanten professionell gelungen, den wirklichen Diskurs abzuschaffen, den wirklichen Streit unter dem kosmetisch bearbeiteten Wortmüll zu begraben." Der Zuschauer hat im eigentlichen Sinne keine Wahl, sondern trifft auf nahezu identische Angebote, auf die Wiederholung des Vertrauten. Ihm ist, wie Karl Prümm formuliert, der Konsum der immer gleichen Fernsehbilder zum Reflex geworden.

Zur Illustration dieses Zusammenhangs hilft wiederum ein Blick auf die Kunst: Der Künstler Klaus von Bruch löste Bildsequenzen aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang und reduzierte sie in ihrer Darstellungsform so weitgehend, daß eine eindeutige Lesart verhindert wurde und die scheinbare Authentizität des dokumentarischen Materials unterlaufen wurde. Vier kurze Bildsequenzen wurden in Form von Viedeobildern auf die Dachschräge eines Objektes projiziert und dort pausenlos und unermüdlich wiederholt. Ergänzt wurden die visuellen Wiederholungen von pausenlosen akkustischen Reizen, im Wechsel unterbrochen von unartikulierten schrillen Lauten. Die unerbittliche Wiederholung dieser collagenhaften Komposition, die bei den Betrachtern physische Beunruhigung hervorzurufen vermochte, verrät etwas vom oben angesprochenen Stillstand, inmitten des Wirbels.

Es würde zu kurz greifen, wenn wir die Wirkungszusammenhänge nur eindimensional, d.h. nur aus der Perspektive des Senders, bzw. Programmanbieters (allein) beleuchten würden. Vielmehr ist darauf hinzuweisen, daß die spezifische Rationalität journalistischer Arbeit stets darin liegt, die Erwartungen der Rezipienten (Leser/ Hörer/ Zuschauer) zu antizipieren, um die Inhalte nach diesen ermittelten ‘Profilen’ auszurichten. Die Eigenlogik medialer Inszenierungen besteht letztlich darin, daß die Programmstrukturen bzw. die Kommunikationsabsichten gegen Erwartungsstrukturen der Konsumenten ausgetauscht werden: Jedes neue Thema der Medien schafft neue Erwartungen, ein gesehenes Programm animiert zur Rezeption weiterer Programme (z.B. bei Fernsehserien), eine Information weckt Interesse nach weiteren Informationen zum Thema, gänzlich neue Themen schaffen neue Spezialpublika, deren Erwartungen erfüllt werden muß. Zwischen Sender und Empfänger, so Frank Marcinkowski in seiner Untersuchung zur Publizistik, besteht eine zirkuläre Beziehungsstruktur, die letztlich darauf basiert, "wechselseitig ‚Erwartungen zu erwarten‘." Publizistik, so Marcinkowski weiter, "ist selbstreferentiell, weil sich ihre Operationen und Prozesse auf sich selbst beziehen, also redaktionelle Entscheidungsprämissen des Journalismus auf Erwartungsstrukturen des Publikums und diese wiederum rekursiv auf erwartbare publizistische Outputs bezogen sind."

Betrachten wir diesen (jetzt erweiterten) Wirkungszusammenhang von Fernsehangeboten und Konsumentennachfrage, so entdecken wir, daß hier ein selbstreferentielles, ein ebenso frei ‘schwebendes’ wie geschlossenes Geschmackssystem entstanden ist, und zwar im permanenten Wechsel zwischen Medien und Wirklichkeit.

Die machtvolle Wucht dieses Zirkels wollen wir im folgenden Abschnitt untersuchen.

8. Die medial konstruierte Verdopplung der Realität

Der im letzten Abschnitt skizzierte selbstreferentielle Kreislauf zwischen medialer Programmgestaltung und Rezipientenverhalten offenbart sich in dreifacher Hinsicht als machtvoller Vorgang: Er vermag die Wirklichkeit in einem doppelten Sinne zu konstruieren, er findet unter den harten Gesetzmäßigkeiten der Ökonomisierung (des Fernsehens) statt und offenbart darin eine ‘Versteinerung’ seiner beiden Pole; nämlich eine Standardisierung der Inhalte sowie eine kollektive Gleichschaltung der Rezipienten. Betrachten wir diese Punkte im einzelnen:

Da sich der Globus als ein nachrichtentechnisch nahezu integriertes System erweist, sieht sich das Individuum als Glied einer Weltgesellschaft, das durch eine historisch beispiellose Informationsflut von immer mehr Dingen erfährt, ohne sie unmittelbar zu erleben. D. h. die Kenntnis von den Dingen des Weltgeschehens ist nur die Informiertheit einer passiven, erfahrungsverarmten Zuschauersubjektivität. Je mehr sich die Urteilsbildung des Individuums auf unkontrollierbare Informationen stützten und damit auf Vertrauensvorschuß arbeiten muß, um so mehr gerät sie immer tiefer in die unkontrollierte Abhängigkeit medialer Inszenierungen hinein. In der Konsequenz verstehen die Individuen ihren Alltag nur noch aus dem Horizont ihrer Vermutungen; alles, was sie wissen, denken und fühlen, könnte falsch sein.

Ein recht plumper Beleg für diesen Sachverhalt ist der Hinweis auf den Fernsehjournalisten Michael Born. Er wurde 1996 unter großer Öffentlichkeitswirkung in Untersuchungshaft genommen, da ihm zur Last gelegt wurde, in mindestens 22 Fällen Beiträge für mehrere Sendeanstalten vorsätzlich gefälscht zu haben. Die von Born konstruierten Bilder hatten sich zu diesem Zeitpunkt bereits in den Köpfen unzähliger Rezipienten als die vermeintlichen Belege für Authentizität festgesetzt. Der Wirkungsmechanismus medial konstruierter Welten geht noch viel weiter: Der mögliche Einwand, daß sich die mediale Konstruktion (z.B. durch Abschalten) auf einen kleinen Wirkungsradius begrenzen lasse, muß durch den Hinweis entkräftet werden, daß die Medienwirklichkeit nachhaltige Spuren in den Köpfen und im Verhalten der Konsumenten hinterläßt; denn die Individuen übertragen die Medienwirklichkeit sozusagen als Muster auf ihren lebensweltlichen Alltag. Sie versuchen, dem Fernsehbild zu entsprechen, die medial erzeugten Bilder und Inszenierungen zu imitieren, so daß letztlich der Alltag mediengerecht gelebt wird. Das heißt, die Medien produzieren Wirklichkeit in einem doppelten Sinne: erst auf dem Bildschirm, indem sie die mediale Inszenierung als Original ausgeben und dann schließlich insofern, als die Inhalte medialer Vermittlung durch die lebensweltliche Realität nun tatsächlich – sozusagen im nachhinein – eingeholt und in allen Konsequenzen real wirksam werden. "Die Wirklichkeit", so sagt Wulff Rehfus in seiner abschließenden Betrachtung dieses Zusammenhangs, "wird zur Nachahmung des Scheins ihrer selbst."

Ein anschauliches Beispiel für diese Mechanismen sind jene Vorgänge, die sich 1996 um ein Asylantenheim in Lübeck abspielten. In der Nacht zum Donnerstag, dem 18.1.96 waren bei einem Brand in einem Lübecker Asylantenheim 10 Menschen umgekommen und zahlreiche Mitbewohner verletzt worden. Bereits am nächsten Morgen wurde dieser Vorfall vorauseilend mit einem rechtsradikalen Anschlag in Verbindung gebracht. Drei von der Staatsanwaltschaft Verdächtige reichten aus für jeweils einstündige Sondersendungen in der ARD und Nord 3. Eine Kommentierung auf RTL stand unter der Losung "Morgengrauen in Deutschland." Durch spekulationsfreudige Sondersendungen aufgeschreckt, machten sich Tausende von Demonstranten (von Taxifahrern bis hin zu Ministerpräsidenten) bereits am darauffolgenden Tag auf den Weg, um ihre Betroffenheit gegenüber Rechtsradikalismus und Fremdenhaß zu dokumentieren. Ein ‘runder Tisch’ in Lübeck folgte. Mahnungen zur Wachsamkeit und bundesweit organisierte Demonstrationszüge fanden am darauffolgenden Montag, dem 22.1.96 beachtliche Resonanz in den Medien. Wer sich den Aktionen verweigerte, war rechtfertigungspflichtig. Als einige Tage später nach eingehenden Untersuchungen bekanntgegeben wurde, daß kein fremdenfeindlicher Anschlag vorlag ("Das ist falsch! Das waren Deutsche!" soll eine Neunjährige bei der Bekanntgabe gerufen haben) war der Brand in bissigen Schlagzeilen der internationalen Presse bereits öffentlichkeitswirksam der Neonazi-Szene zugerechnet worden. D.h. durch den vorauseilenden (gutgemeinten) Aktionismus wurde also eine Medienrealität geschaffen, die an der Wirklichkeit vorbeiging, ja mehr noch: Die erfundenen Informationen über das o.g. Ereignis erfanden ihre eigene Wirklichkeit und haben durch den Mechanismus gegenseitiger Verstärkung Millionen von Menschen in dieser ‘konstruktiven Welt’ aktiv halten können. Hier hatte sich unter Beteiligung ‘wirklicher Menschen ‘ eine synthetische Welt über die reale gelegt. Man konnte den Eindruck haben, die ansonsten lethargischen, fragmentierten Publika hätten nur auf den medialen Reiz gewartet, um sich massenhaft zu binden. Die Bodenlosigkeit dieses Vorgangs liegt auf der Hand, die damit einhergehenden herrschaftspolitischen Implikationen sind offenkundig. Der hier abgelaufene Mechanismus rechtfertigt durchaus den Titel "Lübeck als geistige Lebensform" (FAZ v. 26.1.96), dementsprechend schonungslos waren die Kommentare: "O Voltaire! O Blödsinn! Von den Tücken der Humanität – eine Polemik." Wieder ist es Niklas Luhmann, der den hier behandelten Mechanismus prägnant auf den Punkt bringt: "Es hat wenig Sinn zu fragen", so Luhmann, "ob und wie die Massenmedien eine vorhandene Realität verzerrt wiedergeben: Sie erzeugen eine Beschreibung der Realität, eine Weltkonstruktion, und das ist die Realität, an der sich die Gesellschaft orientiert." Denken wir z.B. auch an den oben geschilderten Mechanismus "Brent Spar", so ist offenkundig, daß die Fernsehbilder längst zu einem Herrschaftsinstrument außerhalb der demokratischen Legitimation geworden sind: Immer wieder aufs neue wird durch sie ein Handlungsdruck erzeugt, der die Wirklichkeit (in der Gesellschaft) herausfordert, sie sozusagen ‘vor sich her schiebt’.

Werfen wir noch einen kurzen Blick auf einen anderen Sachverhalt: Rainer Bovelet hat in seiner Dissertation "Werbung und politische Kultur in der Bundesrepublik Deutschland" detailliert dargelegt, inwieweit die Ökonomisierung des Fernsehens und die damit einhergehende Inflationierung der Angebote zu einer Entwertung journalistischer Standards geführt hat. Die Fernsehwerbung hat sich inzwischen zur satten ökonomischen Basis und Antriebsfeder des privaten Medienmarktes entwickelt. Die Abhängigkeit von Einschaltquoten hat dazu geführt, daß die Anbieter ständig die Reizintensität erhöhen, um sich in der zunehmenden Konkurrenz durchsetzen zu können. Mit der Erhöhung des Selektionsdrucks werden Kriterien wie Neuigkeit, Überraschung, Dramatik und Negativismus mehr und mehr für die Nachrichtenauswahl bedeutsam, so daß in der Konsequenz das Risiko der Verzerrung von Mitteilungen über authentische Sachverhalte enorm gewachsen ist. Dieser Sachverhalt wird in der Medienforschung mehrfach belegt und soll an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden; wir wollen nur herausstellen, daß sich die ‘Arbeitslogik’ medialer Inszenierung verschoben hat: Es geht nicht mehr vorrangig um die naheliegende Frage, wie Medieninhalte auf den Rezipienten ‘wirken’. Vielmehr geht es jetzt um den strategisch geplanten Einkauf jeweils spezifischer Rezipientengruppen, aus denen sich redaktionelle Freiräume für den Transport von Werbung ergeben; es ist die Werbung, die dem redaktionellen Umfeld ihren Stempel aufdrückt. Die Authentizität des Ereignisses, alles Sperrige, Lokale, Besondere und Spezifische wird unter dem Diktat immer dichterer und größerer Märkte weggeschnitten. Der Konformismus, so Botho Strauss, und in diesem Punkt geben wir ihm recht, ist heute "intelligent, facettenreich, heimtückischer und gefräßiger geworden als ehedem. Das Regime der telekratischen Öffentlichkeit ist die unblutigste Gewaltherrschaft und zugleich der umfassendste Totalitarismus der Geschichte. Es kennt keine Untertanen und keine Feinde. Es kennt nur Mitwirkende, Systemkonforme. Folglich merkt niemand mehr, daß die Macht des Einverständnisses ihn mißbraucht." Die konstruktiven Mechanismen medialer Inszenierungen offenbaren in ihren kommerzialisierten Verhärtungen die ‘Bodenlosigkeit’ jeder einzelnen Meldung. Die heutigen Beobachtungen verweisen Adornos und Horkheimers Befund der Standardisierung und Homogenisierung des Massenpublikums in seine ‘x-te Dimension’.

9. Das Internet – die Selbstbezüglichkeit virtueller Welten

Die mit dem Internet verbundenen Hoffnungen und Visionen sind gewaltig. Die im Jahre 1994 herausgegebene Programmschrift "Cyberspace and the American Dream: A Magna Charta for the Knowledge Age" läßt erahnen, wie hoch die Erwartungen gehängt sind. Das zentrale Ereignis des 20. Jahrhunderts, so heißt es dort, ist der "Sturz der Materie": "Wir werden einer Revolution beiwohnen, die tiefer greifen und weiter reichen wird als alle früheren Zäsuren. Sie werden nicht nur Epochen voneinander trennen, sondern auch den Begriff der Kultur verändern." Mit dem Cyberspace, so lautet die Erwartung, wird es möglich sein, den wahren Bedürfnissen des einzelnen besser zu entsprechen. Viele sehen in virtuellen Selbsthilfegruppen und Kontaktbörsen sowie in digitalen Foren neue Chancen für Entfaltung persönlicher Entwicklung. Das Internet, so die weit verbreitete Erwartung, werde durch die Überwindung räumlicher Grenzen neue Gemeinschaften stiften. Der amerikanische Vizepräsident Al Gore verkündet das "neue athenische Zeitalter der Demokratie." Durch das weltweit entstandene "Global Information Infrastructure", so Gore, werden neue, bislang ungeahnte Formen unmittelbarer Willensbildung entstehen. Für viele Zeitgenossen hat die durch den Cyberspace beschleunigte ‘Entmassung’ ein beachtliches Potential für eine durchgreifende Erweiterung der menschlichen Freiheit hervorgebracht.

Von Anfang an werden die mit dem Cyberspace verbundenen Hoffnungen und Erwartungen aber auch kritisch reflektiert. Seit der Erfindung der Telegrafie im Jahre 1837, so Neil Postman, gehe es nur noch darum, mehr Informationen möglichst schnell zu möglichst vielen Menschen zu bringen und keiner frage danach, ob wir nicht bereits viel zu viel Informationen haben, die keiner mehr handhaben könne. Stanislaw Lem gibt zu bedenken, ob das Internet, das mit lateinischem Alphabet und englischer Sprache bedient werde, die Menschheit erneut spalten werde: In eine englisch sprechende und eine dieser Sprache "ohnmächtige Hälfte." Andere verweisen auf die Ambivalenz der mit dem Internet generierten Bewegung und der damit verbundenen Risiken; denn einerseits agiere man global, frei und grenzenlos, andererseits falle ein immer größerer Teil der Menschheit zurück in die Besinnung auf ihre Wurzeln und ihre nationalstaatliche Identität.

Im Hinblick auf die Vision neuer Formen demokratischer Willensbildung wird eingewandt, daß rein technokratische (digitalisierte) Abstimmungsrituale selbst bei perfektionierter Gestaltung noch längst keine Garantie für eine Erweiterung demokratischer Willensbildung darstellen. Alle Überlegungen zur Simulationsfähigkeit von z.B. politischen Prozessen, so Horst Bredekamp, "finden darin ihre Grenze, daß die Wirkmöglichkeit, die nicht auch körperliche Qualität besitzt, zwangsläufig sehr beschränkt bleiben muß." Während die einen auf die nur sehr begrenzte Reichweite der Interaktivität der PC-Nutzung hinweisen, wird von anderen das postulierte Bild der "weltumspannenden Gemeinschaft" als große Illusion entlarvt. Jean Heuser sieht das Kernproblem darin, daß die gemeinschaftsbildenden Institutionen der Industriegesellschaft unter den neuen Vorzeichen der Digitalisierung und Vernetzung auseinanderbrechen, und stellt die Frage, wie die Gesellschaft ihre Institutionen diesem Umbruch anpassen wird.

Obwohl wir uns umfassend informiert fühlen, so Mario Vargas Llosa bei der Entgegennahme des Friedenspreises des deutschen Buchhandels im Jahre 1996, "so leben wir doch in größerer Distanz zum Weltgeschehen als früher, tritt uns dieses gleichsam verfremdet entgegen." Die flüchtige, spektakuläre und vergängliche Form der Darstellung audiovisueller Information bewirkt, so Llosa, daß wir uns machtlos fühlen, sie verurteilt uns zu jenem Zustand passiver Empfänglichkeit und psychologischer Anomie, mit dem uns das Motiv zum Handeln genommen wird. Das Cyberspace eröffnet neue Möglichkeiten für abweichendes Verhalten. Bizarre Praktiken und merkwürdige Motive leiten eine neue Ära der Kriminalgeschichte ein: staatstragende und verbotene Angebote sind durch ein paar Buchstaben bzw. einen Mausklick voneinander entfernt. Dem Netz, das nicht versteht, welche Informationen es weiterbringt, ist alles egal. Die kritische Auseinandersetzung mit dem Informationszeitalter hat eine Fülle neuer Veröffentlichungen hervorgebracht, deren Rezeption hier auch nicht annähernd eingeholt werden kann. Hier wird die These vertreten, daß die Struktur und Dynamik der PC-Anwendung im Rahmen von Digitalisierung und Vernetzung die Grundform selbstbezüglicher Rekursivität angenommen hat; darin sehen wir zugleich die ‘Bodenlosigkeit’ des Cyberspace belegt.

Zur Begründung: Das herkömmliche Verständnis von Kommunikation beinhaltet das Vorhandensein einer Einheit als Möglichkeit, nämlich über alle Verschiedenheit hinweg gemeinsame Überzeugungen und Ziele zu finden, in einem Meer der Veränderungen (dennoch) Beständigkeit zu schaffen. Genau dieses Vorstellungsmodell von Kommunikation als lineare oder hierarchisch angelegte Informationsübertragung mit einem sozusagen ‘in sich ruhenden’ Informationsgehalt ist dem Cyberspace nicht mehr angemessen. Das Kommunizieren im Cyberspace führt strukturell nicht zum Ziel der Übereinstimmung (oder des Bruchs), sondern zur ständigen Erweiterung der Varianten. Die herkömmlichen Begriffe wie "Permanenz", "Öffentlichkeit" und "Konsens" sind hier abgelöst worden durch die fließende Struktur autonomisierter Digitalkommunitäten, die aktuell entstehen, zerfallen und sich in anderen Kontexten wieder neu generieren; die digitale Gleichzeitigkeit breitet sich aus. Die Eigenlogik der Cyberspace-Anwendung verlangt, daß der rekursive Mechanismus von autonomisierter Einspeisung und Abrufung, von Präsenz und Verschwinden funktioniert. Das cybernetische System lebt von der ständigen Erweiterung der Varianten, von der expansiven Nutzung der Optionen, d.h. zugleich von der Bewegung der ‘Dekonstruktion’ vermeintlich unbrauchbaren Materials, bewirkt damit also eine Festschreibung von Unbeständigkeit, Polaritäten und Differenz: "Ich muß einfach nur ‘ignore Harald’ eintippen, so die Äußerung einer Teilnehmerin beim Chatten im Internet ‘Flirt Cafe’, und die Nachrichten von Harald werden mir nicht mehr angezeigt; - versuchen wir’s mit jemand anderem!" Es ist eine "Ästhetik des potentiell endlos Errechenbaren entstanden, eine Faszination des modelltechnisch Möglichen." Manfred Faßler hat in seinem kürzlich herausgebrachten Band "Mediale Interaktion" anschaulich beschrieben, inwiefern Medium und Nutzer in einer selbstreferentiellen Bewegung eingeschlossen sind: "Der Computer (...) kann nur in befehlstechnisch fehlerlosen Aufrufen oberflächlich ‘sichtbar’ gemacht werden. Das Apriori der Interaktivität umschließt Computer und Mensch gleichsam. Es ist als Performanz sichtbar. Performanz, das beobachtbare und zurückanalysierbare Verhaltensereignis, ist ein Ergebnis eines zeiträumlich geschlossenen und operativ aufeinander bezogenen Produktionsprozesses."

In der näheren Erläuterung dieses Produktionsprozesses weist Faßler darauf hin, daß das herkömmliche ‘Kanal-Modell’ von Kommunikation durch ein Focus-Modell der Interaktion zu ersetzen ist. D.h. der Empfänger übernimmt nicht ‘fraglos’ eine Nachricht, sondern "verarbeitet den Text interpretierend, selektierend, organisierend unter der Bedingung seiner Kompetenzen, Interessen und selbstbestimmten Nutzungsspielräume. Der semantische Informationsgehalt einer Nachricht entsteht dabei erst in der Differenz zwischen den dem Empfänger bekannten und den nicht bekannten Sememen. Der Gehalt ist keine physikalische Eigenschaft der Nachricht, sondern ist eine Funktion des Zustands des Empfängers." Das Individuum kreist als Nutzer des Mediums um sich selbst.

Die bisher zugegebenermaßen noch recht unbeholfene Beschreibung dieser rekursiven Struktur gewinnt größere Anschaulichkeit in der Hinwendung zur Cyberkunst, bei der die Anwendungsmechanismen und genutzten Optionen eine enorme Verdichtung erfahren. Hier werden die technisch zur Verfügung stehenden Möglichkeiten expressiv auf die Spitze getrieben und zugleich selbstreflexiv ausgeleuchtet. Drei Aspekte sollen hierbei kurz betrachtet werden: Elemente der Musik, der darstellenden Performance- Kunst sowie ein Blick auf die entstandenen Spezialkulturen im Umfeld des Computers (Cyberpunks und "Otaku-Freaks"): In den Tonstudios der Techno-Szene ist z.B. das Sampling gang und gäbe, d.h. die Kunst, aus akkustischen Versatzstzücken bzw. Melodiefragmenten neue Klangkulissen herzustellen. So findet man hier elektronische Collagen, bei denen mehr als 3000 Klangschnipsel und Melodiefetzen zu einer neuen Komposition miteinander verschmolzen sind. Die Sequenzer verwandeln den vermeintlich authentischen Klang eines Gesangs oder akustischer Instrumente in beliebig formbare musikalische ‘Rohmasse’, d.h. Lage für Lage werden ganze Phasen kopiert, verschoben und unter Manipulation von Geschwindigkeit, Tonhöhe, Timbre und Rhythmus in neue Formen gegossen. An diesem Beispiel läßt sich nicht nur der genuin konstruktive Charakter des Produkts (und damit die virtuelle Qualität) aufzuzeigen, sondern zugleich auch die fließende und rekursive Eigenstruktur des Herstellungsvorganges: Elemente werden gesammelt, bis sie in den zirkulierenden Kreislauf einer experimentellen und imaginären Collage-Mixtur hineingeraten. Dort werden sie potenziert, kombiniert, aus Kontexten wieder gelöst und in andere verpflanzt; die Authentizität des Materials wird im Strom der Bewegung aufgelöst.

Ein anderes Beispiel ist das Werk der Performance- und Installationskünstlerin Victoria Vesna. Sie stellt Bausteine für die Herstellung künstlicher Lebewesen zusammen. Da ist z.B. der virtuelle Körper Nr. 4834, erschaffen von "Sydney Almond-Praline Smith-Smith Dukakis." Seine bisexuelle Kreation nennt er "Alberta Camus." Ihr Kopf besteht aus blauem Plastik, der Torso aus Beton, die Beine sind aus Holz, die Arme aus Lava; der rechte sitzt allerdings links und der linke rechts. Alberta ist 40 Jahre alt und schwanger. Die Künstlerin stellt ein gut sortiertes Materialangebot zur Verfügung, aus dem die Medien-Nutzer freie Figuren schaffen, die sich allerdings den strengen Regeln der virtuellen Gemeinschaft fügen müssen, andernfalls werden die Körper und Bauten eingerissen. Mit ihrer Web-Installation inszeniert und reflektiert die Künstlerin die Utopie, daß die Menschheit die körperliche Hülle umbauen und am Ende gar abstreifen könne. Von Bedeutung ist hier, daß ihre Werke kaum als fertige Objekte (als geschlossene graphische Gestalt) existieren, die sich von einem Medium in das andere transportieren ließen. Sie haben vielmehr eine fließende Struktur, bestehen sozusagen als ‘offener Kontext’, in den sich jeder jederzeit gestaltend einhaken kann. Ähnlich ist die Installation "Alter Stats" des New Yorker Künstlers John F.Simon angelegt. Sein Werk präsentiert sich jedem anders; denn das Bild verändert sich mit den Daten, die der Betrachter mitbringt, z.B. durch die Spezifikationen seines Computers. Diese Daten benutzt das "Alter Stats"-Programm dann, um aus dem Bild, das der vorherige Betrachter sah, ein neues zu errechnen. Dergestalt verändert der Beobachter das Objekt im Prozeß der Beobachtung.

Es gibt eine Fülle weiterer Beispiele, die den Entortungs-Effekt des Netzes, die radikale Subjektivierung der Wahrnehmung sowie die fließende Struktur des Einzelwerks und seiner Dekonstruktion anschaulich vor Augen führen.

Die in den Beispielen der Musik und der Installations-Webs zum Ausdruck kommende imaginäre und collagenhafte Struktur von sozusagen "verflüssigten" Werken und Objekten läßt sich analog in der Disposition der PC-nahen Spezialkulturen wiederfinden, z.B. bei den Cyberpunks. Hier zeigt sich eine schillernde Mischung aus Technikbegeisterung, Science-Fiction-Vorlieben und Elementen der sogenannten "underground cultures": Sie sind begeisterte Sammler und Verarbeiter von nutzlosen Artefakten und Informationen, verändern, manipulieren und untergraben das System der Fertigprodukte. Mit einer enormen Intensität zelebrieren sie sozusagen das Spiel mit der Differenz zwischen Wirklichkeit und Vorstellung, Realität und Virtualität. Durch die experimentelle Synthetisierung von Elementen aus dem Spiel-, Pop- und Computerkunstbereich wollen sie neue Wahrnehmungs- und Erlebnisformen erschließen, in neue kulturelle und außeralltägliche Räume vorstoßen.

Exkurs: Bodenlosigkeit – die Genese eines gesellschaftlichen Phänomens

Der maßgebliche Grund für die Bodenlosigkeit der Gesellschaft liegt, wie oben dargestellt wurde, im Zerfall des einheitlichen Weltbildes. In diesem Exkurs kommt es uns darauf an, u.a. deutlich zu machen, daß der Zusammenbruch des universalen Bedeutungskosmos von Anfang an in der Moderne begründet lag. Die Vernunft, die sich zu kritisieren, zu rechtfertigen und zu begründen begann, mußte entsprechend ihrer immanenten Logik in einen Zirkel gelangen, in dem sie unausweichlich nur zerbrechen konnte. In ihrer Tendenz zum sich selbst relativierenden wissenschaftlichen Erkenntnispluralismus trugen die wissenschaftlichen ‘Dogmen’ die Maßstäbe ihrer Kritik und Aufhebung bereits in sich, sie produzierten selbst, wie Hermann Lübbe sagt "die Bedingungen ihres eigenen Geltungsschwundes."

Im folgenden geht es um die Betrachtung zweier Aspekte: Einmal soll unter Rückgriff auf Max Weber gezeigt werden, daß die religiöse Tradition des Abendlandes bereits den Keim ihrer Säkularisierung in sich trug und damit die Entzauberung umfassender Sinndeutung selbst in Gang gebracht hat. Zum anderen soll der Frage nachgegangen werden, in welcher Weise heute das Problem des Pluralismus wissenschaftlicher und philosophischer Paradigmen ‘gehandhabt’ wird. Dies soll im Blick auf die gegenwärtige Diskussion um den Vernunftbegriff der Postmoderne erfolgen. Am Ende dieses Kapitels steht Niklas Luhmann. Er sieht in der aktuellen Diskussion um die Frage der Integrationsbemühungen pluralistischer Vernunftformen allenfalls (immer gut gemeinte, aber) hilflose Vergeblichkeit am Werk. Jenes Vakuum, das Max Weber in klarer und schonungsloser Analyse auf die Gesellschaft zukommen sah, ist für Luhmann mit traditionell-herkömmlichen Kategorien nicht bearbeitbar. Er will anders beginnen. Insofern ist dieses Kapitel sozusagen eine Brücke von traditionellen Lösungsversuchen zum Paradigma differenztheoretischen Denkens. Betrachten wir zunächst den Erklärungsansatz Max Webers:

Max Weber hat gezeigt, daß die zentralen Elemente der calvinistischen Weltbildkonstruktion – im Gefolge des Katholizismus und des Protestantismus – den Rahmen für eine religiöse Ethik gebildet haben, in der die Wirklichkeit des protestantischen Christen in eine transzendentale Göttlichkeit und eine radikal "gefallene" Menschheit andererseits polarisiert wurde. Die sich aus der Eigengesetzlichkeit protestantisch-calvinistischer Sinnstrukturen entwickelnde Motivation zur rigorosen Weltablehnung hat einen dualistischen Theozentrismus radikalisiert. Mit der Transzendentalisierung Gottes wurde zunehmend eine radikal immanente, religiös entwertete Welt ausgegrenzt, die mehr und mehr gezwungen war, ihr Eigenrecht zu begründen, um mit der systematischen und rationalen Durchdringung der Wirklichkeit zur Beherrschung und Anerkennung ihrer eigenen Gesetzmäßigkeiten zu gelangen. Insofern kam es letztlich – wie Weber sagt – zu einer religiösen Legitimierung des Rationalismus der Weltbeherrschung und zwar im Sinne asketischer Weltbearbeitung. Je konsequenter sich die religiös entwertete Welt der rationalen Durchdringung moderner Wissenschaft öffnete, je stärker sie sich versachlichte, um so mehr begann sie sich vom religiösen Postulat zu entfremden. Blieb das Interesse erfahrungswissenschaftlicher Rationalisierung zunächst als Weltbeherrschung "im Namen Gottes" (asketische Weltbearbeitung) an den Rahmen der religiösen Eigenstruktur gebunden, so begann sich der profane Intellektualismus bald zu verabsolutieren, erlangte der "befreite" entfesselte Rationalismus schließlich gottfremden Charakter, wurde nun "im Namen des Menschen" vertreten; er wurde zum Gegner des Gottesglaubens, indem er das Eigenrecht der Welt gegenüber dem religiösen Postulat rechtfertigte und zugleich substantielle religiöse Inhalte in Frage stellte. Übrig blieb eine dualistische Spannung wechselseitiger Fremdheit: auf der einen Seite das Weltbild der Immanenz mit dem Verlust der transzendenten Verankerung und der Verabsolutierung des Totalitätsanspruchs von Wissenschaft und Intellektualismus, - auf der anderen Seite die Religion, die zum Rückzug auf die "unangreifbare Inkommunikabilität des mystischen Erlebnisses gezwungen" und zugleich zum Eingeständnis gebracht werden sollte, daß sie sich "nur gegen das, nicht mit dem denkenden Erkennen behaupten kann." Im Rahmen dieses Prozesses wurde die Religion auf eine irrationale oder antirationale überpersönliche Macht reduziert. Soweit Max Weber. Werfen wir nun einen Blick auf die Diskussion um die sogenannte Postmoderne.

Zur Einführung: Die Aufklärung postulierte die Überlegenheit der Vernunft gegenüber traditionellen Wissensbeständen und Methoden. Sie ist mit dem Anspruch angetreten, daß sich die Vernunft als die alles umfassende Einheitsinstanz "im Ganzen" durchsetzen werde. Diese Erwartung ist enttäuscht worden; übrig blieb die Feststellung: Es gibt keinen praktikablen Begriff des Ganzen. Der naive Glaube an die durchgängige Plausibilität der Vernunft ist einer Verzweiflung an der Vernunft gewichen. Die Rede vom Tod der Vernunft, vom definitiven Ende des Projekts der europäischen Aufklärung, oder des Projekts der griechisch-abendländischen Zivilisation ist in aller Munde. Denn heute ist beobachtbar, daß die ehedem eine Vernunft in eine Mehrzahl verselbständigter, hochspezialisierter Teilrationalitäten auseinandergetreten ist. Die durch Entzweiung und Differenzierung generierte Pluralität der Vernunftformen hat nochmals innerhalb der Rationalitätsbereiche unterschiedliche Paradigmen hervorgebracht, die unaufhebbar im Zeichen der Diskontinuität und Konkurrenz zueinander stehen. Dies betrifft nicht nur den Antagonismus "erkenntnissetzender Modelle" im Bereich der Wissenschaft; vielmehr ist radikale Pluralität vollends zur allgemeinen Grundverfassung der Gesellschaft geworden, ablesbar am "Synkretismus der Weltdeutungen" (Peter L. Berger), an der Vielheit differenter Wissensformen, heterogener Handlungsmuster, Lebensentwürfe und Wertauffassungen, aus denen das Subjekt auswählt, die es durchprobiert, verwirft und gegeneinander austauscht, wir haben oben bereits davon gesprochen.

Ist Pluralität, wie Wolfgang Welsch sagt, ein "geschichtliches Gut", so ist Pluralismus zugleich zum Maßstab geworden, an dem die Tragfähigkeit gegenwärtiger Konzepte von Vernunft zu messen ist. In diesem Zusammenhang nimmt der Postmodernismus eine zentrale Position ein. Ausgehend von der Diagnose des Zerfalls der Einheit nimmt die Postmoderne die Sinnfigur des Pluralismus auf, analysiert diese Konstellation philosophisch, durchdringt sie denkerisch und verteidigt sie kulturell.

In einem inzwischen fast unübersehbar gewordenen Spektrum von Beiträgen zeigt sich sowohl die vehemente Begeisterung als auch die tief verwurzelte Skepsis gegenüber dem eingeschlagenen Weg der Gesellschaft zur Grundverfassung radikaler Pluralität. Die einen beklagen primär die mit dem "pluralistischen Monster" einsetzende Beliebigkeit, die mangelnde Versinnbildlichung kulturellen Kontextes. Mit Spott konstatieren sie, die postmoderne Weltsicht gerate zwingend in die Fallstricke eines ästhetisch getönten Anarchismus, im ganzen herrsche nur noch Exzentrizität ohne Zentrum.

Für die anderen ist ausgemacht, daß das Zeitalter "neuer Chancen und Spiele" längst angebrochen ist. Sie propagieren, daß die hier zutagetretende Vielfalt in ihrer Legitimität zu sichern und offensiv zu nutzen sei. Sie trauern nicht um Sinn- oder Orientierungskrise, sondern stellen dem vermeintlich empfundenen Verlust der Ganzheit gerade den Gewinn einer Vielheit entgegen, die nicht mehr Anpassung an die Welt, sondern "Wahl der passenden Welt" beinhaltet und neue Chancen für die Entwicklung einer grunddemokratischen Vision (Lyotard) eröffnet. Gegenüber dem Einheitsbegriff von Vernunft und Kultur sehen sie den Gewinn einer erhöhten rationalen Strenge gerade im Widerstreit und in der konsequenten Aufdeckung gesellschaftlich immanenter Brüche und Divergenzen, die zu einer konflikthaft-plural strukturierten Wirklichkeit gehören. Hierbei schwingt die Verheißung mit, daß der Mensch aus der eigenen Haut, die er mühsam durch die Geschichte geschleppt hat, endlich herausschlüpfen und noch einmal ganz von vorne beginnen könne. Hoffen die einen auf eine neue Integration der zersplitterten Gesellschaft, so erwarten die anderen eine Epoche gesteigerter Pluralität. Und wieder andere fordern, daraus keinen Gegensatz abzuleiten, sondern ein Konzept der "Selbstüberschreitung von Vernunft" fundamental neu zu denken (Welsch). Für viele markiert der Begriff des Postmodernismus eine primär zeitliche Zäsur. Während die einen voller Hohn das Pathos eines Bruchs konstatieren und feststellen, das Gerüst der Moderne sei jetzt völlig zusammengebrochen, so betonen andere eher den Charakter eines Übergangs, sehen das noch verschwommene und unklare Ziel einer radikalisierten, über sich hinauswachsenden Moderne. Unabhängig von dieser Frage soll der Begriff des Postmodernismus im hier verwendeten Sinne lediglich andeuten, daß man von verschiedenen Seiten her der Durchdringung des Paradigmenwechsels auf der Spur ist. Im folgenden soll ein skizzenhafter Überblick über die Fragestellung der Postmoderne gegeben werden.

Jürgen Habermas formuliert seine Position auf der Basis des Paradigmenwechsels von der Bewußtseins- bzw. Subjektphilosophie zur Kommunikationstheorie. Vernunft vollzieht sich hier nicht in der Immanenz eines Bewußtseins, sondern in der kommunikativen Verständigung bzw. in der Interaktion der Vernunftmomente.

Habermas erkennt in der Ausdifferenzierung und autonomen Entwicklung der Vernunftmomente das unaufhebbare Spezifikum der Moderne, mit dem die Dominanz und Herrschaft instrumenteller Vernunft gebrochen wird. Wenngleich er dafür plädiert, an der Gesamtdeutung der pluralen Wirklichkeit festzuhalten, so will er Pluralität ausdrücklich an Einheit zurückbinden, d.h., er will der ausschließlich differenzierenden Dynamik das komplementäre Gegengewicht der Integration zur Seite stellen. Habermas umschreibt die von ihm ins Zentrum gerückte Kategorie der ‘Einheit’ mit den Begriffen der Interaktion, des Kreislaufs, des Zusammenspiels und der Balance.

Sämtliche Begriffe sind aufgehoben in seiner Konzeption der kommunikativen Vernunft. Hierunter versteht er nicht nur das Ideal des Konsenses verständigungsorientierter Kommunikation auf der Basis eines Gleichgewichts von Geltungsansprüchen, sondern anscheinend zugleich und in Analogie dazu das Ideal der Kommunikation der auseinandergetretenen Vernunftmomente auf der Ebene der Kohärenz von Theoriefragmenten. Die Abschottung der auseinanderfallenen Rationalitäten, so Habermas, muß dadurch überwunden werden, daß sie in einen kommunikativen Kreislauf eintreten, der die Momente im Rahmen einer dynamischen Durchlässigkeit neu zusammengeführt, re-integriert. Werden die gegenseitigen Behinderungen autonomisierter Rationalitäten erst einmal gelöst, "wird das Mobile enthakt", so finden sich die auseinandergetretenen Momente der Vernunft zu einem neuen Gleichgewicht zusammen.

Hier ist nicht der Ort, den Habermasschen Denkansatz in seinen ganzen Facetten darzulegen; wichtig ist festzuhalten, daß Habermas versucht, durch sein Modell des "balancierten Zusammenspiels" die Vielheit zu überschreiten, um sie in einer neuen Gesamtsicht aufzuheben. In der Diskussion seines Ansatzes wurde Habermas entgegengehalten, er unterschätze die Härten und Probleme der Differenz. Es stelle sich die Frage, ob die interaktive Durchdringung und Balance, auf die Habermas setze, nicht gerade erneut zu Widerspruch und konflikthafter Auseinandersetzung führen werde. Habermas, so lautet die Kritik, ist es nicht gelungen zu zeigen, wie die Einheit auf dem Boden der Differenz strukturell überhaupt noch möglich sein kann; er habe es versäumt, so wird angemerkt, die prinzipielle Möglichkeit der Einheit rational zu durchleuchten bzw. differenztheoretisch zu klären, er könne für diese Einheit letztlich nur noch plädieren.

Für Lyotard ist die Pluralität der Vernunftformen zu einschneidend, als daß sie noch einmal durch integrative Momente zusammengehalten werden könnte. Weit entfernt von den Vorstellungen der Versöhnung ist Lyotard der Denker, der die Pluralität und Heterogenität der Rationalitätsformen am radikalsten gegen jegliche Einheitsansinnen verteidigt, der offensiv die Vision der Vielheit zur Geltung bringen will: "Wir haben den Trug der Ganzheit durchschaut", so Lyotard, "wir haben die Sehnsucht nach dem Ganzen und Einen, nach Versöhnung von Begriff und Sinnlichkeit, nach transparenter und kommunikativer Erfahrung teuer bezahlt. Die Antwort lautet: Krieg dem Ganzen, zeugen wir für das Nichtdarstellbare, aktivieren wir den Widerstreit." Im Rahmen seines sprachphilosophischen Ansatzes setzt Lyotard seinen Vordenkern Wittgenstein und Heidegger die radikale Priorität und Autonomie der Sprache entgegen. In seiner ‘mikroskopischen’ Analyse der Sprachformen (der Redegattungen, der Diskursarten, der Satz-Regelsysteme) macht er deutlich, daß es eine "Vielzahl von Satzuniversen" gibt, die als eine Ansammlung autonomer und zerstreuter Inseln gedacht werden kann. "Die Sprache," so Lyotard, "ist ohne Einheit, es gibt nur Sprachinseln, jede wird von einer anderen Ordnung beherrscht, keine kann in eine andere übersetzt werden." Lyotard meint damit, daß die unterschiedlichen Diskursarten nicht etwa (nur) verschiedene Gestalten desselben sind, d.h. als nur unterschiedlich erscheinen, sondern daß sie wirklich heterogene Wirklichkeitsbereiche darstellen, zwischen denen es keine Brücken und Verbindungen gibt. Das bedeutet zugleich, daß die so auseinandergefallenen Diskursarten ohne ein übergeordnetes Kriterium auskommen müssen. Eine allgemeine Sprache, etwa ein systemartiger Zusammenhang der Diskurse, eine universelle Metasprache, die alles theoretische und praktische Verhalten einer Epoche als Leitidee zu umgreifen und zu dirigieren vermag, gibt es nicht. Die Sprache zerfällt in fundamentale Differenzen, in Familien heteronomer Sprachspiele. In bezug auf die in diesem Abschnitt vorliegende Fragestellung ist festzuhalten, daß die sprachanalytischen Untersuchungen Lyotards über sich hinausweisen. Der Sprachaspekt ist hier universell relevant. Durch diesen Zugang gelingt es Lyotard über das Linguistische hinaus, die Differenziertheit und unendliche Vielfalt unterschiedlicher rationaler Konfigurationen in größtmöglicher Klarheit herauszustellen. Jeder Rationalitätstyp hat seine spezifische Charakteristik und Grenze; die Pluralität und Heterogenität der Lebenskonzepte, Denk- und Handlungsformen tritt deutlich hervor. Lyotards Forderung lautet, die unaufhebbare Differenz und Zerstreuung der Sprache bzw. der Rationalitätsformen zu achten. In der schonungslosen Artikulation und Anerkennung des Dissens und der Inkommensurabilität sowie in der Aufdeckung gegebener Widerstreitsverhältnisse sieht er die Chance erhöhter rationaler Strenge, den echten aufklärerischen Akt. Auf dieser Folie entwirft Lyotard seine Vision von der "philosophischen Politik." Hiermit ist nicht das konventionelle Verständnis einer ‘pluralistischen’ Politik gemeint, die sich etwa nur auf die ‘legitime Buntheit der Variationen’ bezöge. Lyotards Ansatz geht wesentlich tiefer: Wenn Ungerechtigkeiten nicht eliminierbar sind, dann besteht die Aufgabe der philosophischen Politik darin, den konkreten Widerstreit elementarer Differenzen wahrzunehmen, zu beachten, seine Logik schonungslos offenzulegen. Dies erfordert eine Haltung, die die Legitimität heteronomer Ansprüche und Widerstreitsverhältnisse erkennt und vor allem aushält: "Eine darauf aufgebaute Handlungswelt ist im einzelnen spezifischer und im ganzen durchlässiger: Sie lockert die Sperren der Wirklichkeitsauffassung zugunsten der faktischen Potentialität des Wirklichen. (...) Sie macht die Erfahrung der Vielheit real."

Ebenso wie bei Lyotard hat auch der Denkansatz von Deleuze und Guattari seinen Ausgangspunkt in der Beachtung und Anerkennung radikaler Pluralität. Im Ursprungsdenken der Metaphysik, so lautet die Kritik der Autoren, liegt alle Macht auf Seiten der Einheit: "Seltsam wie der Baum (als Symbol des metaphysischen Ursprungsdenkens, S.F.) die Wirklichkeit und das gesamte Denken des Abendlandes beherrscht hat. Wir nun sind des Baumes müde. Wir dürfen nicht mehr an die Bäume glauben, an große und kleine Wurzeln; wir haben genug darunter gelitten." Wenn die Moderne von der Pluralität der Rationalitätsformen auszugehen hat, dann, so die Autoren, darf sie den alten Fehler nicht wiederholen, d.h., das Viele eben nicht so zur Darstellung bringen, daß man dabei selbst möglichst vollständig, komplett und geschlossen zu sein versucht, also wiederum einem Ideal der Totalität folgt. Vielmehr muß man schon innerhalb der Darstellung gegen deren eigene Einheitstendenz angehen, d.h. innerhalb einer "Architektur der Vielheit" sind Raum und Lücken zu lassen für Anderes. Den Autoren geht es also darum, eine Konzeption zu finden, die es erlaubt, jenseits der klassischen Kategorien von Identität und Gegensatz "freie Differenz" zu denken. Unter Rückgriff auf den Begriff des Rhizoms entwickeln Deleuze und Guattari ein spezifisches Denkmodell, um ihrem Anspruch einer Reflexion in neuen zeitangemessenen Grundkategorien gerecht zu werden. Der Begriff des Rhizoms, der, aus der Botanik entnommen, die netzwerkartige Verflechtungen eines besonderen Wurzeltyps bezeichnet, wird hier auf das Denken übertragen, um die paradoxe Aufgabe zu lösen, Pluralität, Differenzen und Einheit zusammenzudenken. Denn entgegen Lyotard sind die Autoren der Überzeugung, daß Vielheit nicht nur auseinanderfallen kann, sondern zugleich zusammengedacht werden muß. Nicht der klassische Wurzelbaum, der in seiner Entfaltung hierarchisch alle Differenzen umgreift, und nicht das moderne System der kleinen Wurzeln, das viele Mikro-Einheiten pflegt, sondern das Rhizom ist paradigmatisch für die heutige Wirklichkeit: das Wurzelstängelwerk, bei dem Wurzel und Trieb nicht zu unterscheiden sind und das sich in ständigem Austausch mit seiner Umwelt befindet. Das Rhizom, so die Autoren, ist "ein nicht zentriertes, nicht hierarchisches und nicht signifikantes System ohne General, organisierendes Gedächtnis und Zentralautomat; es ist einzig und allein durch die Zirkulation der Zustände definiert." Zu seiner Struktur gehört, daß jeder beliebige Punkt mit jedem anderen verbunden werden kann und die Differenzen in ihrer Eigenständigkeit dennoch erhalten bleiben. D.h. trotz der Bewirkung ganz unerwarteter und unsystematischer Differenzen und Spaltungen erzeugt das Rhizom zugleich Öffnungen für Synthetisierung und Einheit.

Denkweisen, die sich an diesem rhizomatischen "Beziehungstyp" orientieren, und darauf kommt es den Autoren an, beinhalten Konfigurationen, in denen Differenzen zugleich punktuelle, von Fall zu Fall geknüpfte (und vor allem: legitime) Verbindungen aufweisen, die ihrerseits wiederum erhöhte Komplexität ausdifferenzieren. Deleuze und Guattari versuchen, wie Wolfgang Welsch herausstellt, "Heterogenität" und "Konnexion" als ein begriffliches Schlüsselpaar so in eins zu denken, daß beide Elemente ihren Gegenpol einschließen, ohne ihn aufzuheben.

Gleichsam zwischen den Ansätzen der Poststrukturalisten Lyotard und Deleuze steht die angelsächsische Konzeption Nelson Goodmans. Auf der Basis analytischer Philosophie aufbauend entwirft Goodman einen "radikalen Relativismus", der mit Lyotard den Gesichtspunkt des unverkürzten Widerstreits teilt, andererseits mit Deleuze und Guattari aber ebensosehr die Möglichkeit der Verbindungen und Übergänge zwischen den Rationalitäten herausstellt.

Mittelpunkt seines Denkansatzes ist die These von der "Vielheit der Welten." Die Bewegung, so konstatiert Goodman in seinem Buch ‘Weisen der Welterzeugung’, "verläuft von der einen und einzigen Wahrheit und einer fertig vorgefundenen Welt zum Erzeugungsprozess einer Vielfalt von richtigen und sogar konfligierenden Versionen oder Welten". Hier legt Goodman dar, wie bereits durch unsere Wahrnehmungen unterschiedliche Sichtweisen oder Versionen der Welt entstehen und betont in Anknüpfung an Nietzsche den Erzeugungscharakter der Welten als hochgradig-spezifische, eigenlogisch verfaßte Interpretations-Universen.

Die vorfindbare Pluralität der Versionen, so Goodman, muß in den unverkürzten Konfrontationen und Härten konflikthaften Widerstreits gesehen und ernstgenommen werden; denn wenn konfligierende Aussagen wahr sind, sind sie in unterschiedlichen Welten wahr, d.h. gerade wegen der versionsbezogenen Legititmität der Wahrheitsansprüche ist Widerstreit unvermeidlich. Dabei stellt Goodman von Anfang an heraus, daß er nicht von vielen möglichen Alternativen zu einer einzigen wirklichen Welt, sondern von einer Vielheit wirklicher Welt sprechen will. Das bedeutet: Ein, den unterschiedlichen Weltversionen bzw. Interpretationsuniversen vorausliegendes, interpretationsunabhängiges ‚Substrat‘ gibt es in seiner Vorstellung nicht. Die Einheit der vielen Welt-Versionen ist für Goodman also nicht in einer sie fundierenden Ordnung begründet oder etwa in einer sie alle übergreifenden inhaltlichen Zusammenführung, sondern liegt (mehr formal) in dem gemeinsamen Charakter aller Weltversionen, Symbolsysteme zu sein. Die Einheit besteht bei Goodman nicht vertikal, ist niemals im Sinne eines absoluten Fundaments synthetisch zu denken, sondern muß auf einer sozusagen operativ-konstruktiven Ebene, als eine Dynamik ‘jeweiliger Fundamente’ gedacht werden, deren Geltung in wechselnden Bezügen wieder aufgehoben wird.

Als deutscher Vertreter ist Wolfgang Welsch darum bemüht, die alternative Gegenüberstellung von Vielheit versus Ganzheit, Differenz versus Integration mit seinem Konzept der "transversalen Vernunft" zu überschreiten. In seinem jüngst herausgegebenen Buch "Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft" (Frankfurt/ Main 1995) stellt er in Weiterentwicklung früherer Beiträge heraus, daß Vernunft entgegen allen prinzipialistischen bzw. hierarchischen Konzeptionen einerseits, als auch gegenüber dem absoluten Heterogenitäts-Dogma des rigiden Postmodernismus andererseits grundsätzlich immer auf der Folie immanenter Verbindungen und Verflechtungen der verschiedenen Rationalitätskonstellationen entworfen werden muß. Transversale Vernunft, so Welsch, wahrt die Motive Lyotards gegenüber Habermas, indem die Verbindungen, die eingeführt werden, nirgendwo derart sind, daß sie die Hegemonie eines Rationalitätstypus allein legitimieren können. Sie vermag andererseits auch Habermas’ Interesse an Austausch, Ergänzung und gegenseitige Korrektur der Rationalitätsformen gegenüber der Lyotardschen Verabsolutierung der Heterogenität Rechnung tragen. Vernunft, so die Konzeption Welschs, muß inmitten der Pluralität der Rationalitäten agieren. Hier muß sie Kommunikation leisten, ohne Hegemonie zu verfügen, muß Differenzen exponieren, ohne Brücken abzubrechen, "sie knüpft Verbindungen ohne Einheit zu erzwingen, überbrückt Gräben ohne das Terrain zu planieren, entfaltet Diversität ohne alles zu fragmentieren." Transversale Vernunft muß also in einem Zwischenbereich operieren, wo derlei Einseitigkeiten nicht favorisiert, sondern korrigiert werden.

Was hier an "transversalem Hirsebrei" auszumachen ist, so lautet das schonungslose Urteil der Kritiker, ist kennzeichnend für die gegenwärtige Krise und Hilflosigkeit der gesamten Geistes- und Gesellschaftswissenschaftlichen Disziplin. Im Urteil jener Beobachter ist eine Lösung der Frage um Vernunft bzw. eine visionäre Fortführung oder Erneuerung des Projekts der Aufklärung durch diese Disziplinen nicht zu erreichen. "Der Reichtum an Theoremen", so Paul Noack, "bereichert nicht." Weil die Vordenker mit ihrem Nachdenken nicht mehr nachkommen, ist eine "stille, untheoretische Verstörung der Geisteszustand, mit dem wir das neue Jahrtausend auf die Schienen der Zeit setzen."

An der metaphysischen Wahrheit irre geworden, so lautet die Einschätzung jener Exponenten, verfolgen die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften allenfalls den Rekurs auf ihre eigene Geschichte, betreiben deren kritische Dekonstruktion oder nehmen Zuflucht in die Entdeckung und ‘Neuauflage’ ganzheitlicher Konzeptionen antiker Philosophie.

Gleichsam zwischen diesen Richtungen hat die Soziologie für sich die Hinwendung zur Empirie entdeckt. Mit dem Ziel, den "Publikumsverlust" und den Mangel an "Überzeugungs- und Neuigkeitspotential" der Soziologie zu überwinden, versuchen selbstbewußt-gestärkte Forschungsrichtungen, die "Erneuerung der Soziologie an den Phänomenen durchzuführen." "Die Menschen, die uns die Welt erklären", so lautet eine andere aktuelle Stellungnahme, sind nicht mehr die von Philosophie und Literatur geprägten Geister, sondern die in Laboratorien und mit Formeln geschulten Geister der Naturwissenschaften. Man weist darauf hin, daß hier ab Mitte der 90er Jahre Wissenschaftler aufgetreten sind, die mit kreativen Ansätzen die klassische Trennung wissenschaftlicher Disziplinen aufsprengen, eine gegenseitige Bereicherung in Gang setzen und damit die Diskussion in vielen Fragen neu beleben und voranbringen (Jay Gould, Marvin Minsky, Paul Davis, Francis Varela, Humberto Maturana u.a.). Hier, im Feld der sogenannten "dritten Kultur" (John Brockman) glaubt man den Schlüssel zu den Fragen nach der tieferen Bedeutung des Lebens, nach einer Neubegründung der Gesellschaft gefunden zu haben.

Niklas Luhmann ist derjenige, der die Erkenntnisse der Biologen Francisco Varela und Humberto Maturana auf Bereiche der Gesellschaft übertragen hat. Er weigert sich, an die seiner Einschätzung nach langen Enttäuschungslisten der Vernunftdiskussion anzuknüpfen. Seit kurzem, so Luhmann, "haben diejenigen Strömungen, mit denen die Ideenevolution auf sich selbst reagiert, den nichtssagenden Titel der Postmoderne erhalten." Könnte es sein, so fragt Luhmann an anderer Stelle, daß in dieser Diskussion zu sehr mit rückwärtsgewandtem Blick gesucht wird, und daß man bei Konzepten, die die Geschichte schon widerlegt hat, nochmals Hoffnung tankt, weil Hoffnung anders nicht mehr zu haben ist?

In allen dargestellten Initiativen zur Klärung des Vernunft-Paradigmas sieht Luhmann nichts anderes als einen "intellektuellen Schrotthandel", der sich um ein Recycling von Ideen bemüht und seine Bedarfsartikel nur noch durch die Firmennamen "Neo" und "Post" unterscheidet. Sein Beitrag zur Diskussion der Postmoderne lautet: Hier wird ein Scheingefecht um ein Thema ausgetragen, das im Hinblick auf den Versuch einer angemessenen Beschreibung aktueller Modernitätsmerkmale längst nicht mehr weiterhilft. Das ganze Gerede von der Einheit und Vielheit der einen und doch differenten Vernunft, so Luhmann, geht in "hoffnungslos inadäquater Weise" an den eigentlichen Fragestellungen der Gesellschaft vorbei.

Luhmann sieht weder den beklagten (oder gefeierten) Tatbestand pluralistischer Beliebigkeit ("In der Realität kann es keine Beliebigkeit geben") noch irgendwelche Anzeigen einer echten Epochenzäsur; insofern ist der Begriff der Postmoderne für ihn in gleich mehrfacher Hinsicht ein unglückliches Pseudonym. Es hat wenig Sinn, so Luhmann, sich mit Kontroversen zwischen diesen Positionen zu beschäftigen, denn das führe nur zur wechselseitigen Rekonstruktion der jeweiligen Unzulänglichkeiten. Luhmann, so Jürgen Kaube, hat den kartesianischen Zweifel in die Soziologie eingeführt. Den Zweifel an der Tauglichkeit des Überlieferten. Den Zweifel daran, "daß der Begriffsvorrat des common sense auch nur trivialsten Überlegungen standhält." Wenn man weiterhin von einem Projekt der Moderne sprechen will, so ist dieses Projekt in der Einschätzung Luhmanns noch nicht einmal entworfen; "die deutlich erkennbare Unzufriedenheit mit allem, was derzeit im Angebot ist, könnte ein fruchtbarer Anfang werden." Jenseits aller "epistemischen Blockierungen" beginnt Luhmann mit der Feststellung einer Paradoxie: Die Einheit der Gesellschaft kann nicht mehr als Prinzip, sondern nur noch als Paradox behauptet werden: "Die Paradoxie ist die Orthodoxie unserer Zeit." Damit ist die strukturell völlig neue Ausgangsbasis benannt.

III. Das Denken: Von Friedrich Nietzsche zu Niklas Luhmann – Oder: Zur Entwicklung des Differenz-Theorems

1. Friedrich Nietzsche: Vorbemerkungen zu seiner Philosophie

Der Zugang zum Denken Friedrich Nietzsches wird durch mehrere Gegebenheiten erschwert. Zunächst einmal ist seine Philosophie kein in sich geschlossenes Werk, keine ‘abgerundete’ Lehre. Eine explizite Definition des Begriffsapparats sucht man vergebens. Seine Schriften stehen in enger Verbindung mit seiner persönlichen Biographie; das bedeutet, auf die Entwicklung seines Denkens (Früh- und Spätschriften) ebenso zu achten, wie auf die konkreten Adressaten seiner Rede. Im Hinblick auf die von ihm kritisierten Positionen zeigt sich eine z.B. große Sprache von Polemik, Provokation und Verachtung: Nietzsches Schriften werden also nur vor dem Hintergrund ihres konkreten zeitgeschichtlichen Kontextes verständlich; andererseits weisen seine Schriften aber auch über ihre Zeit hinaus, weil in ihnen persönliche Visionen Nietzsches enthalten sind, deren Verkündigung in enormer Wortgewalt und Bilderflut zelebriert wird. Die Interpretation seines Werkes steht damit vor einer großen Aufgabe. Angesichts dessen ist die Versuchung groß, wie einige Autoren hervorheben, Nietzsches Werk im Rahmen eines mehr oberflächlichen oder selektiven Interesses lediglich als Stichwortgeber zu benutzen, um z.B. Tendenzen des Zeitgeistes plakativ zu umschreiben. Bereits Heidegger warnte vor den "von überall her angeschwemmten Neugierigen", die sich nur an vereinzelten Stücken und besonderen Sprüchen seines Werkes berauschen "und blindlings in der halb singenden, halb schreienden, halb bedächtigen, bald stürmischen und bisweilen platten Sprache Nietzsches umhertaumeln, statt sich auf den Weg des Denkens zu machen, das hier nach seinem Wort sucht."

Geht man den Weg des Denkens, wie Heidegger fordert, steht man unversehens in einer ungeahnten Tiefe philosophischer Reflexion, die nicht einfach referierbar ist. Die von uns anvisierte methodische Konsequenz, nämlich die Betrachtungen auf einige Aspekte bzw. spezifische Fragen zu konzentrieren, hat sich als nur bedingt tragfähig erweisen. Denn wie auch immer man ansetzen will, so unsere Überzeugung, man muß unvermeidlich durch die Mitte seiner Philosophie hindurch. Vor dem Hintergrund dieser Vorbemerkungen sind die Ausführungen im Kap. III, 1 als bescheidene Gehversuche anzusehen, die Botschaft Nietzsches im Hinblick auf seine Kritik am Ontologieverständnis sokratischer Metaphysik zu erfassen. Die Ausführungen dieses Kapitels stützen sich daher vornehmlich auf Nietzsches Schriften ‚Götzen-Dämmerung‘, ‚Die Geburt der Tragödie‘, ‚Jenseits von Gut und Böse‘ sowie ‚Also sprach Zarathustra‘. Hier wird freimütig eingestanden, daß die hinzugezogene Sekundärliteratur, die mit den Namen Volker Gerhardt, Josef Simon und Eugen Fink verbunden ist, eine spezifische ‘Interpretationsschule’ repräsentiert. Andere Blickwinkel, wie auch z.B. die besondere Ausrichtung der französischen Nietzsche-Rezeption (hier vor allem: Gilles Deleuze) sind zwar mit großem Interesse verfolgt worden, konnten aber aufgrund ihres ‘eigenwilligen’ Profils nicht direkt mit der hier vorgenommenen Auslegung verbunden werden.

Die in den ersten Kapiteln dieser Arbeit aufgenommenen Zitate Nietzsches bzw. die hergestellten Querverweise zu seinem Werk sind mit Blick auf die o.g. Mahnung Heideggers kein ‘Sammelsurium’ zufällig gefundener Textstellen, sondern Bestandteil und Ergebnis des mühevollen Unternehmens, das Werk Nietzsches aus seinem historisch-biographischen Kontext heraus zu verstehen.

 

1.1. Die Wende von der tragischen zur fröhlichen Wissenschaft

Am Anfang der abendländischen Tradition stand der metaphysische Glaubenssatz "Alles ist eins." Die Wahrheit wurde als die eine Wahrheit vorausgesetzt, sie wurde als Wirklichkeit absolut gedacht. Hier setzt Nietzsche an. In zugleich mehrfacher Weise reißt er das ontologisch-metaphysische Denken auseinander. Seine Hauptstoßrichtung ist die Warnung vor einer metaphysischen Objektivierung der Realität. Er hebt das Verhältnis des Denkens zum transzendentalen Ideal auf; mit grausamer Ironie zerschlägt er die für die philosophische Tradition grundlegende Unterscheidung zwischen Wesen und Erscheinung, Sein und Werden, der wahren, eigentlichen und der scheinbaren Welt. In jener fundamentalen Grundentscheidung der philosophischen Tradition zeigt sich für Nietzsche ein einziger, ungeheurer Irrtum, eine entsetzliche Unwahrhaftigkeit, die größte Lüge der Geschichte, die dem Leben ins Gesicht schlägt. Die hier zum Ausdruck kommende idealistische Weltverdopplung ist ihm wesentlich Flucht in eine vermeintlich wahre Welt jenseits der wirklichen, irdischen Welt und damit ein Ausdruck tiefer Weltverleumdung: "Wir haben alles um uns hell und frei und leicht und einfach gemacht! In welcher seltsamen Vereinfachung und Fälschung lebt der Mensch?" Die Lüge des Ideals, so Nietzsche, war bisher nichts anderes als der Fluch, der sich über die Realität gelegt hat. In dem Grade, in dem man eine ideale Welt erlog, hat man der Realität ihren Wert, ihren Sinn und ihre Wahrhaftigkeit geraubt. Im Zuge seiner Kritik an den Grundannahmen der traditionellen, abendländischen Metaphysik eröffnet Nietzsche den Kampf gegen jene Begriffe, die in seinem Verständnis vom "Dämon der Tradition" besessen sind: Sein, Erkennen, Vernunft, Kausalität, Wahrheit und Moral. "Götzen (mein Wort für Ideale) umwerfen, das gehört zu meinem Handwerk!" Mit seinem schonungslosen, schneidenden Nein! zur Vergangenheit und der radikalen Absage an alles, was bislang als heilig, gut und wahr galt, erfolgt Nietzsches radikale Polemik gegen die Kläglichkeit und Erbärmlichkeit der traditionellen Logik menschlichen Erkennens. Nietzsche entwirft dabei, so Eugen Fink, "destruktive Keulenschläge, die er bis zur Virtuosität" zelebriert. "In irgendwelchen abgelegenen Winkeln, auf denen kluge Tiere das Erkennen erfanden: Es war die hochmütige und verlogenste Minute der Weltgeschichte." Mit Hohn überzieht er den unbändigen Trieb des Sokratismus, alles Seiende der rationalen Gliederung und Beherrschung zu unterziehen, um zu vermeintlich unmittelbaren, feststehenden Gewißheiten zu gelangen: "Nicht nur die Vernunft von Jahrtausenden – auch ihr Wahnsinn bricht an uns aus. Gefährlich ist es, Erbe zu sein." Nietzsche kämpft gegen den werttheoretischen Dogmatismus der Begriffe, in dem die Vielheit der Dinge weggeschnitten ist. Mit Begriffen, so Nietzsche, legt sich der Denker das Seiende zurecht, stellt er den Fluß des Werdens still, verfestigt er zu bleibenden Gebilden, was in Wahrheit niemals still steht. Begriffe, die in der Tradition das Denken gleichsam ‘auf den Punkt’ bringen sollen, sind in seiner Sicht nichts anderes als leer gewordene Bilder, verblaßte Zeichen, die dort stehen, wo vorher einmal die kräftige, kreative Intuition stand, sie sind ‘Begriffs-Mumien’, sinnarme Metaphern, mit deren Hilfe sich der bedürftige Mensch durchs Leben rettete.

Statt sich in die Tradition dieser ‘Verfehlungen’ einzureihen, will Nietzsche neu beginnen, das heißt: voraussetzungslos anfangen. Er wendet sich der Immanenz der Welt zu. Die Authentizität binnenweltlicher Dinge wird als wirkliche Welt neu entdeckt. Hier macht Nietzsche die grundlegend neue Erfahrung von der Vielfalt der Dinge und ihrer Veränderlichkeit. "Die Wirklichkeit zeigt uns einen entzückenden Reichtum der Typen, die Üppigkeit eines verschwenderischen Formenspiels und Wechsels, und irgendein armseliger Eckensteher von Moralist sagt dazu: nein!" Die früher als "scheinbar" apostrophierte Welt ist für Nietzsche die einzige Welt. Die früher im Gegenstück hierzu entworfene "wahre" Welt gilt ihm als eine Idee, "die zu nichts mehr nütz ist, nicht einmal verpflichtend. Eine unnütz, eine überflüssig gewordene Idee, folglich eine widerlegte Idee, - schaffen wir sie ab!"

Dieser radikale Neubeginn des Denkens hat Implikationen auf mehreren Ebenen: In der Erfassung des Seins, so Nietzsche, haben wir verlernt, die Dimension der Zeitlichkeit ernst zu nehmen, d.h., die Bewegung, das Werden; der Ereignischarakter des Seins muß neu aufleuchten. Der Blick für den Zufall, für die Kraft und das Spiel der Situationen muß geöffnet werden, denn der Vollzug aufeinander wirkender Geschehenskomplexe, so Nietzsche, hat selbst ein Dasein und ist seine ganze Realität. Die sokratische Frage "was ist?" muß korrigiert bzw. ersetzt werden durch die Frage "wer?", denn das Wesen eines Dings wird in der Kraft ausgemacht, in deren Besitz es ist und die sich in ihm zum Ausdruck bringt. Die durch Objektivierung herbeigeführte ‘Versteinerung’ des Denkens muß gesprengt werden durch die offene Demaskierung des begrifflichen Denkens, so daß der Blick frei werden kann für Situation, Urheberschaft und Interpretation. "All die Schönheit und Erhabenheit, die wir den wirklichen und eingebildeten Dingen geliehen haben", so Nietzsche in der Erläuterung seines perspektivischen Ansatzes, "will ich zurückfordern als Eigentum und Erzeugnis des Menschen, als seine schönste Apologie." Wenn sich in allen metaphysischen Selbstübersteigerungen letztlich nur "menschliches, allzu menschliches" verbirgt, so Nietzsche, dann muß in der Konsequenz das methodische Mißtrauen die Führung übernehmen: Wir müssen, so sagt er, den Ursprung und das Werden der Begriffe entdecken und damit Genealogien entwickeln von Metaphysik, Religion, Kunst und Moral. Die in diesem Bezugsrahmen generierten Interpretationen gewinnen einen fundamentalen, wirklichkeitskonstituierenden Wert.

Zusammenfassend können wir nach dieser ersten Skizze feststellen, daß Nietzsche die herkömmlichen Wahrheiten als selbstgemachte Illusionen entlarvt. D.h. er fragt nicht, wie Tilmann Borsche herausstellt, im überlieferten Schema der Tradition was etwas ist, sondern fragt radikaler, ob die Wahrheit überhaupt etwas ist, er stellt damit die Voraussetzung aller Wahrheitssuche, daß Wahrheit möglich ist, selbst in Frage. Mit seinem Neuansatz will Nietzsche den Menschen zur wirklichen Souveränität ihres Lebens verhelfen und die grundlegende Wende einleiten: Von der tragischen Wissenschaft, die den entsetzlichen Selbstbetrug des Denkens in sich barg hin zur fröhlichen Wissenschaft, die durch den mutigen und kraftvollen Vollzug des Verneinens und Vernichtens schließlich zum (neuen) Ja-sagen befähigt ist und damit als einzige in der Lage ist, den Menschen zu sich selbst zu befreien.

 

1.2. Zeit, Bewegung und Werden als ‘wahre’ Kategorien der Wirklichkeit

In der Metaphysik ist Erkenntnis des Seienden sowohl Erfahrungserkenntnis, Empirie, als auch apriorische Erkenntnis, d.h. vermittelt durch Kategorien, denen gemäß wir das Seiende als ein abgegrenztes, für sich seiendes Ding betrachten, das ein allgemeines Wesen hat. Parmenides ist für Nietzsche der erste, sozusagen klassische Vertreter dieser philosophischen Grundentscheidung, mit der die absolute Einheit des Seins im Denken postuliert und damit die historische Unterscheidung von Vernunft und Sinnlichkeit auf den Weg gebracht wird. Auch wenn Nietzsche die Sein-Frage als philosophisches Problem nicht explizit thematisiert, so ist sein radikaler Neuansatz in dieser Frage aus seiner Polemik gegen die Anmaßung der Metaphysik unmißverständlich zu entnehmen: ."...Niemand vergreift sich ungestraft an so furchtbaren Abstraktionen, wie das ‘Seiende’ und das ‘Nichtseiende’ sind. Das Blut erstarrt allmählich, wenn man sie berührt." Gegen den Sündenfall und die Lüge der kategorialen Interpretation, die den Menschen von der Wirklichkeit abgeschnitten und entfremdet hat, stellt er fest: es gibt keine endlichen, in ihrer Endlichkeit verharrenden Dinge und demnach auch keine Erkenntnis als geistige Anschauung der Seiendheit des Seienden. D.h., wir dringen zu nichts durch, das gleichsam als letzte Substanz, als unübersteigbare wahrhafte Wirklichkeit des Seins gedacht werden könnte.

Dem, was wir als ‘wahr’ behaupten, entspricht nichts, d.h. wir begreifen die Wirklichkeit nicht so, wie sie ‘an sich’ ist (diesen Fall gibt es nicht), sondern nur so, wie sie uns erscheint. Es gibt nichts, das wir unabhängig von unseren eigenen Daseinsbedingungen zu erkennen vermögen. "Mit dem Finger der Wahrheit", so Volker Gerhardt in seinem Nietzsche Kommentar, "zeigen wir letztlich nur auf uns selbst." Das bedeutet: Wenn wir Dinge oder Eigenschaften vorfinden, so hat mit diesem Vollzug das Denken bereits sein Werk getan, denn all dies gibt es nur, wie Eugen Fink sagt, "im Licht einer seinsbegrifflichen Ausgelegtheit." Wenn das Denken selbst nur noch Fiktionen von Substanz entwirft, dann ist alles Vorgefundene und denkerisch Fixierte grundsätzlich verschieden, situationsabhängig und zeitgebunden. Gegenüber der Vorstellung beständiger Substanz stellt Nietzsche die Bewegung der Zeit als eigentliche Dimension allen Seins in den Mittelpunkt der Betrachtung: "Gegen den Wert des Ewig-Gleichbleibenden stelle ich den Wert des Kürzesten und Vergänglichsten, das verführerische Gold-Aufblitzen am Bauch der Schlange." D.h., jedes Einzelne ist jeweils nur eine momenthafte Erscheinungsform, eine "Welle in der Lebensflut", eine Bewegungsphase im unendlichen Spiel der Welt und damit ein sequentielles Aufblitzen in der Zeit des Werdens. Die sinnlich erfahrbare, in Raum und Zeit sich zeigende Welt und damit die lebendig bewegte, wirkliche Welt kennt nichts Ständiges, Ruhendes, Zugrundeliegendes – sie ist Bewegung, Zeit und Werden. Im Rückblick auf die Tradition stellt Nietzsche fest, daß Heraklit der einzige Philosoph gewesen ist, der den Blick gehabt habe für die polare Spannung von Gegensätzen in allem, was ist, was in der Zeit treibt. Er allein habe den Fluß der Zeit als die wahrhafte Dimension der Wirklichkeit gesehen. In Anknüpfung an seine Grundkritik vollzieht Nietzsche den Bruch: Er geht aus vom Strom des unaufhörlichen Werdens als unabänderliche Gesetzmäßigkeit allen Geschehens. In der Ur-Wirklichkeit des reinen Werdens, das weder im Sein beginnt noch im Sein endet, zeigt sich für ihn die eigentliche Weise, wie der Weltgrund waltet. Aufbauend auf diese erkenntnistheoretische Wende entdeckt (und entwickelt) Nietzsche den für seine Philosophie konstitutiven (Neu)Begriff des Lebens: Das einzige, was wir von der Welt sagen können, so Nietzsche, ist, daß sie lebt. Das bedeutet: selbst der Begriff des Werdens ist noch zurückzuführen auf den des Lebens. Jegliche Realität – alles, was es gibt, verdankt sich dem immer schon wirksamen Impuls des Lebens zum Leben. Im Leben findet man die letzte elementare Organisation des Daseins, das unablässige Größer- und Stärkerwerden als kontinuierliche Form prozessualer und widerstreitender Kraftäußerung. Es ist Ausdruck spontaner schöpferischer Kräfte und ihrer Wechselwirkungen als ewiges Spiel des Werdens.

In vielfältigen, eindrucksvoll vorgestellten Bildern will Nietzsche die Eigenart des Lebens vom Innern des Begriffs heraus entfalten: Vergleichbar mit der Naivität des aus sich rollenden Rades beinhaltet das Leben keine Finalitäten, keine schicksalhafte Hybris und ist frei von jeder moralischen Zurechnung. Das Leben ist die Natur der positiven Freiheit und gleicht damit dem unschuldigen Spiel des Kindes. Mit der Unbeschwertheit, mit dem das Kind die Brettsteine hin- und hersetzend spielt, so "spielt auch das lebendige Feuer, baut auf und zerstört in Unschuld – und dieses Spiel spielt der Äon mit sich." Das Spiel ist für Nietzsche eine grandiose kosmische Metapher, die diese ursprünglichste Wirklichkeit der Welt treffend zum Ausdruck bringt: das gegensätzliche Walten von Dionysos und Apoll, den widerspenstigen Bund zweier Grundmächte, ihr einigender Widerstreit. In enger Anlehnung an den Begriff des Spiels verweist Nietzsche auf das Bild des Würfelwurfs. In ihm zeigt sich die offensive Bejahung und Bestätigung des Zufalls als Grundmerkmal des Lebens. Im Würfelwurf – so wie er ihn versteht – geht es nicht um eine begehrte, herbeigesehnte Wiederkehr gewünschter Zahlenkombinationen, d.h. um den Erfolg mehrfacher Würfe, sondern nur um einen einzigen Wurf, um die willige Anerkennung der schicksalhaft erhaltenen Zahl. So, wie die Regel des Spiels lautet, "mit dem Chaos in sich einen tanzenden Stern zu gebären" (Deleuze), so ist der Würfelwurf der Vollzug des "heiligen Ja-sagens" zum Zufall, zum Sein des Werdens, das ungewisse, unschuldige Spiel des Feuers mit sich selbst.

Damit sind die Bilder nicht erschöpft. Das Leben gilt Nietzsche als ein sich selbst gebärendes Kunstwerk. Der individuelle konkrete Mensch gelangt als Schöpfer und Ur-Künstler zu sich selbst, indem er sich den ihn tragenden und treibenden Kräften willig überläßt. Wird diese Kunst gelebt und ihre heilende und helfende Wirkung erfahren, vollzieht man das Leben selbst als Kunst. In einem so verstandenen Kunstwerk sieht Nietzsche die höchste Vernunft. In dieser schöpferischen Befreiung zu sich selbst wird eine Leichtigkeit erfahrbar, die die ganze Last, das Leben pervertierender Zwänge abgeworfen hat und von neuer Weltlust ergriffen ist: In der "Vogel-Art" des Zarathustra kommt jene Leichtigkeit der Befreiung lebendig zum Ausdruck, die den unbefangenen Weltüberschwang neu entdeckt hat, das "sich-selbst-hinauswerfen" in die weiten Räume und Zeiten des Ganzen. Zarathustra, der lachende Philosoph, wird "die Erde neu taufen, als die leichtere."

Der hier nur kurz angedeutete Blick auf die verschiedenen Metaphern des Lebens sollte veranschaulichen, in welcher Weise Nietzsche auf die Ursprünge zurückgeht, das Leben als den letzten Orientierungspunkt des Denkens und damit als letztes Kriterium der Wahrheit ansetzt. Das Sein, sagt Nietzsche, "wir haben keine andere Vorstellung davon als Leben." Zugleich ist damit aber auch deutlich geworden, daß er das Leben mit den Bildern Zufall, Spiel, Unschuld, Leichtigkeit (als seiner Struktur nach) in ewiger "Verflüssigung" denkt. Für Nietzsche stellt sich somit das Problem, wie er (ohne in die verlogenen Netze der Metaphysik zu gelangen) diese Vielfalt in die globale Ausrichtung eines allgemeinen philosophischen Begriffs übersetzen kann. Dieser Überlegung geht der folgende Abschnitt nach.

 

1.3. Der Wille zur Macht: Das Willensspiel relationaler Prozesse des Schaffens, Zerstörens und Experimentierens

Im Zusammenhang der Begriffe Werden und Leben sucht Nietzsche das zentrale Bewegungsprinzip der wirklichen, lebenden Welt, mit dem er sozusagen in das Innere des Lebens vorstoßen, an den Ursprung aller Bewegung zurückgelangen will. Dies findet er in einer gedanklichen Konzeption, die als zentrale Lehre seines Zarathustras bezeichnet werden kann: "wo ich Lebendiges fand, fand ich den Willen zur Macht und noch im Willen des Dienenden fand ich den Willen, Herr zu sein." Nietzsche versucht damit, wie Eugen Fink formuliert, das Denken in allen seinen Weisen zurückzudenken "in jenes Vordenkliche, Vorgeistige, das er Willen nennt."

Der Wille zur Macht ist der elementare, schöpferische Antrieb, ein unersättliches Verlangen, das der Dynamik des Lebens selbst entspringt, der innere Beweggrund, der alle Kräfte, innerlich und äußerlich, antreibt; in ihm artikuliert sich gleichsam die Unschuld des Strebens nach dem Ursprünglichen. Nietzsche will mit dieser Formel den Begriff des Werdens, das innerste Wesen des Lebens verstehen lernen und würde sich vehement gegen eine "transzendentale Überhöhung" dieser gedanklichen Konzeption wehren. Mit dem Willen zur Macht denkt er vielmehr das Wesen des Vergänglichen, Endlichen in seiner Realitätsbindung mit der Erde.

Auch hier kann Nietzsche das Bild vom Kind, vom Künstler und vom Schaffenden wieder heranziehen: Alle verhalten sich in einer schöpferischen Ursprünglichkeit zu den Dingen, "setzen neue Maße und Gewichte." Sie erleben sich als Befreite, die das Äußerste versuchen: In der offensiven Annahme des Wirklichen, d.h. in der schonungslosen Selbstbejahung des Lebens mit all seinen Widersprüchen und seiner Tragik erleben sich jene Menschen als eins und einig mit der Welt, sind nicht mehr auf die Verheißungen eines Jenseits angewiesen, die Dualität von innerer und äußerer Welt ist für sie aufgehoben.

Im fundamentalen Gegensatz zum metaphysischen Modell sieht Nietzsche den Charakter und die Richtung jeder Willensartikulation in reiner Unschuld. Weder religiös noch moralisch ist das Weltgeschehen zu rechtfertigen, allenfalls ästhetisch; freilich nicht, wie Alois Halder feststellt, im Interesselosen, sondern im schaffenden Blick, der dieses Weltgeschehen mit seiner schauerlichen Abgründigkeit ins Bild faßt (die Sinnlosigkeit des Lebens in endlosen Auf- und Untergängen) und sich und jedem sagen will: siehe, es ist schön. Es ist die äußerste, die heitere Schönheit des tragischen Bildes, der tragischen Weltsicht, "der Welt des ewigen Schaffens und Zerstörens: Welt als ein sich selbst gebärendes Kunstwerk, als tragisches Schauspiel."

Die bisherigen Ausführungen unter diesem Abschnitt sind nicht mehr als die ersten, tastenden Gehversuche, die zentrale philosophische Konzeption Nietzsches (die keine sein will) in ihren Grundzügen zu erfassen. Es versteht sich von selbst, daß eine tiefere und gründliche Betrachtung dieses Begriffs im hier gegebenen Rahmen nicht geleistet werden kann. Um allerdings Mißverständnissen oder Verkürzungen entgegenzuwirken, sind die folgenden Ausführungen unentbehrlich; denn in der Weise, in der bisher vom Willen zur Macht gesprochen wurde, wurde gleichsam stillschweigend ein Mißverständnis eingeschleust. Der Wille, so Nietzsche, hat eben nicht die Tendenz, an einer erreichten Machtposition stille zu werden, um sich als ruhende Artikulationsform des einen Willens endlich ausbreiten zu können, er ist also nicht im substantialisierten Sinne an die Selbstgewißheit eines erkennenden Subjekts gebunden bzw. nicht so zu sehen, als ob der äußeren Wirksamkeit kausaler Ursachen ein jeweils innerer Grund zuzuordnen wäre.

Die Feststellung von Gilles Deleuze, im Willen zur Macht stecke nichts Anthropomorphes, wird in der neuesten Veröffentlichung Volker Gerhards vehement bestätigt: Nachdrücklich wird von Gerhard hervorgehoben, daß der Begriff des Willens zur Macht jenseits anthropologischer Verengungen als Grundbestimmung der Welt überhaupt, als Prinzip allen Geschehens gesehen werden muß. Das denkende und wollende Ich, dies sagt Nietzsche gegenüber Descartes, ist eine Fiktion, mit deren Hilfe eine Art Beständigkeit in die Welt hineingedichtet wurde, der in Wahrheit nichts Wirkliches entspricht. Wenn überhaupt vom Willen in dieser Hinsicht gesprochen werden kann, dann immer auf der Folie, daß er um den fiktiven Charakter seiner selbst weiß. Nietzsche betont, daß der Wille zur Macht nur in pluralistischen Formen der Übersteigerung und Übermächtigung existiert, d.h. er besteht in unendlichen Willens-Punktationen, die beständig ihre Macht mehren und verlieren, also fortwährend werden und danach streben, sich selbst und anderes zu überwinden. Der Wille zur Macht ist also nur im Plural zu denken, nämlich als das grund- und ziellose Spiel des Kampfes, teils zusammenwirkender, teils gegensätzlicher Mächte und Kraftquellen, die sich in gegenseitiger Durchdringung ständig in Bewegung halten. "Und gerade deshalb", so Alois Halder, "ist Kunst die im Rang höchste Gebärde des Willens zur Macht, weil er sich in der Kunst dazu verführt, daß er mit allem Willen wollen muß, aber nicht, weil er ‘an sich ‘ so wäre, daß er muß (es gibt nicht den Willen ‘an sich’), sondern weil er auch noch dieses Wollen-müssen ja-sagend kann. Und nur in dem Ausmaß, in dem er dies bejahen kann, ist er Wille. Die Kunst ist das sich einbildende Können des Willens zu müssen."

Festzuhalten bleibt: Nietzsches zentraler philosophischer Begriff steht für ein Willensspiel polarer Spannungen und relationaler Prozesse des Schaffens, Zerstörens und Experimentierens, in dem jedes mit jedem im Kampf liegt, das kein Sattwerden, keine Müdigkeit kennt und nie zum Ende kommt. Hierin allein zeigt sich die Wirklichkeit.

 

1.4. Erkenntnis als differentielles und schöpferisches Interpretationsgeschehen

Mit dem Übergang von Sein zum Werden (Leben) als Einzelfall des Willens zur Macht vollzieht sich bei Nietzsche auch der Übergang vom Erklären zum Auslegen, in seiner Sprache: von erschöpfender Erkenntnis zum schöpferischen Interpretationsgeschehen. Daß die Kraft des Wortes Ausdruck des Willens zur Macht ist, so Nietzsche, kann man an den Anmaßungen der Tradition ablesen: Mit Begriffen legten sich die Denker das Seiende zurecht, stellten den Fluß des Werdens still und verfestigten zu bleibenden Gebilden, was niemals stillsteht. Mit einem Gerüst von Worten und Begriffen haben sie ein Netz in den Fluß der Zeit geworfen und jene Fische gefangen, die sie mit "Substanz" und "Kausalität" bereits vorher selbst hineingelegt hatten: "Sie töteten, stopfen aus, diese Herren Begriffsgötzendiener, wenn sie anbeten." Bestand der Anspruch der Tradition darin, mit Erklärungen die eine Wahrheit offenzulegen, so hat man mit dem zwanghaften, betrügerischen Universalismus der Erkenntnis letztlich nur Illusionen erzeugt und die Wirklichkeit verfehlt. Mit großer Lust durchschneidet Nietzsche die Brücke vom Begriff zur Wahrheit: "Man soll die Nötigung, Begriffe, Gattungen, Formen, Zwecke und Gesetze zu bilden, nicht so verstehen, als ob wir damit die wahre Welt zu fixieren imstande wären. Vielmehr soll man es als Nötigung verstehen, uns eine Welt zurechtzumachen, bei der unsere Existenz ermöglicht wird."

Erkennen, so Nietzsche, ist ein höchst widerspruchsvolles Unternehmen, in dem es zunächst einmal darauf ankommt, die Autorschaft und Zeitlichkeit als Prinzip des Bedeutens anzuerkennen. In diesem Zusammenhang thematisiert Nietzsche das, was in der gegenwärtigen Nietzsche-Rezension mit den Begriffen des perspektivischen, relationalen Denkens, der historischen Philosophie oder der dekonstruktiven Genealogie der Begriffe angesprochen wird. Was verbirgt sich dahinter? Nietzsche entwickelt eine Methode philosophischer Kritik, mit der er die Bedingungen der Entstehung von Begriffen rekonstruieren, mit der er die jeweils singulären Züge individueller Machtäußerungen offenlegen will, um letztlich die Relativität ihrer Bedeutung hervortreten zu lassen. Einfach gesagt will er ein Denken, das dem philosophischen Prinzip des Werdens entspricht, das mit dem Fluß der Zufälligkeit, mit der unvergleichbaren Je-andersheit von vielem Werdenden in Einklang zu bringen ist. Das sprechende Denken, das jedes Werden auf "Einheit an sich" hin festlegen muß, will Nietzsche überwinden durch sein Konzept der Interpretation: Sie ist sich des fiktiven Charakters ihrer gedanklichen Aktivität bewußt und kennt die Genealogie ihrer eigenen, perspektivischen Gewißheit. Der von Nietzsche als Fundamentalvorgang herausgehobene Interpretationszirkel beinhaltet mehreres zugleich: Zunächst einmal ist es durch diese Perspektive möglich, jeden Begriff in seinem ‘Geworden-sein’ verstehen zu lernen, anders gesagt: den Zusammenhang zwischen dem, was etwas ist und seiner Zeit zu reflektieren. Vor diesem Hintergrund wird die metaphysische Philosophie bei Nietzsche zur historischen Philosophie.

Ein weiterer Aspekt ist die Betonung der oben bereits genannten Autorschaft der Erkenntnis, in der sich zugleich der Wille zur Macht artikuliert. Wie bereits oben angedeutet, ist hier nicht die Perspektive einzelner Subjekte gemeint, sondern die (globale) Struktur aufeinander wirkender und darin machtschätzender Geschehenskomplexe. Gefordert ist, wie Günter Abel feststellt, der Übergang vom Ding- und Subjekt-Schema zum Ereignis-Schema: "Dieser Übergang kann nicht als eine Transformation einzelner Komponenten erfolgen. Er muß vielmehr holistischer Natur sein, betrifft also nicht nur diese oder jene Perspektive, sondern die Optik, das zugrundeliegende Schema selbst." D.h., nicht der einzelne wird hier gesehen, sondern das dynamische Beziehungsgefüge insgesamt, in dem die Kraftäußerungen konkurrierender Autorschaften und Interpretationen zirkulieren. Es besteht ein Zirkel, der weder ein Anfang noch ein Endziel hat und letztlich nur weitergetrieben wird von dem, was er selbst erzeugt hat. Nur durch relationale Interpretation, und dies ist ein weiterer Aspekt, kommt ein Etwas in die Welt. Im Aufeinandertreffen unendlicher Interpretationsgeschehen konstituiert sich das Individuelle und Situative als die einzige aktuelle Wirklichkeit im Fluß der Zeit. Welt und Wirklichkeit sind nur in und als Interpretation, anders gesagt:

Realität gibt es nur als die Entäußerung des Interpretationsgeschehens (das letztlich der Mensch selbst ist). Man muß, wie Günter Abel feststellt, von einem vollständigen Ineinanderstehen von Faktizität und Interpretation ausgehen. Von den Interpretationsvorgängen gilt, um eine Formulierung Alois Halders aufzugreifen, daß "in ihnen das Interpretierende die Grenze, von der her ihm etwas als Welt, Wirklichkeit und Sinn gilt, nicht setzt, sondern selbst ist." Eine Änderung der Interpretation und des Gedankens ist nicht nur die Veränderung einer inneren Perspektive (d.h. der Innenwelt) sondern eine Änderung der Welt selbst: "Die Grenzen der Interpretation, so ist von Nietzsche her das bekannte Diktum Wittgensteins zu erwarten, sind die Grenzen der Welt." Jedes Interpretieren ist jedoch nichts anderes als ein Macht-wollen, und umgekehrt vollziehen sich die Willen-zur-Macht-Prozesse als Interpretationsprozesse und begründen darin Faktizität, beide Seiten sind immer schon untrennbar ineinander übergegangen. Die Steigerung der Macht und die Erweiterung der Interpretationshorizonte bedingen und fördern einander wechselseitig. Alles Wirkliche, so kann abschließend festgehalten werden, jede Realität besteht als Interpretationsprozess und zwar als Entäußerung des Macht-wollens und als Drang zur Übermächtigung pluralistischer Kräfte-Relationen.

 

1.5. Die ewige Wiederkehr im Kreis: "Auf dem Augenblick liegt das Schwergewicht der Ewigkeit"

Wenn die ineinanderliegenden Willen-zur-Macht und Interpretationsprozesse immer nur im Augenblick des aktuellen Jetzt auftreten und darin Realität konstituieren, dann wird vor diesem Hintergrund nachvollziehbar, daß Nietzsche gegenüber der Tradition zu einem anderen Verständnis der Zeit gelangt.

Die Tradition hatte das Bild von der Zeit als unendliche Abfolge von Momenten, wo alles Gewesene festgelegt war. Der Augenblick des Jetzt, worauf es Nietzsche vor allem ankommt, ist in dieser Vorstellung das Zusammentreffen zweier langer Gassen, die sich insofern widersprechen, als die eine rückwärts, und die andere vorwärts gerichtet ins Unendliche auseinanderlaufen. Hier beginnt Nietzsche mit seinem Fragezeichen: "Vergangenheit und Zukunft, - zweimal die ganze Zeit?" Nietzsche kritisiert die verächtliche Abwertung und Relativierung der Vergangenheit durch das traditionelle Denken: Indem überzeitliche Ideale als die absoluten Fixpunkte angesetzt wurden, mußte sich das Vergängliche, die Erde und alles, was ihr zugehört, zum eigentlich Nicht-Seienden herabsetzen. "Dies, ja dies allein ist die Rache selber: des Willens Widerwille gegen die Zeit und ihr ‘es war’" Nietzsches Fazit lautet: Der Mensch muß sich vom Geist der Rache erlösen, d.h., er muß sich frei machen für ein tieferes Verständnis der Zeit, indem ihre Rätselhaftigkeit schonungslos ans Licht geholt wird. Damit meint Nietzsche zunächst einmal, das Wesen der Vergänglichkeit in seiner unverkürzten Härte sehen zu lernen. Alles, so sagt er, ist dem zehrenden Wandel unterworfen. Die Zeit tilgt, sie ist Vernichtung, wogegen der Wille nichts ausrichten kann, sie ist das Widrige, an dem der Wille leidet und seine Ohnmacht erfährt. Hat man sich die spezifische Qualität der Vergangenheit klar vor Augen geführt, so folgt daraus, daß sie nicht minder ernst zu nehmen ist wie Gegenwart und Zukunft; d.h. Nietzsche will die Gleichwertigkeit aller Zeithorizonte in vorbehaltloser und uneingeschränkter Bejahung ernst nehmen. Auf dieser Basis aufbauend, stellt er die Vorstellung der auseinanderlaufenden Zeitgassen in Frage und richtet den Blick ganz auf das Jetzt. Nietzsches Begründung: Im Augenblick des Jetzt ist das Lebendige lebendig, hier findet man die einzige Realität. Eine tiefergehende Betrachtung zeigt: Jede konkrete Handlung im Jetzt enthält die abgekürzte Geschichte allen Werdens und ist zugleich bestimmender Faktor für das Zukünftige. Anders formuliert: Das Jetzt wird unaufhörlich mit neuen Inhalten überschwemmt, die zugleich immer weiter in die Vergangenheit sinken. Weder, so Nietzsche, ist alles in der Vergangenheit schon entschieden, noch befindet sich alles Künftige vor der Entscheidung. Nietzsche will denkerisch versuchen, wie Eugen Fink feststellt, "der Vergangenheit den offenen Möglichkeitscharakter der Zukunft und der Zukunft das Festliegen der Vergangenheit zuzusprechen, beide Linien gehen hier ineinanander über." Die Zeit verliert damit ihre eindeutige Gerichtetheit. Alle drei Phasen der Zeit rücken als das Gleiche in eine einzige Gegenwart zusammen, in ein stetes Jetzt. Das Stete ist für Nietzsche nicht die Statik des Jetzt, sondern der konkret erfasste Augenblick in der Bewegung des Fortlaufenden, des sich ewig Erneuernden. Jede Form zeitlich-linearer Sukzession ist aufgehoben worden durch die Vorstellung der sich im Kreis bewegenden Zeit, die sich in sich selbst umkehrt. Mit der Ablehnung binnenzeitlicher Begrenzungen und Einteilungen will Nietzsche die Zeit einerseits beseitigen und überwinden, mit dem Bild des Kreises dagegen die tiefere Ursprünglichkeit des Wesens der Zeit erfassen lernen und damit die Zeit verewigen, ihre unbegrenzte Herrschaft festigen.

Nietzsche begreift den Kreis als Urgesetz allen Werdens: Die Welt muß sich unaufhörlich erneuern, um endlich sein zu können. Aufbauend auf dem Kreisverständnis,das in den nachfolgenden Überlegungen weiter entfaltet wird, gelangt Nietzsche zu seiner Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen. In der Nietzsche-Rezeption ist unstrittig, daß sich diese Lehre in ihrer ungeordneten Komplexität und Widersprüchlichkeit als undurchschaubares Labyrinth darstellt. Viele Autoren heben hervor, daß eine stringente, begrifflich-theoretische Durcharbeitung dieser Konzeption weitgehend fehlt. Die Lehre wird stark überlagert vom intuitiv-visionären Verkündigungsstil Nietzsches; in vehementer Bilderschrift entfaltet er seine Botschaft als Rätselrede, als dunkle Prophetie, als Enthüllung eines persönliches Geheimnisses. Dahinter steht letztlich, wie viele Autoren hervorheben, ein ‘individueller Mythos’ im Rahmen eines spekulativen Weltentwurfes, mit dem Nietzsche an den Rand des für ihn Sagbaren gerät.

Es versteht sich von selbst, daß es im hier gesetzten Rahmen unmöglich ist, den Kern dieser philosophischen Konzeption in ihren vielfältigsten Spektren auszuleuchten, zumal der Status dieser Lehre im Urteil einiger Interpreten nur vage bestimmbar ist. Von dieser Vorbemerkung ausgehend soll doch zumindest in groben Zügen angedeutet werden, welche Erklärung es dafür geben könnte, daß das, was im Jetzt geschieht, nur im Modus ewiger Wiederholung des Entstehens und Verschwindens gedacht werden kann, und vor allem: warum das Gleiche wiederkehren soll. Nietzsche greift auf den Gedanken der kosmischen Rotation aller Ereignisse zurück. Allein mit dieser Vorstellung wird ein riesiges Feld philosophischer Reflexion betreten, das hier nur plakativ angedeutet werden kann: Das überhaupt Geschehbare in der Welt, so Nietzsche, hat zwar eine ungeheuerliche Größe, aber es besitzt niemals unendliches Wachstum; d.h. es besitzt nicht das unerschöpfliche Vermögen zur ewigen Neuheit, das ins Unendliche fortsetzt und gesteigert werden könnte. Alles, was es gibt, gibt es nur als endliche Reihe von Ereignissen, als, wie Nietzsche sagt, "begrenztes Schöpfertum", als endliche Zahl binnenzeitlicher Konstellationen. Eine endliche Reihe von Ereignissen kann in einer unendlichen Zeit nur als Wiederholung sein. Wenn alle Dinge, die endlich sind, durchlaufen sind, muß der Lauf von neuem beginnen, und dies, so kann man vereinfacht sagen, passiert nicht irgendwann zum Zeitpunkt X, sondern ist bereits immer schon geschehen: "Die Ewigkeit der Vergangenheit", so Eugen Fink "fordert das Schon-Geschehen-sein alles Geschehbaren und eine unendliche, ewige Zukunft fordert das künftige Ablaufen aller binnenweltlichen Ereignisse."

Entscheidend ist hierbei, daß sich der Charakter der Wiederholtheit nicht erst im Laufe der Zeit bildet, etwa in dem Sinne, als ob die große Schallplatte aller möglichen Ereignisse immer wieder von neuem abgespielt würde. Vielmehr ist die Wiederkehr das verborgene und verdeckte Wesen des Zeitlaufs selbst. Wiederholung entsteht also nicht in der Zeit, sie ist die Zeit selbst. Die Wiederholung soll, wie Eugen Fink feststellt, der Einmaligkeit des Jetzt gerade nicht widersprechen, sondern "die Einmaligkeit gerade verewigen, der Diesheit und Faktizität des Daseins die unendliche Tiefe geben." Damit werden Zeit und Wiederkehr in eins gedacht. Beides ist in der Vorstellung Nietzsches ewig, d.h. die Ewigkeit bezeichnet das Wesen der Zeit, ist ihr immanent; Zeit hat nie angefangen und wird nie aufhören. "Die Welt", so Nietzsche, "wird, sie vergeht, aber sie hat nie angefangen zu werden und nie aufgehört zu vergehen – sie erhält sich in beidem."

Zusammenfassend kann gesagt werden: Was im Augenblick des Jetzt wie ein einmaliger Vorgang aussieht, ist schon unendliche Wiederholung. Andererseits steht die Wiederholung insofern nicht im Widerspruch zur Einmaligkeit des aktuellen Jetzt, da die genuine, augenblickliche irdische Entscheidung alle unabsehbaren Wiederholungen irdischen Daseins für die Zukunft bestimmt: "Auf dem Augenblick", so Eugen Fink, "liegt das Schwergewicht der Ewigkeit." Die Bewegung unendlicher Wiederholung kennt keinen Punkt, nach dem sie sich ausrichten könnte. D.h. Nietzsche hat jede teleologisch oder finalistisch angelegte Zeitauffassung hinter sich gelassen: "Hüten wir uns, dem Kreislauf irgendein Streben, ein Ziel beizulegen." Nietzsches Kreis hat ein durch und durch nihilistisches Merkmal.

Volker Gerhard weist darauf hin, daß es zu kurz gedacht wäre, Nietzsches Lehre von der ewigen Wiederkehr auf ihren theoretischen Sinn hin zu beschränken: "Ihr überfallartiger Auftritt, ihre existentielle Wirkung, ihre geheimnisvolle literarische Einführung, ihre ausdrückliche Bindung an die Kunstfigur des Zarathustras und nicht zuletzt ihr Selbstverständnis als ‘tragische Weisheit’: all dies macht deutlich, daß sie nicht als Theorie (weder über die Zeit, noch über den Kosmos, noch über das Leben) angelegt ist. Sie ist offenkundig mehr – jedenfalls in Nietzsches eigenem Verhalten."

Wir sehen dieses ‘mehr’ in der existentiellen Dimension dieser Lehre. Dieser Aspekt tritt u.E. dann klarer hervor, wenn man den Wiederkunftsgedanken in Beziehung setzt zur Pluralität der Willen-zur-Macht-Prozesse. Wenn wir, wie Nietzsche sagt, den Gedanken "in seiner furchtbarsten Form denken", daß nämlich das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, ohne ein Finale ins Nichts steuert (und sich so kreisend hält), so werden damit alle Sinn- und Handlungsansprüche in letzter Konsequenz auf ihren eigentlichen Ursprung, nämlich auf den tätigen Menschen und nur auf ihn zurückgeworfen. Mit Blick auf den Menschen muß man nun erkennen, daß sich in der unendlichen Zeit alle menschliche Kraft irgendwann erschöpfen muß. D.h. angesichts der Ewigkeit der Zeit schrumpft jede Größe des Menschen, relativiert sich selbst der stärkste Wille des schaffenden Menschen. Wenn in der Ewigkeit der Zeit also nur unendlich strukturierte Bemühungen des Menschen zirkulieren, d.h., eine kreisförmige Bewegung des Kommens und Gehens, des Aufbauens und Zerfallens geschieht und damit ein Wirbel von leeren, ziellosen Wiederholungen erfolgt, dann offenbart sich hiermit die völlige Vergeblichkeit aller menschlichen Bemühung; jeder Wille, jedes Wagnis des Menschen erweist sich in letzter Konsequenz als sinnlose Torheit, bringt allenfalls die erbärmliche Endlichkeit des Menschen ans Licht, der gegen die Leere dieses Mechanismus anzurennen versucht.

Der hier auftretende Widerspruch des Wiederkunftgedankens zur Lehre vom Willen zur Macht ist nur vordergründig. In einer tieferen Betrachtung zeigt sich die innere Beziehung beider ‘Konzeptionen’. In ihrer inneren Verflechtung enthalten beide zusammen jenes Programm, das, wie Mihailo Djuric feststellt, über den Nihilismus hinausführt, das die Umwertung aller Werte enthält, eine grundlegende epochale Umwandlung vorbereitet. Denn: Mit beschwörenden Worten verlangt Nietzsche im Zarathustra, gerade im Angesicht der ewigen Wiederholung des leeren Spiels der Welt, den Willen zum Willen zu bewahren; d.h., gerade im Angesicht seiner eigenen Vergeblichkeit muß der Wille zur Macht die Kraft finden, immer aufs neue wiederzukehren und darin immer wieder das Gleiche neu zu wollen. Das ist der existentielle Imperativ Nietzsches! Diese Aufgabe in fröhlicher Bejahung anzunehmen, ist das Los der Menschen. In der Zusammenschau beider o.g. Lehren wird der Mensch also fähig, historisch zu handeln, seine geschichtliche Aufgabe zu erfüllen.

Im offensiven Ertragen des großen Umsonst lernt er, alles auf seine Gegenwart, auf seinen leibhaftig-lebendigen Sinn zu konzentrieren und vor allem: dies immer wieder neu zu wollen: "Des Ringes Durst ist in euch: sich selbst wieder zu erreichen, dazu ringt und dreht sich jeder Ring." Wer diese Erkenntnis besitzt, hat die größte Lehre Nietzsches, sein umgekehrtes Ideal vor Augen. Im Zarathustra entwirft Nietzsche diesen für ihn mächstigsten und schwersten Gedanken als Zwiegespräch des Einsamen mit sich selbst: Derjenige, der die leid- und schmerzvolle Erfahrung der Vergeblichkeit des Wollens für sich in die kraftvolle Bejahung des Dennoch-Wollens gewandelt hat, der die Abgründigkeit des Gedankens der ewigen Wiederkehr des Gleichen durchsteht und übersteht, der hat alles Ernste und alles Schwere seines Daseins hinter sich gelassen und in eine überschwengliche Leichtigkeit verwandelt; er ist zu einer unbeschwerten und schöpferischen Existenz des schaffenden Menschen befreit worden, er ist gleichsam aus einem Schlaf erwacht, hat die Umwertung aller Werte vollzogen und sein Dasein zur wahren Größe, zur höchsten Innigkeit des Lebens verwandelt, er hat den weitsüchtigen Blick erlangt, der auf das Ganze zielt, ist von einer Offenheit ergriffen, die ihn zu neuer Weltlust befreit hat: "Seine Seele ist zu reich geworden, kann die Überfülle ihres Reichtums, ihre Welthaltigkeit nicht ertragen, wie einen ruhigen Zustand, sie hat die Welt im Überschwang der Sehnsucht." In nahezu unendlichen Variationen beschwört Nietzsche den grundlegenden Wandel menschlicher Existenz vom "schlafenden" Menschen zum "Übermenschen." "Wer die Menschen einst fliegen lehrt", so sagt er mit Blick auf die Erkenntnis seiner tragischen Botschaft, "der hat Grenzsteine verrückt. Alle Grenzsteine werden ihm in die Luft fliegen, die Erde wird er neu taufen – als die Leichte." Und gerade der weltoffene Überschwang wirft den Menschen wieder härter in die Dinge zurück, so daß er das Ja zum Wollen um so kräftiger erneuern muß. Die innere Verbindung beider Lehren erweist sich damit als ewige Formel der Bejahung: "Das Leben, das sich selbst will, das ewig sein und wiederkehren will, das ist die höchste Möglichkeit des Lebens." Die neu erlangte Souveränität besteht also darin, daß sich der Mensch ganz einläßt in das Spiel der Welt; er wird zum Mitspieler des großen Spiels und erlebt dort die Versöhnung von Freiheit und Notwendigkeit. Dionysos, so Eugen Fink, ist Nietzsches letztes Wort. In dieser Gestalt hat Nietzsche die Wiederkunftslehre mit der Lehre vom Willen zur Macht vereinigt. Dionysos ist die letzte Antwort auf die große Sehnsucht des Menschen, er bleibt der Namenlose zukünftiger Gesänge.

 

1.6 Die Philosophie Nietzsches: Apologie der ‘Bodenlosigkeit’

In den vorangegangen Abschnitten haben wir nicht mehr als die zaghaften Versuche unternommen, das Denken Nietzsches aus der Mitte seiner Philosophie heraus verstehen zu lernen. In erster Linie ging es uns darum, die ‘Bodenlosigkeit’ seines Denkens zu belegen. Das von ihm kritisierte ontologisch-metaphysische Denken der Tradition ruhte gleichsam ‘in sich’: Es war gebunden an die unhintergehbare Substanz transzendentaler Ideale. Sie wurden absolut gedacht und trugen gleichsam die umherirrende Suche menschlicher Erkenntnis wie an einem unsichtbaren Faden. Die Richtung war vorgegeben; mit ihrem linearen Fortschreiten war Erkenntnis immer der Prozeß eines Aufstiegs, um einer in sich ruhenden Wahrheit näher zu kommen. Erkenntnis war nie geschaffene, sondern immer ‘gefundene’ Erkenntnis. "Insofern das Sein ‘da ist’", so Tilman Borsche, "und alle Weisen des Seienden zu sein von diesem Ersten abhängig sind, mehr noch: nur sind, was sie sind, aufgrund des Wesens, das in allem Seienden anwesend ist, ist Philosophie, die nach diesem Sein fragt: erste Philosophie." Nietzsche hat mit dieser Philosophie abgeschlossen, er hat den ‘Faden’, an dem das Denken hing, durchschnitten. Durch seine Hinwendung zur Beweglichkeit, Verschiedenheit und Zeitgebundenheit der binnenweltlichen Dinge sowie durch die Betonung des konstruktiven Charakters von Erkenntnis hat er das Denken von einer ‘statischen’ Basis abgekoppelt. Seine Blickrichtung gilt von Anfang an dem Differenten, den beweglichen Geschehenskomplexen, den situativ wechselnden Konstellationen im Hinblick auf die Autorschaft pluraler Erkenntnis und Machtäußerungen. Wenn sein Denken dennoch darum ringt, irgendwo Halt finden zu müssen, dann findet er diesen Halt allenfalls in sozusagen ‘frei-schwebenden’, ‘verflüssigten’ Relationen. Alles ist letztlich aufgehoben im reflexiv-zirkulären Kreisgeschehen, im Kreislauf ewiger Wiederholung.

 

2. Theodor W. Adorno – Vorbemerkungen zu seiner Philosophie

Mit der Zielsetzung dieses Kapitels, einige Grundzüge im Denken Theodor Adornos offenzulegen, begegnen wir einer grundsätzlichen Schwierigkeit. Denn wollte man Adornos Denken zusammenfassend referieren, zentrale Begrifflichkeiten herausarbeiten oder den gedanklichen Mittelpunkt seiner Philosophie fixieren, dann würde man genau das tun, wogegen sich Adorno immer gewehrt hat, nämlich das Denken in gewaltsamer Zurichtung auf Begriffe, Kategorien und Strukturgitter hin festlegen, und damit seine grundlegend offene Bewegung abschneiden und verstümmeln. Philosophie, so sagt Adorno, "hätte sich nicht auf Kategorien zu bringen, sondern im gewissen Sinne erst zu komponieren. Sie muß in ihrem Fortgang unablässig sich erneuern aus der eigenen Kraft ebenso wie aus der Reibung mit dem, woran sie sich mißt."

Wenn wir dennoch Adornos Philosophie in einer zwangsläufig sehr ausschnitthaften Betrachtung als eigene Thematik behandeln wollen, dann geschieht dies unter folgender Voraussetzung: Wir sehen unsere Ausführungen nicht als Referat über Adorno, sondern als persönlichen Versuch, sein philosophisches Denken zu durchdringen und von Innen her verstehen zu lernen. Dabei wollen wir vermeiden, die Betrachtungen in ein starres Argumentationsschema zu gießen, mit dem wir Adorno sozusagen ‘habhaft’ werden könnten, sondern verstehen unsere Arbeit als den Prozeß einer kreisenden gedanklichen Bewegung, mit der die ansatzhaften Konturen eines philosophischen Gewebes hervortreten können; insofern ist die Gliederung dieses Kapitels betont rudimentär angelegt.

Adornos Philosophie, und darin zeigt sich eine zweite Schwierigkeit, ist, wie Rüdiger Bubner hervorhebt, "ein Spiegelkabinett der Reflexe vertrauter Positionen", d.h. sie ist in dem Werk, das wir hier zugrundelegen, nichts anderes als eine Auseinandersetzung mit der Philosophie Kants, Hegels und Marx. Wir stoßen mit unserer Aufgabe also direkt in fundamentale, breit angelegte philosophische Theorieentwürfe vor, die hier nicht einzeln dargelegt werden können, andererseits in ihren Grundzügen vorgestellt werden müßten, damit die eigentliche philosophische Stoßrichtung Adornos in ihrem besonderen Profil hervortreten kann. Wir gehen einen pragmatischen Weg, der sich darum bemüht, Querverweise an zentralen Stellen zumindest anzudeuten. Es versteht sich von selbst, daß im hier gesetzten Rahmen eine reflektierte Behandlung unseres Themas unmöglich ist; wir wollen allerdings versuchen zu verstehen, warum Adorno vom Inneren seiner Philosophie heraus zum Moment des "Nichtidentischen" vorstößt. Gerade weil uns im Hinblick auf das ‘bodenlose’ Denken das Moment des "Nichtidentischen" in besonderer Weise interessiert, legen wir hier Adornos Werk "Negative Dialektik" zugrunde.

 

2.1. Fortführung des differenztheoretisches Denkens mit der Kategorie des "Nichtidentischen"

Friedrich Nietzsches vehemente Kritik am identifizierenden Denken wird von Theodor Adorno radikalisiert. Aus dem Naturzusammenhang heraustretend, so Adorno, tritt das Subjekt mit dem Instrumentarium abstrakter Zeichen und Begriffe der gegenständlichen Welt in Distanz gegenüber und drückt ihr den Stempel der Identität auf: "Befriedigt schiebt begriffliche Ordnung sich vor das, was Denken begreifen will." Der immanente Anspruch jedes Begriffs, so sagt Adorno, "ist seine Ordnung schaffende Invarianz gegenüber dem Wechsel des unter ihm Befaßten." D.h., das Besondere, Individuelle und Zufällige der gegenständlichen Welt, die "zwangfreie Sichselbstgleichheit der Dinge" wird durch das zurüstende, objektivierende und systembildende Denken der allgemeinen Begriffe weggeschnitten. Der Objektbereich, so Adorno, wird gleichsam als etwas Festes und Beständiges vereinnahmt, er beginnt zu erstarren und reduziert sich auf das Maß seiner totalitären Verfügbarkeit. Im Hintergrund dieses Denkens sieht Adorno das Ideal der Logik, d.h. das Ideal eines Denkens, das nicht ruhen kann, bevor es nicht ein absolutes Erstes, ein letztes Prinzip alles Seienden begründet hat - an der "unangreifbaren Lückenlosigkeit, Geschlossenheit und Akribie des Denkprodukts darf sich kein Zweifel regen." Ein solches Denken ist für Adorno zutiefst widersprüchlich, denn es suggeriert die Identität von Begriff und Sache, die es so niemals gibt. D.h. die hier unterstellte Äquivalenz wird als höchste Errungenschaft ausgegeben, obwohl sie durchweg scheinhaft ist. Identität ist für Adorno demnach die Urform von Ideologie, "sie wird als Adäquanz an die darin unterdrückte Sache genossen." Die Verblendung des identifizierenden Denkens liegt für Adorno darin, daß es sich autark fühlt, und in dieser vermeintlichen Autarkie verurteilt es sich selbst zur Leere und zur Dummheit und verhindert damit bereits am Anfang, was wahre Aufklärung bedeuten könnte.

Adorno sieht die Hybris dieses Denkens nicht nur auf der innerbegrifflichen Ebene, sondern sozusagen spiegelbildlich auch auf der Ebene der Gesellschaft; beide Ebenen verschränken sich. "Die Herrschaft in der Sphäre des Begriffs", so Adorno, "erhebt sich auf dem Fundament der Herrschaft in der Wirklichkeit." Der Mensch hat seine eigene Naturhaftigkeit ausgeblendet und den Anspruch absolut gesetzt, Materie zu beherrschen. Mit jedem Schritt, mit dem die Menschen aus der Natur heraustreten und ihre Macht vermehren, verkürzen sie ihr Handeln auf reine Instrumentalität. Im mathematisch-kalkulatorischen Umgang mit den Objekten der gegenständlichen Welt, in der analytischen Methode, in der Objektivierung der Realität auf ein synthetisches Netzwerk funktionaler (und experimentell erforschbarer) Relationen, zeigt sich der Reduktionismus einer verdinglichenden Rationalität.

Jene Rationalität, die ehedem als der große Stolz der Zivilisation gefeiert wurde, trägt in Wahrheit die Grundzüge eines mythischen Wahns, eines zynischen Verblendungszusammenhangs; denn die Vernunft, die zur fehler- und inhaltslosen Verfahrensweise reduziert wurde, hat sich als rein instrumentelle Vernunft verabsolutiert. Dadurch, daß alle Objekte der Realität von ihrer zurichtenden Apparatur umstellt, verdinglicht und vereinnahmt wurden, ist Vernunft, wie Adorno sagt, verkommen zur zwecklosen Zweckmäßigkeit, die sich für alle Zwecke einspannen läßt; sie ist positivistisch geworden. Es wird nunmehr sinnlos, den Vorrang eines Ziels gegenüber einem anderen unter dem Aspekt der Vernunft zu diskutieren; sie hat ihrer eigentlichen Verwirklichung entsagt und damit den ganzen Anspruch auf Erkenntnis preisgegeben. Sie schlägt in Mythologie zurück, der sie nie zu entrinnen wußte.

An dieser Stelle ist festzuhalten, daß wir Adorno nur verstehen können, wenn wir das identifizierende Denken aufs Engste mit den Anmaßungen instrumenteller Weltbeherrschung zusammensehen. Dieser Grundzusammenhang durchzieht sein gesamtes Denken und wird in vielfältigen Formulierungen auf den Punkt gebracht: Begriffe, so Adorno, sind "Momente der Realität", Denken ist "ein Stück Dasein", "Begriff und Realität sind des gleichen widerspruchsvollen Wesens." Was die Gesellschaft antagonistisch zerreißt, so sagt er an anderer Stelle, "das herrschaftliche Prinzip, ist dasselbe, das, vergeistigt, die Differenz zwischen dem Begriff und dem ihm Unterworfenen zeitigt."

Durch das Voranschreiten der identitätslogischen Vernunft wurde jedoch nicht nur das Denken pervertiert und die Natur entseelt, sondern auch die geistige Natur der Menschen verdinglicht, ihre Subjektivität verstümmelt. Diejenigen, die sich als Subjekt des Rationalisierungsprozesses begreifen konnten, sind dabei selbst zum Objekt geworden. Mit jedem Schritt, so sagt Adorno in der "Dialektik der Aufklärung", "mit dem die Menschen ihre Macht vermehren, werden sie zugleich in die Gewalt des Systems hineingezogen und bezahlen die Vermehrung ihrer Macht mit der Entfremdung von dem, worüber sie Macht ausüben." D.h. die zum Prinzip erhobene Selbsterhaltung des Subjekts, um dessentwillen Naturbeherrschung betrieben wird, fällt der einmal installierten Herrschaft instrumenteller Rationalität selbst zum Opfer. Die ursprünglich lebendige, individuelle Subjektivität wird in ihrer inneren Natur unterdrückt. Übrig bleibt das fortschreitend disziplinierte, beherrschte und standardisierte Subjekt. Sein Maßstab, so Adorno, ist "seine gelungene oder mißlungene Angleichung an die Objektivität seiner Funktionen und die Muster, die ihm gesetzt sind."

Im Subjektwerden der Menschen ist auf eine dialektisch verhexte Weise bereits die Zerstörung des Selbst, die Abschaffung des Menschen angelegt. Die durch instrumentelle Rationalität errichtete Herrschaft, so lautet die Konsequenz Adornos, markiert also generell den unausweichlichen Zwangscharakter einer sich selbst entfremdeten Gesellschaft.

Soweit der sehr verkürzt vorgetragene Gedanke seiner Kritik. Einfach gesagt fragt Adorno nun danach, wie es zu dieser von ihm kritisierten Entwicklung kommen konnte. Er wird insofern fündig, als er gleichsam hinter dem Identitätsprinzip, das ihm als "Brandmal der Gattung" (Helga Gripp) gilt, erkenntnistheoretische Ausgangspunkte oder Grundentscheidungen erkennt, die in einer nachhaltigen Weise für jene ‘Fehlentwicklungen’ verantwortlich sind. Adorno meint die erkenntnistheoretische Verhältnisbestimmung von Subjekt und Objekt, die in der Tradition bestimmend ist. Adorno zeigt auf, wie dort dieses Verhältnis aufgefaßt wurde, trägt seine Kritik an dieses Verständnis heran und entwirft hierauf aufbauend seine eigene philosophische Ausgangssituation, mit der er das traditionelle Denken überschreiten (und überwinden) will.

Adorno blickt zunächst auf Immanuel Kant. Bei Kant, so sagt er, stehen sich Subjekt und Objekt starr gegenüber. Die Kluft zwischen beiden wird als ontologisch gegeben betrachtet. Um das Problem des Erkenntnisperspektivismus zu lösen, d.h. objektive Erkenntnis begründen zu können, betreibt Kant eine Analyse von Subjektivität und entdeckt in dem Subjekt a priori vorgegebene transzendentale Strukturen, auf denen gleichsam aufruhend das reine Denken die Gegenstände an sich erfassen kann. Gegenüber Kant macht Adorno mehrere Einwände geltend: Objektivität, so sagt er, wird hier letztlich aufs Subjekt zurückgeführt und zugleich transzendental überhöht. Wenn Kant Gegenstände unterscheidet, wie sie an sich sind und wie sie für uns erscheinen, dann ist das für Adorno insofern nicht akzeptabel, da die Menschen das ‘Gehäuse’ ihrer Subjektivität niemals abzuschütteln vermögen. Denn jeder Wahrnehmungsakt, so Adorno, ist als Produkt des Geistes mit einer kategorialen Leistung (einer Abstraktionsleistung) verbunden, die auf einer noch so rudimentären begrifflichen Struktur basiert. Jedes Denken ist gleichsam ‘verfilzt’ oder infiziert mit den historisch-empirischen entstandenen Strukturen wie z.B. den jeweils herrschenden gesellschaftsgeschichtlichen Umständen. Der materialistische Aspekt des Denkens, von dem wir oben bereits gesprochen haben, begegnet uns jetzt erneut, .".. daß in ihm, der allgemeinen und notwendigen Tätigkeit des Geistes, unabdingbar gesellschaftliche Arbeit sich birgt." Die Kluft von Subjekt und Objekt, so lautet ein weiterer Kritikpunkt gegenüber Kant, ist keine naturgegebene, prinzipiell unüberwindbare Spaltung, sondern durch die Nötigung zur Selbsterhaltung vom Menschen (geschichtlich) selbst aufgerichtet worden, d.h. sie kann grundsätzlich in irgendeiner Weise überschritten werden (vgl. den Gedanken der Versöhnung, des "friedvollen Dialogs"). Adornos entscheidende Kritik an Kant lautet jedoch, daß Objektivität nicht in Subjektivität aufgehen dürfe. Er will dagegen die umgekehrte Perspektive in den Vordergrund stellen. Bevor wir untersuchen, was er damit meint, und welche Argumente er vorbringt, wollen wir in einem kurzen Überblick seiner Kritik an Hegel folgen.

Auf den ersten Blick entdeckt Adorno in der Philosophie Hegels einen gangbaren Weg; denn Hegel begreift den Widerspruch als die treibende Kraft menschlicher Erkenntnis. Widersprüche, so Hegel, sind der Erkenntnis nicht äußerlich, sondern wohnen ihr inne. Die Differenz von Subjekt und Objekt manifestiert sich in jeder Einzelbestimmung immer wieder aufs neue und zwar in widerstreitender, stets wechselnder Gestalt. Sie ist immer neu zu ‘leisten’, d.h. generiert aus sich selbst heraus eine dialektische Bewegung, in der sich die Differenz von Subjekt und Objekt ständig korrigiert, verdichtet und über sich hinauswachsen kann. Die Gemeinsamkeiten Adornos mit Hegel enden allerdings schnell, denn die dialektische Bewegung als umfassendstes Erklärungsprinzip ist in der Hegelschen Philosophie in einem Absoluten aufgehoben. Der absolute Geist wird von Hegel vorausgesetzt. Indem das Bewußtsein auf sich selbst reflektiert, werden die formalen Bestimmungen des menschlichen Verstandes objektiviert. D.h. wenn sich der erkennde Geist (im menschlichen Bewußtsein) durch die Stufenform seiner individuellen Kultivierung zum vollendeten philosophischen Denken heraufgearbeitet, d.h. den vollendeten Zustand des Bei-sich-Seins erreicht hat, fallen Subjekt und Objekt letztlich zusammen. In der Totalität, d.h. in der letzten Stufe der ausgeführten und sich überschreitenden Bewegung des Geistes gehen sie ineinander auf. Hier ereignet sich die höchste und endgültige Form der Versöhnung; in allem objektiven Anderen erfaßt das Subjekt sich selbst.

Wenn Hegel gegenüber Kant betont, die Versöhnung von erkennendem Subjekt und Erkenntnisobjekt geleistet zu haben, dann ruht sein Unternehmen praktisch auf den Prinzipien der Logik, in denen die Gedankenbewegung zur Totalität (zum System) geschlossen wird. Geist und Realität können deshalb als verwirklichte Einheit das Wahre sein, weil "Subjekt und Objekt nichts anderes sind als Begriffe für die Entzweiungen des ursprünglich einen Ganzen, die über die Bewegung des Wissens wieder zu dem werden, was sie ursprünglich sind; Eins und das heißt Geist." Nur die Philosophie als geschlossenes System kann diese Wahrheit erfassen.

Soweit Hegel, und damit beginnen Adornos Einwände: Diese Dialektik, so lautet seine Kritik, ist nicht die, die sie am Anfang zu sein beansprucht. "Was das Besondere zum dialektischen Anstoß macht, seine Unauflöslichkeit im Oberbegriff, das handelt sie als universalen Sachverhalt ab, wie wenn das Besondere selbst sein eigener Oberbegriff wäre und dadurch unauflöslich." D.h. die Dialektik Hegels erweist sich letztlich als geschlossen, affirmativ und idealistisch, hat die dialektische Spannung nicht wirklich durchgehalten, sondern auf den absoluten Geist hin verklärt. Das Hegelsche System, so Adorno, "war nicht in sich wahrhaft ein Werdendes, sondern implizit in jeder Einzelbestimmung bereits vorgedacht." Die Rückkehr "des Resultats der Bewegung in ihrem Beginn annulliert es tödlich: dadurch sollte die Identität von Subjekt und Objekt fugenlos sich herstellen." Hegels Reduktion auf die allgemeinen Begriffe, so Adorno, hat bereits schon vorweg deren (echtes) Widerspiel ausgemerzt, "jenes Konkrete, das idealistische Dialektik in sich zu tragen und zu entfalten sich rühmt. Der Geist gewinnt seine Schlacht gegenüber dem nicht vorhandenen Feind." Adorno will damit zum Ausdruck bringen, daß Hegel in seiner Parteilichkeit für die Einheit vor einer wahren "Dialektik des Besonderen" zurückgeschreckt ist und die dialektische Spannung zu einem Pol hin aufgelöst hat, zu dem des Allgemeinen, der mit Subjektivität zusammenfällt. Eine solche eingebaute Sicherung, so sagt Adorno, verurteilt Hegels Dialektik zur Unwahrheit. Hier hat sich das subjektivistische System rücksichtslos über das Objekt hinweggesetzt und zwar so, daß hierbei die absolute Kontingenz individueller Erfahrung getilgt ist. "Nach strategischem Bedürfnis traktiert (Hegel, S.F.) das Individuum, als wäre es das Unmittelbare, dessen Schein er selbst zerstört."

Mit der Erhöhung des Subjekts ins Absolute konnte die Hegelsche Dialektik ihren Abschluß finden – damit ist aber auch der Hegelsche Vermittlungsversuch zwischen Subjekt und Objekt für Adorno mißlungen. Dies wird erkennbar am eigentümlichen Doppelcharakter der Kategorien Hegelscher Logik: "sie sind entsprungene, sich aufhebende und zugleich a priorische, invariante Strukturen."

Wir halten fest: Ebenso wie Kant ist also auch Hegel (wie die gesamte Tradition) parteiisch für die Einheit. Was setzt Adorno dagegen? Mit der Beantwortung dieser Frage berühren wir nun den Kern unseres Anliegens, das im Zentrum dieses Kapitels steht, nämlich die bodenlose und entwurzelte Struktur im Denken Theodor Adornos nachzuweisen. "Der Begriff Geist", so Helga Gripp, "ist für Adorno ein rein funktioneller Begriff, der aus denkstrategischen Gründen resultiert." D.h. Adorno interessiert sich nicht dafür, was die Tradition als hevorragendste Eigenschaften des Geistes angesehen hat, indem sie z.B. von einem transzendentalen Bewußtsein oder vom absoluten Ich gesprochen hat. Adorno will dagegen, wie er sagt, die "Pedanterien aller Systeme und architektonischen Umständlichkeiten Kants" hinter sich lassen und sein Interesse, plakativ ausgedrückt, auf den ‘Zwischenraum’ der Differenz von Subjekt und Objekt richten, auf den Imperativ des Tätigseins, der sich aus dieser Kluft ergibt. Adorno rückt den Aspekt einer (nun wahrhaft echten) Bewegung und Durchführung in den Mittelpunkt. Philosophisches Ideal wäre, daß Rechenschaft über das, was man tut, überflüssig wird, indem man es tut. Adorno will die Dialektik als Erkenntnismodus nichtidealistisch begründen, d.h. versuchen, "der Inadäquanz von Gedanke und Sache nachzugehen; sie an der Sache zu erfahren." Mit diesem Satz stehen wir bereits mitten im dialektischen Denken Adornos und wir wollen mit Blick auf unsere These ‚bodenlosen‘ Denkens zumindest in Andeutungen skizzieren, worum es geht. Um die dynamische Struktur der Dialektik genauer erfassen zu können, müssen die beiden Pole von Subjekt und Objekt etwas näher betrachtet werden.

Subjektivität, so lautet die Forderung Adornos, muß sich selbst kritisch durchschauen und wird sich dabei als eines ihrerseits Vermittelten bewußt werden. Wenn Adorno sagt, Subjekt sei nie ganz Subjekt, dann meint er damit, daß das Subjekt immer durch die Welt vermittelt ist, in der es lebt, daß das Denken – wie bereits erwähnt – immer an die Objektivität der Bedingungen von Natur und Gesellschaft gebunden bleibt, daher also nie ein reiner subjektiv gesetzter Sinn sein kann: "Von Objektivität ist hergenommen, daß Subjekt sei; das leiht diesem selber etwas von Objektivität." Gegenüber der Tradition betont Adorno also, daß die Erkenntnisstrukturen der Subjektivität nicht als gleichsam abgehoben-autark oder steril betrachtet werden können, sondern selbst gewordene Strukturen sind und je selbstherrlicher das Ich übers Seiende sich aufschwingt, "desto mehr wird es unvermerkt zum Objekt und widerruft ironisch seine konstitutive Rolle." Als entstandene, so sagt Helga Gripp anschaulich, bleibt alle Subjektivität gleichsam "wie an der Nabelschnur" mit demjenigen, woraus sie geworden ist (Natur) verbunden. Umgekehrt betrachtet kann Objektivität nie unmittelbar, sondern immer nur als Gedachte in unser Bewußtsein kommen. D.h. durch seine von den Subjekten her vorgenommene Bestimmung wird das Objekt überhaupt erst zu etwas. Wir können es so ausdrücken, daß es kein Seiendes gibt, das ohne den Begriff (d.h. ohne die subjektive Bestimmung) vermittelt wäre, insofern kann Adorno sagen: "Objekt ist nie ganz Objekt." Gegenüber der Tradition stellt Adorno nun heraus, daß die polare Spannung von Subjekt und Objekt nicht (wie ehedem geschehen) zu einer Seite hin aufgelöst werden darf; in ihr, so sagt er, gibt es kein Erstes! Bewußtsein und Gegenstand, Begriff und Seiendes setzen sich in Wahrheit wechselseitig voraus, d.h. sie hängen wechselseitig voneinander ab, müssen als durcheinander vermittelt gesehen werden. Und in dieser Vermitteltheit sind beide Pole eben nicht (wie in der Tradition) "aus einem Dritten herausgestückt", das etwas transzendental oder in einer sonstwie ‘reinen’ Qualität zu denken wäre. Selbst wenn Adorno in der Spannung dieser Pole vom "Vorrang des Objekts" spricht (dessen Zusammenhänge wir jetzt voraussetzen), dann bedeutet das nicht den Abbruch dieser Spannung. Entscheidend für unsere Fragestellung ist nun, daß sich Adorno mit diesem erkenntnistheoretischen ‘Umschalten’ von jeder sozusagen ‘verläßlichen Statik’ verabschiedet hat. Wenn wir oben etwas hilflos davon gesprochen haben, Adorno interessiere sich für den Zwischenraum von Subjekt und Objekt, dann ist also damit gemeint, daß die innere Verflechtung von Denken und Sein immer wieder aufs Neue im wahrsten Sinne des Wortes ausgetragen werden muß, d.h. sie kann man nicht besitzen, sondern erlebt sie als Imperativ zum Tätigsein. Die Vermitteltheit, darauf legt Adorno Wert, ist nicht etwa eine positive Aussage über das Sein, sondern eine Anweisung für die Erkenntnis, sich nicht bei irgendeiner Positivität zu beruhigen. Jegliche Akte der Bestimmungen bewegen sich zwangsläufig "im Medium der unvollendeten (Hervorhebung von mir, S.F.) Übereinstimmung von Subjektivität und Objektivität, also im Medium des Widerspruchs." Dieser Widerspruch, darauf kommt es Adorno an, bleibt als Spannung erhalten. Erkenntnis darf daher niemals das "Phantasma eines Ganzen" produzieren, sie hat "keinen ihrer Gegenstände ganz inne."

Wir stehen jetzt unmittelbar vor zwei zentralen Begriffen des philosophischen Denkens Adornos: Nichtidentität und Dialektik. In der gedanklichen Entfaltung dieser Zusammenhänge wird erlebbar, in welcher Weise Adorno darum ringt, das Denken einerseits abzusichern, andererseits aber nicht festzulegen, Erkenntnis einerseits ‘adäquater’ oder fundierter anzulegen, andererseits ihre prinzipielle Offenheit gegenüber einer anderen Möglichkeit (des Erkennens) niemals aus den Augen zu verlieren. Obwohl sein Denken "Identisches beargwöhnt", so will Adorno doch Verbindlichkeit und ruft sich sozusagen im selben Moment wieder zurück: Bodenloses Denken, das es sich nicht einfach macht, das den Anspruch erhebt, sich aus sich selbst heraus zu begründen. Adornos Idee einer veränderten Erkenntnistheorie bestände darin, "des Ähnlichen innezuwerden, indem sie es als das ihr Unähnliche bestimmt." Anders gesagt müßte man versuchen, der "Sichselbstgleichheit der Objekte" nahezukommen, ohne dieses in das Gehäuse subjektiver Identität zu pressen. D.h. die Nichtidentität von Begriff und Sache rückt in den Vordergrund. Es widerspräche dem Denken Adornos diametral, das Nichtidentische hier näher definieren zu wollen. Die Metapher, so Helga Gripp, steht eher für den Versuch, "ein Denken an der Grenze der Identitätslogik zumindest mittelbar zu machen", insofern wollen wir die strukturelle Offenheit dieses Begriffs achten und seinen möglichen Inhalt behutsam einkreisen.

Das Nichtidentische markiert offensichtlich die Differenz zwischen Begriff und Sache. Hier liegt das (stets) verborgene Wahre in aller Offenheit. Das noch verborgene Wahre ist das noch Unterdrückte, das nur hervorkommen kann, wenn es als Aufgabe begriffen wird. "Nichtidentität", so Adorno, "ist keine Idee, aber ein Zugehängtes. Das erfahrende Subjekt arbeitet darauf hin, in ihr zu verschwinden." Schöner kann nicht ausgedrückt werden, daß das Subjekt eben keinem Objekt mehr in statischer Weise gegenübersteht, sondern beide Pole in ihrer Spannung bestehen bleiben wie zugleich durch ihre Vermittlung ineinander verschwinden und sich darin gegenseitig bereichern. Bewährt sich die Wendung zum Nichtidentischen allein, wie Adorno sagt, "in der Durchführung" (dieses Bereicherungs-Prozesses), so übernimmt Dialektik die mächtige Aufgabe, jene Vermittlungen zu reflektieren. Dialektik ist im Sinne Adornos das konsequenteste Bewußtsein von Nichtidentität. Dialektik bezieht nicht vorweg einen Standpunkt, "zu ihr treibt den Gedanken seine unvermeintliche Insuffizienz, seine Schuld an dem, was er denkt." In unendlichen Variationen entfaltet Adorno die Aufgabe der Dialektik als Versuch, das rhetorische Moment kritisch zu retten: "Sache und Ausdruck bis zur Indifferenz einander zu nähern." Entäußerte wirklich der Gedanke sich an die Sache, so sagt Adorno und er meint damit die einzig angemessene Form des Vorgehens, "dann begänne das Objekt unter dem verweilenden Blick des Gedankens selbst zu reden." D.h. Dialektik neigt sich dem Inhalt zu "als dem offenen, nicht vom Gerüst vorentschiedenen." Jeder Begriff erschöpft sich nicht in sich selbst, sondern ist bestimmt durch das, was außer ihm ist. Indem sich der Begriff in dieser Weise als mit sich unidentisch erfährt, führt er, "nicht länger bloß er selber, auf sein (nach Hegelscher Terminologie, S.F.) Anderes, ohne es aufzusaugen." Adorno will also verhindern, daß Dinge positiv hypostasiert werden und fordert statt dessen eine Versenkung ins Einzelne: "Was in den Gegenständen selbst wartet, bedarf des Eingriffs, um zu sprechen." Adorno will also gleichsam aus dem Konkreten, Einzelnen und Zufälligen heraus philosophieren. Eine Sache zu begreifen bedeutet also nicht, sie irgendwie einzupassen, sondern sie auf einen Bezugsrahmen anzutragen, in dem das Einzelmoment in seinem immanenten Zusammenhang mit anderem gewahrt wird und aus diesem Kontext heraus zur freien Artikulation gelangen kann. Eine solche philosophische Reflexion versichert sich des Nichtbegrifflichen im Begriff. Gerade weil Adorno die Durchführung seiner Dialektik in enormer Dichte vorstellt, und seine prägnanten Formulierungen immer wieder aufs neue variiert, können wir hier sehr schnell der Versuchung erliegen, die Dialektik in den Mittelpunkt dieser Arbeit zu stellen. Weil wir aber noch andere – nicht minder aufwendige – Untersuchungen vor uns haben, brechen wir an dieser Stelle ab und fassen zusammen:

Ausgangspunkt ist die Überzeugung Adornos, daß ohne Identifikation nicht gedacht werden kann. Dennoch kann sich das Denken in der Selbstreflexion überschreiten und das Identitätsprinzip in seinen bedenklichen Konsequenzen durchschauen. Adorno will nichts anderes als den Versuch, die Richtung der Begrifflichkeit zu ändern, sie dem Nichtidentischen zuzukehren. D.h. er versucht also aus dem Bann der Identifikation herauszufinden, wenngleich er zugestehen muß, daß er ihm noch nicht entronnen ist. Was Adorno mit diesem Zugang sozusagen ‘freilegt’ ist das Einzelne, das Besondere, das von den Begriffen Unterdrückte; Dialektik ist insofern "die Logik des Zerfalls der vergegenständlichten Gestalt der Begriffe." In der Konsequenz darf sich das Denken niemals auf Thesen, Positionen oder Kategorien reduzieren, sondern muß sich komponieren. Im Mittelpunkt steht also das Denken als offene, unabgeschlossene Fragefigur, befreit von jeglichem Hang zur Affirmation. Wahrheit, so stellt Helga Gripp anschaulich heraus, wird hier "zum Kraftfeld." Dialektik, die sich in diesem Kraftfeld gleichsam dynamisch bewähren muß, darf sich nun ihrerseits wiederum nicht als freischwebende (erneut) verabsolutieren. Die mutige Lossagung des Denkens von einem Ersten und Festen muß ausgehalten werden, das geforderte Denken muß das Selbstbewußtsein seiner eigenen Unzulänglichkeit in sich aufnehmen und bewahren, gleichsam "in einer letzten Bewegung noch gegen sich selbst kehren." Die Bodenlosigkeit dieses Denkens liegt also darin, daß es sich in sozusagen verflüssigten Strukturen immer wieder aufs Neue bewähren muß, niemals ruhen kann: Indem das Denken diese unermüdliche Bewegung vollzieht und – dadurch gestärkt – meint, schließlich etwas fixiert und benannt zu haben, muß es sich sofort wieder zurücknehmen und sich vergegenwärtigen, daß er nichts in Händen hält, weil die Dinge dennoch immer wieder anders zu ihm sprechen.

In dieser (immer noch viel zu plakativen) Skizze der Adornoschen Philosophie mußten zentrale Bestandteile ausgeklammert werden (die eigentlich nicht ausgeklammert werden dürften), wie z.B. der materialistische Aspekt der Dialektik, daß nämlich Dialektik nicht nur das Denken allein betrifft, sondern sich als durch und durch gesellschaftlicher Prozeß ereignet. Das Durchbrechen des Identitätsdenkens ist parallel zu sehen mit der Überschreitung des Tauschprinzips; denn in ihm, in der Totalität des gesellschaftlich organisierten Arbeitsprozesses zeigt sich in gleicher Weise die zu überwindende Ausdrucksform unterdrückender Herrschaft. Wir belassen es bei diesem Hinweis und wollen im Hinblick auf die Themenstellung dieses Kapitels abschließend versuchen zu erklären, was Adorno meint, wenn er gegenüber der Tradition kritisch herausstellt, Hegels Dialektik sei eine ohne Sprache.

 

2.2. Das Denken in "Konstellationen"

Im vorangegangenen Abschnitt haben wir zu zeigen versucht, daß das Denken Adornos von einem durch und durch paradoxen Anliegen bestimmt ist, nämlich von dem Versuch, die eigene Identität der Sache gegen ihre Identifikation zu denken. Obwohl Begriffe alles verfehlen, so sagt Adorno, brauchen wir sie trotzdem, denn "nur Begriffe können vollbringen, was der Begriff verhindert." Adorno kann das Paradoxon nicht auflösen. Obwohl es stehenbleiben soll, wie es ist, so muß es dennoch in irgendeiner Form gewissermaßen handhabbar gemacht werden, denn alles andere würde bedeuten, daß die Vermittlung von Subjekt und Objekt stillgelegt würde. Um dieses Problem (annähernd) zu lösen, schwebt Adorno vor, gleichsam in "Tendenzen" zu denken. D.h. das Es-sagen-wollen sieht er sozusagen als eine Gratwanderung zwischen Offenheit bzw. freier Experimentalität und dem Motiv, Verbindlichkeit herzustellen. Wie diese Gratwanderung auszusehen hat, erklärt er in seiner Negativen Dialektik sehr konkret: "Der bestimmbare Fehler aller Begriffe nötigt, andere herbeizuzitieren." Begriffe, so sagt Adorno an anderer Stelle, "müssen um die erkennende Sache sich versammeln." Hier wird also klar herausgestellt, daß es nicht darum geht, von den Einzelbegriffen aus in Stufenform zu einem allgemeinen Oberbegriff fortzuschreiten, sondern statt dessen gleichsam vorsichtig einkreisend zu denken, d.h. daß Begriffe in Konstellationen, Anordnungen und Verhältnisbestimmungen zueinandertreten und in dieser einkreisenden Bewegung versuchen, eine Sache zu treffen (und sie zugleich wieder loszulassen). Wenn wir also mit Begriffen zu tun haben, so Adorno, dann interessieren sie uns nur noch im Hinblick auf die Gestalt bzw. die Anordnung, die sie gemeinsam herstellen. Erkenntnis, so sagt Adorno, "hätte sich im eigentlichen Sinne erst zu komponieren" und er meint damit die offene Bewegung der sich gegenseitig bereichernden Begriffe, die sowohl behutsam als auch von innen her die eigenwillige Widersprüchlichkeit der Erkenntnisgegenstände (unter Einbeziehung subjektiver Dispositionen) ans Licht befördert und achtet. Nur so kann das Spezifische des Objekts belichtet werden, ohne ihm Gewalt anzutun. Durch die so hergestellte Dichte des begrifflichen Gewebes kann das gleichsam von außen her repräsentiert werden, "was der Begriff im Innern weggeschnitten hat, das Mehr, das er sein will, wie er es nicht sein kann." Uns wird es nicht gelingen, die Tiefe des philosophischen Anliegens Adornos, das er in vielen Bildern entfaltet (Rätsel, Schlüssel...) im engen Rahmen dieses Abschnitts hinreichend auszuleuchten. Wir müssen jedoch unbedingt hervorheben, daß in dem konstellationsverfaßten Denken Offenheit, Nichtidentität, Objektivität und Subjektivität zusammenfallen. D.h. Kompositionen im o.g. Sinne werden zwar subjektiv hervorgebracht, sind aber dort erst gelungen, wo die subjektive Produktion (wie Adorno an mehreren Stellen sagt) "in ihnen untergeht", weil sich der Erkenntnisgegenstand gleichsam in seinem eigenen Recht nach vorne geschoben hat. Vermittlung, so Hans Ernst Schiller, soll hervortreten als die "Immanente des Seienden", seine Verflochtenheit als die "Kohärenz des Nichtidentischen." Das Denken in Konstellationen will kein positives Denken sein. D.h. Adorno legt Wert auf die Feststellung, daß mit Kompositionen im o.g. Sinne nicht etwa aufs neue Affirmation (sozusagen durch die Hintertür) wieder eingeführt wird. Wird ein solches Denken konsequent durchgeführt, dann vermag zwar die entstandene Dichte des Gewebes durchaus dazu beitragen, daß der Gedanke das trifft, was er soll. Sich aber dann gleichsam zufrieden zurückzulegen, ginge an der hier gemeinten Sache vorbei. Denn gerade weil das Verfahren der Konstellation das Spezifische, Besondere und Einzelne belichtet und subjektive Dispositionen notwendigerweise einbeziehen muß, "oszilliert der Diskurs", wie Rüdiger Bubner treffend sagt "ständig zwischen Aussagen und ihrer Brechung hin und her." Jene konstitutive Unbestimmtheit hebt Adorno selbst hervor: "Gegens Risiko des Abgleitens ins Beliebige ist der offene Gedanke ungeschützt; nichts verbrieft ihm, ob er hinlänglich mit der Sache sich gesättigt hat, um jenes Risiko zu überstehen." Albrecht Wellmer beschreibt diesen Sachverhalt ähnlich, wenn er feststellt, Erkenntnis wirft, damit sie fruchte, sich weg an die Gegenstände; "der Schwindel, den das erregt, ist der Schock des Offenen (Hevorhebungen von mir, S.F.), die Negativität als welche es im Gedeckten und Immergleichen notwendig erscheint." Das Denken Adornos wird also nicht von der Sehnsucht des Affirmativen bestimmt, sondern von dem inneren Drang geleitet, das Risiko offenen Denkens, das Bewußtsein des eigenen Scheitern-Könnens auszuhalten.

Wir haben bisher etwas unpräzise, d.h. jeweils separat, von Begriffen und vom Denken gesprochen, - beides kommt zusammen in der Sprache. Denken und Sprache, so Adorno, sind aufeinander angewiesen, insofern kann die Konstellation immer nur sprachlich hergestellt werden. Ist Konstellation, wie wir zu zeigen versucht haben, der Umschlag des subjektiv Gedachten und Zusammengebrachten in Objektivität, dann, so betonen wir mit Helga Gripp, gelingt dies erst in der Sprache und vermöge der Sprache. D.h. zwischen den Polen Subjekt und Objekt ist "die konfigurative Sprache als dialektisch verschränkte und explikativ unauflösliche Einheit von Begriff und Sache also ‘ein Drittes’." Gerade, weil der Sprache hier diese (im wahrsten Sinne des Wortes) konstitutive Rolle zufällt, kann Adorno feststellen, Hegels Dialektik sei eine ohne Sprache, denn dort wird die (für Adorno zentrale) behutsame und konstruktive Kraft sprachlichen Ringens letztlich eingeebnet, neutralisiert und aufgehoben.

Wir fassen zusammen: Mit der Herausstellung sprachlich verfasster Konstellationen will Adorno konkretisieren, daß das Denken in der Tat die Kraft hat, den Schein von Identität aufzusprengen. Was im Vollzug dieses Aufsprengens freigelegt wird, ist das verborgene Wahre. Es ist zwar vorhanden, aber nicht direkt greifbar, zeigt sich nur gleichsam als Tendenz in den Versuchen der Vermittlung. Vermittlung kann sich nur ereignen, wenn die in den Sachen geronnene Geschichte mitbedacht wird. Adorno fordert "das Lesen des Seienden als Text seines Werdens." Ebenso muß das Denken seine eigene Genese erkennen, es darf sich nicht selbst auf den reinen kognitiven Diskurs reduzieren, sondern muß notwendig auch die sinnliche Erfahrung (das mimetische Moment) in sich hineinnehmen. Nur in ihr vermag sich die Objektivität frei zu artikulieren, kann sich sicher fühlen vor der Gewaltsamkeit begrifflicher Zurichtung. Es war gerade die Tragik der Aufklärung, so Adorno und Horkheimer, das mimetische Moment, das "gewaltlose sich-Anschmiegen ans Objekt", das angstfreie Eintauchen in den Bereich eigener Erfahrung verdrängt zu haben.

Auch wenn Adorno das Wahre immer als Aufgabe sieht und sich weigert, positive Aussagen zu machen, so hat er doch die Idee der Versöhnung: "Im Vorwurf, die Sache sei dem Begriff nicht identisch, lebt auch dessen Sehnsucht, er möge es werden." Die Entfaltung des Versöhnungsgedankens böte durchaus hinreichenden Stoff für eine eigene Arbeit. Wir schließen mit dem Hinweis, daß der Versöhnungsgedanke von Adorno gerade nicht als großes Ideal an die Wand gemalt wird, daß sich Adorno in dieser Frage vielmehr größte Zurückhaltung auferlegt, um nicht in den Sog des Affirmativen zu gelangen. Dialektik, so Adorno "dient der Versöhnung." Indem Dialektik betrieben wird, kann es vielleicht geschehen, daß sich das Nichtidentische ganz und frei zu zeigen vermag: "als Vielheit des Verschiedenen, über die (selbst, S.F.) Dialektik keine Macht mehr hätte."

 

2.3 Die Philosophie Adornos als Ausdruck ‘bodenlosen’ Denkens

Der Versuch Friedrich Nietzsches, das identifizierende Denken zu überwinden, eine Loslösung von der philosophischen Konzeption eines Absoluten zu erreichen, ist in der Einschätzung Adornos nur halbherzig bzw. kaum gelungen. Nietzsches Werk, so Adorno, "fließt über von Invektiven gegen die Metaphysik. Aber keine Formel beschreibt sie treuer als der Zarathustra." Auch Kant und Hegel hält Adorno vor, daß sie mit ihrer Kategorie der reinen Vernunft bzw. des absoluten Geistes einer metaphysischen Einheitskonzeption verhaftet geblieben sind. Adorno will sich hiervon lösen. Auch wenn er die Frage nach dem Sein des Seienden durchaus aufnimmt, so will er das, was sich dann als Sein in irgendeiner Form zu erkennen gibt, nicht auf ein transzendentales Moment zurückführen. Adornos unverkürzte Forderung lautet, den Sturz der metaphysischen Ideen zu ertragen, er betont die Relevanz des Innerweltlichen. Natursein als Prozeß wird zum eigentlichen Erkenntnisgegenstand der Philosophie. "Kein Absolutes ist anders auszudrücken als in den Stoffen der Immanenz, während doch weder dieser in ihrer Bedingtheit noch ihr totaler Inbegriff zu vergotten ist." Damit rückt die Bewegung materialistischer Dialektik (die wir bisher nur in einer Hinsicht betrachtet haben) in den Mittelpunkt. Metaphysik, so Adorno, ist nur möglich als "lesbare Konstellation von Seiendem", d.h. sofern Metaphysik in die Mikrologie der Konstellationen einwandert, erreicht sie den "Ort der Zuflucht vor der Totale". Von diesen Konstellationen empfinge die Metaphysik "den Stoff, ohne den sie nicht wäre, verklärte aber nicht das Denken ihrer Elemente, sondern brächte sie zu einer Konfiguration, in der die Elemente zusammentreten." ‘Bodenlos’ist das Denken Adornos deshalb, weil es die Paradoxie in der spannungsreichen dialektischen Bewegung bewußt offen hält. Darin geht Adorno tatsächlich einen Schritt über Nietzsche hinaus. Metaphysik, die die Erfahrung "schwer nehmen" und sich gegen das Abschlußhafte des Systems zur Wehr setzen muß, ist (und bleibt) nichts anderes als die paradoxe Anstrengung des begriffliche Denkens, das zu erretten, was es zugleich auflöst. Dialektik als Vollzug, so lautet das bekannte Adorno- Zitat, "ist das Selbstbewußtsein des objektiven Verblendungszusammenhangs, nicht bereits diesem entronnen." Adorno stößt also auf die Paradoxie, daß er keinen festen Standpunkt beziehen kann, sofern er seinem Denken treu bleiben will. Konsequent durchgehalten, verlöre die metaphysische Frage dann in der Tat ihren Boden.

Es wäre u.E. zu einfach und auch nicht im Sinne Adornos, hier abschließend auf den Gedanken der Versöhnung hinzuweisen oder die Frage zu stellen, inwiefern Adorno selbst der Gefahr erliegt, das Nichtidentische (erneut) zu idealisieren. In seinen Vorlesungen über Metaphysik vom Sommersemester 1965, deren Manuskritpe erst kürzlich in neuer Bearbeitung von Rolf Tiedemann herausgegeben wurden, stellt Adorno vielmehr in besonderer Weise heraus, metaphysisches Denken sei notwendig offenes Denken. Das Offene ist nur das, das auch enttäuscht werden kann, das falsch sein kann. "Es gibt keine metaphysische Erfahrung", so sagt er "für die nicht ihre Fehlbarkeit bestimmend wäre, die Möglichkeit, daß es gänzlich danebengeht." Insofern hat Adorno selbst ausgesprochen, was Gerhard Kaiser behauptet hat: "Adornos Dialektik ist eine Bewegung, die nirgends ankommt."

 

3. Niklas Luhmann: Vorbemerkungen zu seinem systemtheoretischen Denken

Die Systemtheorie Luhmanns ist eine rekursive Theorie. Das bedeutet: Wo immer man mit einer zwangsläufig linearen Betrachtung ‘einsteigt’, ist gleichzeitig Vieles vorauszusetzen, was andererseits nicht vorausgesetzt werden kann. In der Rezeption der Systemtheorie weisen einige Autoren deshalb ausdrücklich auf dieses Grundproblem eines ‘didaktisch überlegten Zugangs zu diesem Theoriekonzept’ hin und ziehen für sich die entsprechenden Konsequenzen.

Wir gehen in der hier vorliegenden Arbeit analog vor und spezifizieren zunächst das, was nicht gewollt ist: So wäre es nicht nur ‘ermüdend’, sondern auch unsinnig, die theorietragenden Begriffe sozusagen hintereinander ‘abzuarbeiten’, d.h. die Struktur der Theorie in rein rezeptiver Darstellung ‘nachzuerzählen’. Vielmehr geht es uns ausdrücklich darum, die Luhmannsche Theorie für jeweils teilspezifische Fragestellungen dieser Arbeit konkret in Dienst zu nehmen und dies im steten Wechsel jeweils ausschnitthafter Perspektiven, die dann evtl. durchaus in ihrer additiven Zusammenschau einen Einblick in die gesamte Theoriestruktur zu geben vermögen.

Um einen ersten Zugang zum systemtheoretischen Denken Niklas Luhmanns herzustellen, beginnen wir mit dem nachfolgenden Dialog, der die erkenntnistheoretischen Implikationen der Systemtheorie im Kontrast zum ontologisierenden Denken der Tradition herausarbeiten soll. Der Dialog wird eröffnet durch die Herausstellung der systemtheoretischen Kategorie der Bewegung. Damit knüpft er nahtlos an die philosophischen Grundprinzipien Friedrich Nietzsches und Theodor W. Adornos an. Aufbauend auf der Kategorie der Selbstreferentialität werden hier in einem zunächst sehr groben Zuschnitt fundamentale ‘Bausteine’ der Systemtheorie betrachtet. Der Dialog thematisiert das Grundschema der Beobachtung sowie die differentielle Struktur von Systemen im Hinblick auf den systemtheoretisch gefaßten Identitätsbegriff. Es ist dabei nahezu unmöglich, die systemtheoretische Sprache hinter sich zu lassen bzw. systemtheoretische Begriffe in die herkömmliche, vertraute Sprache direkt zu übersetzen. Auch wenn sich der nachfolgende Dialog zwangsläufig an der Sprache Luhmanns ‘festhalten’ muß, so verfolgen wir doch die Absicht, uns gedanklich ‘frei zu schwimmen’. D.h. wir wollen aufzeigen, aus welchen Gründen Luhmann eine erkenntnistheoretische Neukonzeption entwirft und worin ihr essentieller Gehalt besteht. In der Anlage der Argumentation stützen wir uns in erster Linie auf den Aufsatz "Identität – was oder wie?" in dem Band ‘Soziologische Aufklärung 5’. Als Hilfestellung dient uns das Werk von Helga Gripp-Hagelstange: "Niklas Luhmann. Eine erkenntnistheoretische Einführung." Im weiteren Verlauf des Dialogs kommen zentrale Kapitel aus den Bänden "Die Wissenschaft der Gesellschaft" und "Die Gesellschaft der Gesellschaft" zum Tragen. Die ontologisierende Argumentationsrichtung wird durch den kursiv gestellten Schrifttyp markiert.

Vor dem Hintergrund der rekursiven Theoriestruktur wird nochmals darauf hingewiesen, daß mit den nachfolgenden Kapiteln und Abschnitten nur jeweils gezielte Schwerpunkte abgehandelt werden, die die darüber hinaus implizierten konstitutiven Zusatzannahmen für einen Moment notgedrungen ausblenden müssen. Manches, was am Anfang recht ‘plakativ’ bleiben muß, gewinnt aus der nachfolgenden Betrachtung, d.h. aus der rückwärtsgerichteten Perspektive größere Klarheit. Wiederholungen sind u.E. kaum zu vermeiden, zumindest aber sind sie bewußt kontrolliert und dienen nur dazu, Querverweise herzustellen.

 

3.1. "Das Sein ist obsolet" – ein fiktiver Dialog zwischen dem ontologisierenden Denken der Tradition und dem differenztheoretischen Denken neuzeitlicher Systemtheorie

Gegenüber Deinem Denken will ich sozusagen voraussetzungslos beginnen. D.h., für mich gibt es keine unhinterfragbaren erkenntnistheoretischen Grundannahmen, keine ‘Entität’ als letztes substantielles Element. Vielmehr gehe ich von dem aus, was wirklich feststellbar ist und das sind reale empirisch beobachtbare Operationen sowie die Unbegrenztheit ihrer Bewegung. Die ‘Totalität der Bewegung’ ist für mich das einzige konstitutive Element, das es gibt, und zwar auf den Ebenen von Maschinen, des organischen Lebens, des Bewußtseins und auf der Ebene des Sozialen. Alles ‘Seiende’, das auf diesen Ebenen feststellbar ist, muß als konstitutiv hergestellt betrachtet werden; die Temporalisierung des Elementbegriffs wird von mir ganz ernst genommen. Konkret meine ich damit, daß sich Operationen durch Vernetzung, d.h. durch Rückbezug auf sich selbst halten. Es läuft ein Prozeß von Selbstorganisation ab, den ich mit "Selbstreferentialität" bezeichnet habe: Alles, was ist, ist ein kontinuierlich aneinander anschließendes, selbstreferentielles Operieren. Beispiel: Aus einem Gedanken entwickeln sich (immer) neue Gedanken. Genau diese Selbstreferentialität wird von mir "zu einer Seinsbeschreibung schlechthin generalisiert." In diesem Prozeß der selbstreferentiellen Bewegung muß eine Art von Dynamik entstehen, die dafür sorgt, daß nicht alles in unerbittlicher Bewegung stets um sich selbst kreist und damit folgenlos bleibt. Wir können es auch so ausdrücken, daß dieser Bewegungsprozess irgendwie angehalten werden muß, damit Strukturen entstehen bzw. ein ‘Etwas’ überhaupt hervortreten kann. Mit diesem formenden Moment, das die Unbegrenztheit der Bewegung unterbricht, meine ich die Operation der Unterscheidung. Schärfen wir jetzt den Blick für Deinen erkenntnistheoretischen Zugang zur Welt, indem wir mit einer extrem formalisierten Betrachtung beginnen: Du vollziehst eine empirisch beobachtbare Operation, indem Du eine Unterscheidung triffst und eine der beiden Seiten dieser Unterscheidung bezeichnest. D.h. ganz einfach, Du beziehst Dich auf etwas (nicht auf dies, sondern jenes), Du kreierst eine Referenz, und dieses Referieren wird zur Beobachtung, indem an das von Dir Bezeichnete (jetzt identifizierbare Moment) mit weiteren Operationen angeschlossen wird: Die Unterscheidung ist jetzt im eigentlichen Sinne benutzbar geworden.

Ich möchte...

Vielleicht darf ich noch kurz anfügen, was in diesem Geschehen noch zu beachten ist, denn die Unterscheidung, von der ich sprach, und die Bezeichnung hängen in besonderer Weise miteinander zusammen. Sie stehen in einem paradoxen Verhältnis zueinander. Sie sind einerseits zwei, als auch eine einzige Operation, sie sind sowohl gleichzeitig, als auch in einem vorher/ nachher-Verhältnis gegeben. Sehen wir uns das an:

Das, was in der Beobachtung erfolgt (das Unterscheiden und Bezeichnen) erfolgt bei Dir gerade nicht zeitlich versetzt, sondern wird de facto von Dir in einem Durchgang vollzogen, d.h. Du aktualisierst eine Zweiheit als Einheit in einem Zuge, denn was hätte es für einen Sinn, etwas zu bezeichnen, was man nicht unterscheiden kann bzw. was soll es darstellen, wenn das Unterscheiden unbestimmt bliebe und operativ nicht verwendet würde? Die Zwei-Seiten-Form der angesprochenen Unterscheidung, das will ich damit sagen, kommt als solche gar nicht zum Vorschein, sondern nur das, was als eine der beiden Seiten bezeichnet wird. Obwohl wir beide Operationen als Einheit vollziehen, dürfen wir sie allerdings nicht ‘vermischen’; denn die zwei Seiten der Unterscheidung sind als ‘eigene Realität’ zunächst einmal notwendig, damit überhaupt eine Seite bezeichnet werden kann. Du kannst Dir die Paradoxie auch dadurch deutlich machen, indem Du Dir klarmachst, daß Du für deine Operationen Zeit benötigst. D.h. obwohl beide Seiten der Unterscheidung gleichzeitig gegeben sind, kannst Du nicht auf beiden Seiten gleichzeitig operieren. D.h. die beiden Seiten der Unterscheidung sind sowohl gleichzeitig als auch in einem vorher/ nachher-Verhältnis gegeben. Die hier gegebene Form offenbart ein paradoxes Zeitverhältnis. Indem wir die Zweiheit (wie beschrieben) als Einheit vollziehen, wird ein durch und durch paradoxer Mechanismus auf einmal handbabbar. Ich kritisiere allerdings, daß wir uns in diesem Moment selbst etwas vormachen, weil wir diese paradoxe Struktur mit diesem Verfahren verschleiern und vertuschen. Darum gehe ich anders vor. Ich bin bereit, die Struktur in diesem Vorgang so stehen zu lassen, wie sie ist, nämlich widersprüchlich und paradox; genau das will ich als Ausgangspunkt akzeptieren und in aller Konsequenz aushalten.

Ich muß Dich sofort unterbrechen, weil ich überhaupt nicht weiß, warum Du mit einer solch abstrakten, formaltheoretischen Betrachtung anfängst. Was soll das Ganze?

Ich habe einen Mechanismus beschrieben, der von mir genauso vollzogen wird, wie von Dir, denn ohne Grenzziehung, ohne Unterscheidung und Bezeichnung gäbe es für uns nicht die Welt. Wir müssen es tun, damit für uns überhaupt etwas ‘Identisches’ entstehen kann; allerdings, und darauf will ich hinaus, hast Du Dich entschieden! Ausgangspunkt Deines Vorgehens ist die Unterscheidung Sein/ Nichtsein und alle anderen Unterscheidungen werden dieser von Dir sozusagen absolut gesetzten Ausgangsunterscheidung untergeordnet. In der weiteren Betrachtung fällt auf, daß Du Dich nur für die eine Seite der Unterscheidung interessierst. D.h. Du willst mit Hilfe dieser Unterscheidung nur das bezeichnen, was Du für Seiend hältst und läßt dabei die irritierende Gegenfigur des abstrakten Nichtseins außer Betracht. Und das wiederum fällt Dir um so leichter, als das Sein bei Dir indifferent ist gegenüber allen Formen, die es annehmen kann. Bei Dir steht unausgesprochen im Hintergrund, daß das ‘ist’, die Identität des Seienden, immer schon vorausgesetzt wird. Schauen wir uns den Prozeß der Erkenntnis an: Wenn alles, was gedacht wird, vor dem Hintergrund einer sozusagen ‘in sich ruhenden’ Existenzdimension verortet wird, dann ist das Denken lediglich das Nachzeichnen von etwas; d.h. es muß als Repräsentation des Seins begriffen werden. Denken und Sein bescheinigen sich hier sozusagen wechselseitig ihre Gleichförmigkeit. Deine Unterscheidung Sein/ Nichtsein, so habe ich kürzlich gesagt, "ist immer abhängig von einer vorgängigen operativen Trennung, nämlich von Beobachten und Beobachtetem." D.h. in Deinem Verständnis ist das Objekt (vom Subjekt aus gesehen) die andere Seite der Unterscheidung, die Dir als Form für die Zuschreibung von Identität dient. Was immer also in Deiner Sprache als Subjekt identifiziert wird, führt sozusagen automatisch zu entsprechenden Identitätskorrelaten in der Umwelt. Was ich mit diesen Anmerkungen sagen will, ist im Grunde etwas sehr Banales: Zu Deiner Logik gehört der Identitätssatz und im weiteren die Notwendigkeit, einen Grund dafür anzugeben, daß etwas ist und nicht nicht ist. Alles wird letztlich auf Einheit und Ganzheit zurückgeführt. Egal was Du tust, immer kannst Du das unveränderliche Sein als Weltrahmen voraussetzen und Dich mit dieser Sicherheit dem Geschehen der Welt zuwenden; gerade das entspannt Dich als Beobachter!

Ich möchte...

Vielleicht darf ich noch kurz begründen, warum ich Deinem Ansatz kritisch gegenüberstehe: Du hast sicher gemerkt, daß ich vom Nichtsein Deiner Unterscheidung zuletzt überhaupt nicht mehr gesprochen habe. Und dies wiederum ist kein Zufall, denn das Nichtsein wird von Dir völlig ausgeblendet. Einerseits brauchst Du das Nichtsein in Deiner Unterscheidung, nämlich sozusagen als ‘Wert’, um Deine Beobachtungen kontrollieren und Irrtümer entlarven zu können. Andererseits hast Du kein Realitätskorrelat des Negativen. D.h. Du erweckst mit Deiner Unterscheidung zwar den Eindruck, daß auf der Seite des Nichtseins auch etwas Unterscheidbares gegeben sei, wir beide wissen aber, daß das nicht der Fall ist. Was ist zum Beispiel, so habe ich einmal gefragt, "wenn man sich auf die andere Seite begeben würde, um von dort aus die Kontingenzen des Seins beobachten zu können?" Das Verbleiben in dem Zustand, der dann Nichtsein heißen würde, hat im Rahmen Deiner Reflexionsebene keinen Platz, weil es eine weitere Unterscheidung erfordern würde (die bei Dir nicht möglich ist).

D.h. wenn Du Aussagen über Dich selbst machen willst, kannst Du Dich als Beobachter immer nur auf der einen Seite des Schemas vorsehen. Das Nichtsein kann als Bezeichnung im Rahmen Deiner Unterscheidung quasi nur die Aufforderung bedeuten, zum Sein zurückzukehren; das Kreuzen der Grenze von Sein und Nichtsein und zurück, so habe ich einmal gesagt, "bringt keinen Zugewinn, es ist nichts anderes als ein Wiederauslöschen der Operation." Ich bemerke Deine Unruhe, die Dich dazu drängt, an dieser Stelle einzuhaken. Vielleicht darf ich nur noch ganz kurz auf die Implikationen eingehen, die in Deiner Denkgeste enthalten sind, genau diese Implikationen trennen uns beide! Wenn Du so vorgehst, wie ich sehr oberflächlich skizziert habe, dann hast Du natürlich das Riesenproblem, daß man zu verschiedenen Aussagen kommt, sofern man Gesagtes auf ein Seiendes bezieht. Deine Lösung dieses Problems, und das ist vorweg gesagt, meine Kritik, ist heute mehr als ineffektiv. Aber betrachten wir den Zusammenhang im einzelnen: Die Identität eines Objekts, dies ist bereits eben angeklungen, besteht für Dich darin, daß es allen Subjekten, die ihren Verstand recht gebrauchen, als dasselbe erscheint.

D.h. in Deiner Denkgeste handeln alle in der Annahme, daß sie in ein- und derselben Welt leben, und daß es darum geht, über diese Welt übereinstimmend zu berichten. D.h. bei Dir geht es immer um das Problem einer irgendwie zur Einheit aggregierbaren Mehrzahl von Subjekten und Vorstellungen. Und da es eben viele Menschen gibt, hast Du das Problem der Übereinstimmung und brauchst, wie ich vorhin sagte, ein Zeichen für unrichtige Erkenntnis, mit dem sich die Leute wechselseitig auf Irrtümer hinweisen können. Wenn sich mehrere Leute einer Norm gemeinsam zu erreichender Einsicht unterstellen, dann definieren sie dadurch, was für sie rationale Kommunikation ist. Werden ‘Irrtümer’ gesehen, dann verlangt man von den Trägern dieser Positionen die Korrektur ihrer (falschen) Meinungen oder man ist bereit, sein eigenes Urteil aufzugeben: es gibt also entweder Kritik oder Lernen. Beide hier beteiligten Parteien sind letztlich ein Opfer der Zweiwertigkeit ihres Instrumentariums (ihrer zentralen Leitunterscheidung). In dieser Weise, das ist meine tiefe Überzeugung, können wir zum Ende dieses Jahrhunderts nicht mehr denken. Dieser im Rahmen einer sehr strukturarmen Theorie eingelagerte Denkmodus wird der umfassenden Komplexität der heutigen Probleme nicht mehr gerecht. Du weißt doch selbst, wie es in unserer Gesellschaft aussieht; der eine sagt ja, der andere sagt nein, es gibt nur eine Welt der Diskurse und Gegendiskurse. Denke z.B. an die Ökologie-Debatte: Die Natur ist verstummt, die Beobachter streiten sich und das theoretische Defizit hinsichtlich der Lösung dieser Herausforderungen wird mit moralischem Eifer kompensiert, - das alles bringt überhaupt nichts mehr. Darum also ist für mich eine radikale Umstellung des bisherigen Denkmodus überfällig.

Vielleicht darf ich noch kurz ein weiteres Argument anführen, warum ich Deine Denkgeste mit einem differenzierteren Ansatz überschreiten will. Wir hatten ja eben von dem Beobachten gesprochen und dabei mußten einige Aspekte unberücksichtigt bleiben. Sehen wir uns das kurz noch mal an: Die Unterscheidung, die benutzt wird, um zu bezeichnen, ist für den Beobachter, der sie einsetzt, unsichtbar. Die Beobachtung, so hat das mal jemand anschaulich formuliert, "tut was sie tut und geht dabei gleichsam naiv und unreflektiert, d.h. in bezug auf die eigene Referenz unkritisch vor. Das Beobachten benutzt die eigene Unterscheidung als das, was es nicht sehen kann: als seinen blinden Fleck." Der Beobachter ist sozusagen unfähig, die sein Tun konstituierende Paradoxie, von der ich eben sprach, erfahren zu können. Wenn er weder den Anfang noch das Aufhören des Beobachtens beobachten kann, so weiß er letztlich nie, warum er erkennt, was er erkennt. Das von mir analysierte Grundschema, das ich Beobachtung erster Ordnung nenne, spiegelt letztlich nur die paradoxe Situation wider, daß wir, wie das mal jemand gesagt hat, in der Welt ewig eingeschlossen sind, - aber eigentlich aus ihr heraustreten müßten, wenn wir sie erkennen wollten. Denn das mußt Du Dir einfach sagen lassen: Dein Subjekt und sein Erkennen muß einerseits von der übrigen Welt getrennt werden, sich andererseits dennoch als Teil des Ganzen sehen, d.h., es muß zugleich innerhalb und außerhalb des Ganzen gedacht werden. Die paradoxe Situation, daß das Subjekt, das doch auch nur Natur ist, in Deiner Vorstellung zugleich mehr sein soll, sich gleichsam in der Position sieht, die Welt wie von außen betrachten zu können, - dieses Problem wirst Du mit Deinem Denkansatz nicht lösen können. Denn wenn...

Ich muß jetzt doch mal einschreiten. Du sagst die ganze Zeit, daß wir mit dem Schema Sein/ Nichtsein, mit der Kategorie des Konsenses, mit meiner Beobachtungsweise generell nicht weiterkommen und erschlägst mich fast mit diesen formaltheoretischen Betrachtungen. Ich muß jetzt noch einmal fragen, warum das alles so verkehrt sein soll und vor allem: was Du denn statt dessen überhaupt willst!

Ich kann Dir sehr präzise antworten. Auf den letzten Punkt bezogen, möchte ich die Situation radikal neu denken. D.h. ich möchte die aufgezeigte Paradoxie, der wir im Beobachten aufsitzen, nicht ständig mit Hilfe der Logik zu lösen versuchen, weil sie letztendlich nicht zu lösen ist. Das bedeutet für mich: Ich will das Paradox in vollkommen offener Weise als Letztformel akzeptieren und die Paradoxie so in Gebrauch nehmen, daß man einigermaßen konstruktiv damit arbeiten kann. Ich will das sehr begrenzte Reflexionsvermögen Deiner Beobachtungsoperationen aufsprengen und erweitern...

Da mußt Du aber noch reichlich konkreter werden...

Ich will Dir gegenüber fundamental anders beginnen. Zunächst einmal will ich die unvermittelte Betrachtung von Einheit ganz ausschließen und statt dessen von der paradoxen Grundstruktur des vorhin angesprochenen Mechanismus ausgehen. Das bedeutet: Wenn ich z.B. von Deiner Unterscheidung Sein/ Nichtsein ausgehe, möchte ich der von Dir vernachlässigten Seite genauso viel Aufmerksamkeit schenken wie der anderen. Die Differenz tritt in den Mittelpunkt der Betrachtung, und das wiederum bedeutet noch mehr. Du hast Dich z.B. nie gefragt, warum Du mit dieser Unterscheidung Sein/ Nichtsein angefangen hast und ihr alles unterordnest. Für mich, und darin unterscheiden wir uns gravierend, gibt es nicht nur diese, sondern zahllose Unterscheidungen, mit denen wir anfangen können, d.h. ‘Etwasse’ erzeugen, Identitäten generieren können. Ich will von Deiner zweiwertigen Logik weg und statt dessen hinkommen zu einem, wie ich einmal gesagt habe, "Kalkül des Prozessierens von Unterscheidungen"; ich will das Konzept des unterscheidungsabhängigen Beobachtens radikalisieren und zwar so, daß beide Seiten der Unterscheidung immer gleichrangig behandelt werden! Losgelöst von transzendentaltheoretischen Grundannahmen und losgelöst von irgendwelchen ‘ontischen’ Sonderqualitäten des menschlichen Bewußtseins will ich mir sozusagen voraussetzungslos ansehen, was wir eigentlich faktisch tun, wenn der Aufbau unserer Erfahrungswelt zustandekommt. D.h. ich will versuchen, wie ich einmal gesagt habe, "die Anforderungen an eine Theorie, die die Welt und in ihr die Gesellschaft beschreibt, aus den Strukturen eben dieser Gesellschaft selbst herzuleiten." Für mich gibt es also nur gesellschaftliche oder gesellschaftsgeschichtliche Plausibilitäten für die Wahl einer Ausgangsunterscheidung.

Das hört sich gut an: ‘ich will das Konzept des unterscheidungsabhängigen Beobachtens radikalisieren’; aber damit hast Du noch nichts erklärt !

Paß auf! Du verstehst Erkenntnis als "assimilatio", d.h. Du bist fixiert auf das in der Ähnlichkeit zum Ausdruck kommende Gemeinsame und interessierst Dich nicht dafür, wer diese Zuordnung vorgenommen, wer sie konstruiert hat. Genau hier setze ich an! Mir geht es um eine völlig neuartige Reflexion, die m.E. eher geeignet ist, den heutigen Problemen gerecht zu werden. Ich frage nicht, was etwas Identisches ist, sondern wie das erzeugt wird, was einem Beobachter als Identisches zugrundegelegt wird. Ich beobachte Beobachter. Auf dieser Ebene erfordert die Feststellung von Identität ein Unterscheiden von Unterscheidungen, nämlich des Identischen von anderem und des identifizierenden Beobachters von anderen Beobachtern. Alles, was als Einheit identifiziert wird, muß dann beobachtet werden anhand der Frage, wer mit Hilfe welcher Unterscheidung beobachtet. "Bei allem Identischsetzen", so habe ich kürzlich gesagt, "kann es nur darum gehen, die Unterscheidung zu unterscheiden, die ein Beobachter benutzt." Wenn das so ist, wenn also ein Beobachter beobachtet, was ein anderer Beobachter als identisch ansetzt, dann kann er sich doch selbst die Freiheit nehmen, anders zu identifizieren, andere Unterscheidungen zu verwenden, von anderen Gegenbegriffen her zu interpretieren, d.h. dasselbe als das Nichtdasselbe zu behandeln, oder nicht? Es gibt also die völlige Freiheit der Wahl von Unterscheidungen. Wenn ich nun sozusagen von Deinem Ansatz des "Einteilens" auf meinem Ansatz des "Prozessierens von Unterscheidungen" umschalte, so erhalte ich gegenüber Dir eine enorm gesteigerte Komplexität von Beobachtungsmöglichkeiten. Das bedeutet nicht, daß meine Beobachtungsform besser begründetes oder sichereres Wissen liefern würde. Sie hat gegenüber Deinem Ansatz keine hierarchisch übergeordnete Position im Hinblick auf die Erkenntnis. Allerdings – und hierin liegt der Vorteil – ich sehe anders und damit kommt auch mehr in den Blick. Natürlich beobachte ich nur Beobachter, - aber ich sehe damit nicht nur ihn, sondern auch, was er sieht und wie er sieht, was er nicht sieht. Während andere nur sehen, was sie sehen, gewinne ich ihnen gegenüber die Möglichkeit, zu beobachten und zu beschreiben, was sie nicht beobachten können. D.h., ich kann z.B. sehen, daß ihre Zentrierung auf das, was sie bezeichnen, eine Strategie ist, über die sie ihre sich konstituierende Paradoxie von Zweiheit als Einheit selbst verschleiern. Ich kann sehen, wie sie mit ihrer Paradoxie umgehen, d.h. wie andere Beobachter die für sie hinderlichen Paradoxien invisibilisieren. Und dies bedeutet nichts anderes, als daß ich den blinden Fleck des Beobachtens mit ins eigene Kalkül aufnehme, ja mich gerade für ihn interessiere. Wenn die Genese der jeweils getroffenen Unterscheidung durchschaut wird, dann bedeutet das zugleich, daß das, was dabei entsteht, kontingent ist, es könnte genausogut ganz anders sein. D.h. in dem Moment, wo die Gesellschaft bemerkt, daß sie unentwegt Beobachter beobachtet und es viele Beobachter und Beobachtungen gibt, in denen unterschiedliche Unterscheidungen aktualisiert werden (die sich nicht mehr auf eine Generalunterscheidung bringen lassen), ist Dein einfaches Schema Sein/ Nichtsein hinfällig. Es gibt keine autoritative Vorgabe bestimmter Unterscheidungen und Bezeichnungen. Es gibt keine sicheren Beobachtungsorte mehr und eine bloße Mehrheit von Beobachtern, die in eine Richtung schaut und mit dem gleichen Schema arbeitet, garantiert nicht im mindesten die unverbrüchliche Wahrheit! Die von mir ins Zentrum gesetzte Beobachtungsform, und das will ich damit sagen, kann sich nirgendwo ‘anlehnen’, sie schwebt sozusagen frei: sie muß sich, wie ich es kürzlich formuliert habe, "heterarchisch vernetzen und sich stets nur vorläufig an operativen Bewährungen halten." Durch diese Methode wird ein universaler Weltzugang ermöglicht, d.h. ich verfüge über einen generellen Modus "anspruchsvoller gesellschaftlicher Realitätsvergewisserung."

Ich möchte...

Ich glaube, ich weiß, was Du jetzt sagen willst und Du hast recht: Auch bei Dir gibt es die Beobachtung zweiter Ordnung, allerdings, und das mußt Du einsehen, nur im Rahmen von kognitiv eng begrenzten Programmen, z.B. insofern, als man andere Leute auf Irrtümer hinweisen kann. Grundsätzlich unterscheiden wir uns aber gravierend: In Deinem Beobachtungsmodus bleibt die Paradoxie des Beobachtens für uns alle unsichtbar. Durch meinen Ansatz kommen die strukturellen Beschränkungen ans Licht und werden akzeptiert wie sie sind, - daß man effektiver damit arbeiten kann, werden wir noch sehen! Mit meiner so angelegten Theorie ist also gegenüber Deinem Denken ein qualitativer Wandel eingetreten: Ich glaube den Ort gefunden zu haben, an dem die Grundlagenprobleme Deiner Erkenntnistheorie (zwar nicht gelöst, aber) behandelt werden können. Vielleicht...

Moment! Jetzt muß ich doch mal darauf bestehen, hier einiges zurechtzurücken! Auf der einen Seite hast Du jetzt die ‘Katze aus dem Sack gelassen’: Mit Deinem neuen Denken propagierst Du den totalen Relativismus! Ich habe so etwas die ganze Zeit geahnt: Jeder beobachtet aus einer anderen Perspektive und nichts ‘gilt mehr richtig’! Auf der anderen Seite ist dieser Punkt so neu auch wieder nicht. Es scheint mir fast so, daß Du mit Deinem Anspruch, ein fundamental neues Gebäude zu erstellen, letztendlich bei alt bekannten Konstruktionsplänen hängengeblieben bist!

Dein Einwand ist für mich völlig nachvollziehbar; Du kannst es gar nicht anders sehen. Es ist für uns beide schwierig, eine gegenseitige Verständigung zu erreichen und ich verlange jetzt eine Menge von Dir; denn Du mußt nachvollziehen, warum Dein Einwand dennoch an meiner Sache völlig vorbeigeht. Das Schwierigste wird für Dich sein, Dich davon zu lösen, jedwede Aktivität immer auf den Menschen zu beziehen. Als ich die ganze Zeit vom Beobachten sprach, habe ich damit selbst ein Mißverständnis heraufprovoziert, denn durch meine bisher etwas unvorsichtige und grobe Formulierung mußte der Eindruck entstehen, Beobachtung sei immer notwendigerweise an Personen gebunden. Genau das ist nicht der Fall! Wir müssen sehen, daß nicht nur die menschlichen Bewußtseine in der Lage sind, Unterscheidungen zu treffen und Bezeichnungen vorzunehmen, sondern daß Beobachtungen (in einem generellen Sinne) auch auf der Ebene von Organismen, Maschinen und sozialen Zusammenhängen gegeben sind. Der Differenzierungsmodus, so hat das mal jemand ausgedrückt, "wird als ubiquitärer Mechanismus des Lebendigen überhaupt verstanden und auf das Soziale ausgedehnt." Obwohl ich jetzt gleichsam mit der Tür ins Haus falle (weil ich direkt damit beginne, System zu System- Beziehungen aufzuzeigen), wollen wir uns die soziale Ebene mal ansehen, damit ich Dir erklären kann, was ich meine. Ich muß voraussetzen, daß wir hier Kommunikation finden.

Weiß ich...

Später wird Dir klar werden, daß ich von einer anderen Kommunikation spreche als Du, aber das hier nur am Rande! Von dem gesamten Spektrum kommunikativer Realitäten greifen wir jetzt einfach mal jene Kommunikation heraus, die sich mit dem Recht beschäftigt. Ich behaupte, daß sich diese Kommunikation deshalb etablieren konnte, weil sie sich quasi selbst gezwungen hat, sämtliche Kommunikationen an einer spezifischen Leitunterscheidung zu orientieren, nämlich Recht/ Unrecht, d.h. alle Beobachtungen werden ausschließlich an dieser Unterscheidung ausgerichtet. Jetzt passiert genau dasselbe, was wir vorhin bereits angesprochen haben, nur eben nicht auf den Menschen, sondern auf einen sozialen Kontext bezogen: Es wird etwas unterschieden, eine Seite wird bezeichnet und dann wird an das Bezeichnete mit anderen Operationen (der Rechtskommunikation) angeschlossen, so daß sich insgesamt eine rekursive Vernetzung vieler Beobachtungen ergibt und zwar immer unter dem Gesichtspunkt Recht/ Unrecht. Jetzt hast Du eine ungefähre Vorstellung von dem, was ich unter einem System verstehe und auf unser Beispiel bezogen sage ich: So, wie das Bewußtsein des Menschen ein psychisches System ist und mit Beobachten beschäftigt ist, müssen wir uns die Rechtskommunikation als Rechtssystem im sozialen Kontext vorstellen.

Jetzt kannst Du verstehen, warum Dein Vorwurf des Relativismus völlig ins Leere zielt, denn die Beobachter (wie wir sie jetzt entworfen haben) gehen doch gerade nicht wahllos oder beliebig vor, sondern orientieren sich an ihrer jeweils ganz spezifischen Selektivität und sind darin ganz konsequent, und selbst dann, wenn sich z.B. das Rechtssystem für Kultur interessieren würde, hätten sie wieder zwangsläufig mit dem Recht zu tun. Wir müssen an dieser Stelle festhalten, daß mein ganzes Denken um Systeme kreist, d.h. um Systeme, die alle jeweils anders beobachten und Dir ist vielleicht aufgefallen, daß Menschen bzw. Bewußtseinssysteme zwar auch auftauchen, aber in einem stark relativierten Sinne, d.h. unter vielem anderen auch vorhanden sind.

Als ob es ein Verdienst wäre, so etwas zu konstruieren...

Nicht so polemisch! Wir können gleich auch über den Menschen sprechen! Zunächst sollten wir uns den Begriff des Systems etwas genauer ansehen. Ich halte die Beschreibung möglichst allgemein, daß Du die Möglichkeit hast, den Mechanismus, um den es geht, auf möglichst viele Ebenen transferieren zu können. Das Beobachten, so hatte ich ganz zu Anfang gesagt, ist eine Operation und davon gibt es nicht nur eine, sondern mehrere, die sich in einem laufenden Prozeß miteinander vernetzen und einen, wie ich es nenne, autopoietischen Prozeß begründen. Ich schaue jetzt auf das, was dabei herauskommt, entdeckte also nicht nur die Beobachtung als Operation, sondern auch das, was sie sozusagen hervorbringt, nämlich einen klar erkennbaren Strukturaufbau (wenngleich nur für einen kurzen Moment). Er ist deshalb so klar zu erkennen, weil die rekursive Verknüpfung vieler Beobachtungen ein Netzwerk entstehen läßt, das sich ganz klar gegenüber seinem ‘Umfeld’ abgegrenzt hat und sich gerade dadurch selbst identifizieren kann; denke an das Rechtssystem: Wenn es sich ausschließlich für Recht/ Unrecht interessiert, dann baut es damit selbst seine eigene Indifferenz gegenüber allen anderen (externen) Faktoren auf. Wenn ich bisher etwas unbeholfen vom ‘Umfeld’ bzw. von ‘externen Faktoren’ der Systeme gesprochen habe, dann meine ich die Umwelt der Systeme. Umwelt ist einfach alles mit Ausnahme des Systems selbst. Ich will damit sagen, daß die Umwelt wesentlich komplexer ist als das System, denn, um in unserem Bild zu bleiben, es wird ja weit mehr als nur über Recht/ Unrecht kommuniziert. Und so ist eben das meiste, was in der Umwelt passiert, für das System uninteressant. System und Umwelt, so hat mal jemand gesagt, "gehören zueinander wie zwei Seiten einer Münze." Er meint damit, daß das Zeitverhältnis von System und Umwelt niemals als je für sich unabhängig denkbar ist. D.h. wenn ich in diesem Moment ein System identifiziere, dann kann es die Umwelt dieses Systems nicht bereits gestern ‘an sich’ gegeben haben und sie kann dem System nicht in der Zukunft als statische Größe zur Verfügung stehen.

Kein System, so habe ich kürzlich formuliert, "kann in die Zukunft der Umwelt vorauseilen oder in deren Vergangenheit zurückbleiben."

Die Realitätsbasis des Systems, so habe ich einmal viel abstrakter gesagt, "ist die Gleichzeitigkeit seines Operierens, mit den es tragenden Realitätsbedingungen." Wenn ich solche Sätze sage, dann sehe ich mich immer wieder dazu veranlaßt, Dir für Deine Geduld zu danken, denn wir kommen an dieser recht aufwendigen ‘Basisarbeit’ nicht vorbei. Vielleicht darf ich noch kurz auf einen anderen Aspekt aufmerksam machen, um im Vorfeld einige Mißverständnisse auszuräumen: Systeme operieren immer geschlossen. D.h. ein System kann die eigenen Operationen nicht dazu benutzen, aus sich heraus in seine Umwelt hineinzugreifen oder sich selber mit der Umwelt zu verknüpfen, denn das würde bedeuten, daß ein System mit seinen Operationen halb im System, halb außerhalb seiner Grenzen operiert. Genau das ist nicht möglich!

Die Operativität der Systeme, so habe ich einmal gesagt, "sieht keine Möglichkeit vor, Formwechsel auf der Ebene der Elemente zuzulassen, die sie produzieren." Wenn ich vorhin von Systemen auf der Ebene von Maschinen, Organismen, Bewußtseinen und sozialen Zusammenhängen gesprochen habe, dann muß ich jetzt also auf die Unmöglichkeit hinweisen, daß die Operationen des einen Systems allmählich einer Konversion in Operationen eines anderen Systems unterliegen könnten. Systeme, um diesen Gedanken abzuschließen, "können ihre Elemente nicht Metamorphosen unterziehen, die sie anschlußfähig in der Domäne der je anderen Operativität werden ließe." Wenn Du nochmals an das Rechtssystem denkst, dann wirst Du mir zustimmen, daß die hier aufgebauten Grenzen die Funktion haben, Sinnkosmen voneinander abzuschotten und gerade nicht die Aufgabe haben, Wege zu weisen, die aus dem System herausführen.

Jetzt muß ich mal wieder unterbrechen! Ich glaube, ich erahne nun, daß Deine Theorie im Hinblick auf das herkömmliche Denken einen tiefgreifenderen Bruch beinhaltet, als ich bisher angenommen habe. Deine Entkräftung des Relativismusvorwurfs hat mich auch überzeugt. Aber ich denke jetzt an den Anfang unseres Gesprächs und das wirft mich jetzt wieder um einige Kilometer zurück: Da hast Du nämlich sehr selbstbewußt und mir gegenüber vielleicht auch etwas überheblich verkündet, für Dich gebe es kein Sein und keine Substanz. Und jetzt, siehe da, hast Du das System! Ganz viele geschlossene Systeme, alle nebeneinander! Damit hast Du also doch das Sein, - Du nennst es halt’ nur anders!

Falsch! Es tut mir leid und ich guck’ auch so langsam auf die Uhr, aber Dein Einwand kann so nicht stehenbleiben! Das Problem ist, daß ich alles, was gleichzeitig der Fall ist, zwangsläufig nur hintereinander erklären kann. Ich will Deinen Einwand nun gezielt aufnehmen und Dir klarmachen, warum ich immer noch bei der Bewegung bin. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der Du auf das System (an sich) schielst, um etwas Identisches zu finden, sehe ich von der Ausgangslogik meines Ansatzes her drei Dinge zugleich, die konstitutiv mit dem System zu tun haben, aber alles andere als Einheit bedeuten (oder so etwas wie eine statische Identität beinhalten). Konkret: Ich sehe immer noch die Bewegung, und zwar als Selbstorganisation von Systemen. Ich sehe die Einheit als Paradox und zugleich unzählige Differenzen! Betrachten wir diese drei Aspekte in dieser Reihenfolge: In meiner ersten und vereinfachten Skizze des System-Begriffs sagte ich, daß Operationen aneinander anknüpfen und dadurch eine Struktur, Gestalt oder Konstellation von Vernetzung entsteht. Ich muß jetzt erklärend hinzusetzen, daß die Autopoiesis, von der ich sprach, gerade nicht als Produktion einer bestimmten Gestalt zu begreifen ist.

Die Regel der Autopoiesis, so habe ich einmal gesagt, lautet: "Jedes Ende ist zugleich ein Anfang." D.h., wenn wir von Autopoiesis sprechen, dann reden wir nicht von ihr im Hinblick auf ein bestimmtes Ergebnis, sondern wir meinen den Prozeß als solchen, d.h. den Prozeß im Hinblick auf sich selbst, der sich immer fortsetzen muß und sich nur dadurch erhalten kann. Die Elemente, aus denen Systeme bestehen, auch das mußt Du sehen, kommen nicht einfach bloß zusammen. D.h. sie werden nicht bloß mit Blick auf ein irgendwie geartetes Ergebnis miteinander verbunden, sondern sie werden im System erst erzeugt und zwar dadurch, daß sie (wie wir oben sahen) als Unterschied in Anspruch genommen werden. Von einer in sich ruhenden Gestalt oder Substanz kann also beim System keine Rede sein! Und Du wirst sehen: Wenn ich jetzt auf den zweiten Punkt eingehe, auf die paradoxe Struktur der Einheit von Systemen, lande ich automatisch wieder bei der Bewegung!

Von der Einheit eines Systems können wir insofern sprechen, als Operationen und Elemente im Hinblick auf einen spezifischen Code gegeben sind und dadurch eine klare Abgrenzung gegenüber der Umwelt aufbauen. D.h. mit jeder Operation werden zugleich die Grenzen des Systems reproduziert, so daß jede denkbare Einheit immer konstituiert ist durch die Andersartigkeit dessen, was aktuell-momenthaft draußen ist. Du erinnerst Dich, daß Systeme nicht nur gelegentlich, sondern immer (d.h. strukturell) an ihrer Umwelt orientiert sind und ohne sie nicht bestehen können. Differenz ist also die Vorbedingung dafür, daß Operationen laufen können. Die Einheit eines Systems, so habe ich mal gesagt, kannst Du immer am "Konstruktionsprinzip seiner Differenzierung ablesen." Die Differenz selbst ist für das System konstitutiv und die Form der Differenz ist das eigentlich Auszeichnende! Die Einheit eines Systems ist immer paradox konstituiert. Aber nicht nur die Einheit, sondern auch das Zeitverhältnis von System und Umwelt ist paradox. Ich sprach bereits davon, daß System und Umwelt immer im Modus der Gleichzeitigkeit gegeben sind. Jetzt müssen wir sehen, daß beide zugleich in einem Verhältnis des zeitlichen Nacheinander stehen. Wenn ich nun kurz auf diesen Punkt eingehe, dann deshalb, um Dir zu zeigen, daß ich immer noch bei der Bewegung bin, wenn ich von einem System spreche. Das zeitliche Nacheinander liegt darin begründet, daß die Umwelt, Du erinnerst Dich, nie genau systemadäquat eingerichtet ist. D.h. Systeme können nicht auf jeden Zustand der Umwelt reagieren, können sich nicht auf Punkt-für-Punkt-Entsprechungen zur Umwelt stützen. Das Verhältnis von System und Umwelt ist vielmehr geprägt von Komplexität und Selektion. Dadurch, daß die Komplexität der Umwelt nicht annähernd ‘eingefangen’ werden kann, ist Selektion erforderlich. Selektion ist, wie ich früher einmal gesagt habe, "die Dynamik der Komplexität"; sie wiederum nimmt Zeit in Anspruch. Der Zusammenhang von Komplexität und Selektion ist also keine reine Zustandsbeschreibung, sondern impliziert bereits Zeit, er kommt nur durch Zeit und in der Zeit zustande. Die Zeit ist der eigentliche Grund für Selektionszwang. "Zeit", so habe ich in einer älteren Veröffentlichung gesagt, "ist die Asymmetrierung von Selbstreferenz im Hinblick auf eine Ordnung von Selektionen." Hier wird jeweils eine selektiv erinnerte Vergangenheit mit einer selektiv projektierten Zukunft integriert. Denke z.B. an unser Rechtssystem, damit Du Dir das besser vorstellen kannst. Indem die Zeitperspektiven und das Operationstempo den jeweils internen Möglichkeiten des Systems angepaßt werden, entwickelt das System eine Eigenzeit. Sie ist an den Strukturen des Systems ablesbar. Die Strukturen halten die Systemzeit quasi fest. Sie bringen damit gewissermaßen zum Ausdruck, was im Moment Geltung hat, bis eine Änderung der Relationsmuster eingetreten ist. Bleiben Änderungen aus, fällt die Autopoiesis des Systems in sich zusammen. Insofern muß es neben den Strukturen als Voraussetzung der Anschlußfähigkeit autopoietischer Reproduktion (gewissermaßen als Ordnung der Selektion zum Zeitpunkt X) immer zugleich auch die prozeßhafte Bewegung aufeinander aufbauender selektiver Ereignisse geben! Es kommt also zu einer selektiven Ordnung der Verknüpfung von Elementen im zeitlichen Nacheinander. Du mußt sehen, daß dieser Prozeß nicht gleichsam freiwillig erfolgt, sondern praktisch aus sich selbst heraus eine laufende Änderung der Relationsmuster erzwingt; denn der mit zunehmender Komplexität entstehende "Möglichkeitsüberschuß" muß immer und unweigerlich selbstselektiv reduziert werden. Du liegst also völlig falsch, wenn Du meinst, mit dem Begriff des Systems etwas ‘Statisches’ gefunden zu haben. Die Zeitlänge, mit der ein Element als eine nicht weiter auflösbare Einheit behandelt wird, wird vom entsprechenden System selbst bestimmt. Sie hat, wie ich einmal treffend gesagt habe, "verliehenen, nicht seinshaften Charakter!" In meiner jüngsten Veröffentlichung behandle ich dieses Thema unter der Überschrift "Temporalisierung von Komplexität im Nacheinander des Verschiedenen."

Schließen wir den Gedanken ab: Es kommt darauf an, zu sehen, daß die Differenz von Selbstreferenz und Fremdreferenz immer als momenthaft hergestellt zu denken ist. Sie ‘ist’ und zerfällt wieder zugunsten anderer Relationen. Ich frage danach, welche Eigenzustände von Systemen momenthaft entstehen und inwiefern sie für welchen Zeitraum stabil gehalten werden können. Es geht um ein laufendes Verlagern von Aktuellem und Potentiellem. Systeme, so kann ich also festhalten, drängen nie in eine stabile Ruhelage oder etwa zur Neutralisierung von Störungen: Ihre eigentliche Leistung besteht vielmehr in der "Konditionierung der Interdependenz von Auflösung und Reproduktion."

Aber wie sind wir jetzt überhaupt darauf gekommen?

Du warst dabei, mir zu erklären, warum Systeme, so wie Du sie verstehst, keine in sich ruhenden Einheiten sind. Zwei Argumente hast Du bereits vorgetragen und ich glaube, jetzt wolltest Du in einem dritten Schritt zeigen, warum Du Dich gerade für die Differenzen zwischen Systemen interessierst und nicht für Systeme an sich. Ich glaube...

Genau! Ich wäre froh, wenn ich auf diesen Punkt noch eben eingehen könnte. Merkwürdigerweise hast Du mich bis jetzt überhaupt nicht gefragt, warum ich, von der Kategorie der Bewegung ausgehend, gerade die Unterscheidung System/ Umwelt gewählt habe. Der Grund hierfür hängt auch mit Deinem Denkmodus zusammen! Du z.B. denkst im Schema des Ganzen und seiner Teile und ich sehe, daß Du immer neue Unterscheidungen brauchst, Dich sozusagen mit immer neuen Unterscheidungen und mit dem damit verbundenen Komplexitätszuwachs selbst ‘zukippst’. Ich behaupte, Du blockierst Dich selbst, weil Deine Beobachtungsform, wie wir eben gesehen haben, strukturell sehr begrenzt ausfällt. Was mache ich statt dessen?

Du erinnerst Dich, daß ich davon sprach, die paradoxe Struktur des Beobachtens nicht nur schonungslos anzuerkennen, sondern auch irgendwie konstruktiv in Gebrauch zu nehmen. Die nähere Erklärung, wie man sich das konkret vorstellen kann, habe ich Dir bis jetzt vorenthalten. Sie liegt in dem Hinweis, daß die von mir gewählte Ausgangsunterscheidung System/ Umwelt in sich selbst wieder eingeführt werden kann. Sehen wir uns das kurz an: Ich habe vorhin die Ausdifferenzierung von Systemen gegenüber einer nicht bezeichneten Umwelt betrachtet.

Umwelt war hier sozusagen das "Leerkorrelat für Selbstreferenz." Jetzt kann es aber durchaus sein, daß es in der Umwelt eines Systems weitere Systeme gibt, die wiederum auf ihre eigenen Umwelten hin orientiert sind. Wir können also eine Systemdifferenzierung unterstellen, die rekursiv angelegt ist: In einem System entstehen neue Systeme. Unser Ausgangssystem wird rekonstruiert durch eine weitere Unterscheidung von Teilsystem und Umwelt. Ich kann es auch so ausdrücken, daß in unser System neue System/ Umweltdifferenzen eingeführt werden. Du mußt Dir den Sachverhalt in seiner ganzen Tiefe vor Augen führen: Jede Änderung eines Teilsystems ist dann immer automatisch eine Änderung der Umwelt anderer Teilsysteme, d.h. die Differenz von System und Umwelt gibt jeder Änderung, wie ich es einmal ausgedrückt habe, "einen Multiplikationseffekt." Das Beispiel vom Rechtssystem, das ich vorhin angeführt habe, paßt jetzt gut hierhin: Das Rechtssystem, dessen Operationen sich an der Leitunterscheidung Recht/ Unrecht orientieren, erarbeitet beispielsweise ein Gutachten, das die Verwendung des Codes Recht/ Unrecht mit den Mitteln des Codes Recht/ Unrecht beobachtet. Wie wir sehen, handelt es sich also um eine Operation des Rechtssystems, in dem die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Operationen des Rechtssystems (also der Anfangsunterscheidung des Rechtssystems) gestellt wird.

Du siehst, daß hier eine Situation gegeben ist, in der die Unterscheidung Recht/ Unrecht doppelt vorkommt. Sie begegnet uns einmal als Ausgangsunterscheidung, mit der alles anfängt, also gewissermaßen als Basis oder Grundform, mit der Bezeichnungen überhaupt erst ermöglicht werden und dann als Form in der (Basis-)Form. Die Unterscheidung wird rekursiv auf sich selbst angewandt, d.h. die Unterscheidung, mit der begonnen wird, wird dann in das durch sie Unterschiedene wieder eingeführt.

Es ist also dieselbe und nicht dieselbe Unterscheidung, genauer gesagt: "die Wiederverwendung desselben in neuen Settings." Was will ich mit diesen Ausführungen sagen? Wie ich zu zeigen versucht habe, bin ich immer noch bei Begriffen der Selbstorganisation (Bewegung), der Emergenz und Ausdifferenzierung. Nun hast Du gesehen, daß ich solche Unterscheidungen verwende, die in sich selbst wieder eingeführt werden können, wie dies bei System und Umwelt der Fall ist, wobei ich zunächst einmal völlig offen lasse, wieviele solcher Möglichkeiten es gibt. Wenn ein System ein gewisses Komplexitätsniveau erreicht hat, um es einfacher auszudrücken, ist es in der Lage, sich die Frage der eigenen Beziehung zur Umwelt zu stellen. Ich habe damit den Vorteil, daß die Paradoxie des Beobachtens von mir handhabbar gemacht wird. Die Paradoxie der Unterscheidung, die sich selbst nicht unterscheiden kann (denke an vorhin) wird von mir, wie das jemand mal anschaulich gesagt hat "in Form gebracht und derart für das Prozessieren fruchtbar gemacht (Hervorhebungen von mir, S.F.), so daß das Problem der transzendentalen Letztbegründung strategisch umgangen wird."

Zum Schluß möchte ich Dir noch sagen, daß ich mit diesem Zugang einen (gegenüber Dir) größeren Strukturreichtum erhalte, mit dem bessere Einblicke in die Tiefenstruktur von Komplexität möglich werden. Wenn es z.B. neben dem Rechtssystem noch das Erziehungssystem, das politische System, das Wirtschaftssystem (und andere) gibt, dann wird es durch die damit konstituierte Ausschnitthaftigkeit der Blickwinkel möglich, das jeweils andere System immer als System-in-einer-eigenen-Umwelt zu beobachten und damit die Gesellschaft aus der Perspektive des von mir geforderten "Beobachtens von Beobachtungen" zu rekonstruieren. Weißt Du, was dadurch geschieht? Wenn das Gesamtsystem (hier: die Gesamtgesellschaft) wiedereintrittsfähige Unterscheidungen in dieser Weise praktiziert, d.h. sich selbst als Vielheit interner System-Umwelt-Differenzen multipliziert, erpreßt es sich sozusagen selbst zu untentwegter Reflexion und genau das will ich erreichen. Genau an dieser Stelle liegt der Schlüssel für mein neu konstruiertes Verständnis von Rationalität; vielleicht können wir später noch darauf eingehen.

Mit all dem, was Du gesagt hast, ist es Dir tatsächlich gelungen, meine herkömmliche Vorstellung von einem System gründlich auf den Kopf zu stellen. Ich bin jetzt allerdings so weit, daß ich nur noch eine ‘fließende Masse’ von Bewegung, Differenzen und wechselnden Konstellationen sehe. Darum will ich an dieser Stelle nicht locker lassen: Es muß doch bei Dir etwas Greifbares geben! Wenn ich z.B. sage: ‘das ist ein Baum’, dann weiß jeder, worum es geht. Du kannst mir doch nicht erzählen, daß es die Konstitution eines derart Identischen bei Dir nicht gibt!

Ja und nein! Identitäten sind bei mir nicht das, was sie bei Dir sind.

Das hätte mich aber auch sehr gewundert...

Du siehst sie als primäre Gegebenheiten, als substantielle Gegenstände, Elemente oder Objekte, die sozusagen der Zeit vorgegeben sind, in meiner Sprache: die es auch dann gibt, wenn sie nicht beobachtet werden können. Genau das ist bei mir nicht der Fall. Vorweg gesagt sehe ich Identität immer unter dem Aspekt konstruktiver Herstellung und dies immer gekoppelt an einen Zeitpunkt X. Ich komme Dir sogar entgegen, wenn ich sage, daß das Beobachten, von dem ich die ganze Zeit spreche, gerade nicht willkürlich, d.h. ins Blaue hinein oder um seiner selbst willen geschieht. Vielmehr ist das Beobachten konstitutiv darauf hin angelegt, daß so etwas wie Identitäten generiert werden! Wenn ich von Identität spreche, und das mußt Du nachvollziehen, beinhaltet das für mich immer die Verweisung auf einen Beobachter. D.h. Identität ist immer die Identität von etwas für jemanden aufgrund seiner spezifischen Unterscheidung. Sie gibt es für mich also nur im Kontext einer Beobachtung zweiter Ordnung. Ich frage nicht, was als Identisches gegeben ist, sondern wie es hergestellt wird und entdecke (wie kann es anders sein) systemspezifische Leistungen.

Ganz allgemein gesagt passiert folgendes, daß nämlich Differenzen und Rekursionen organisiert, geordnet oder in eine Form gebracht werden, so daß es möglich wird, bei allem Prozessieren von Sinn auf etwas wiederholt Verwendbares zurück- und vorgreifen zu können.

Moment...

Es wird gleich anschaulicher! Der Mechanismus, der dazu führt, daß sich Identitäten gewissermaßen stabilisieren, besteht darin, daß aus der Fülle des gleichzeitig Aktuellen etwas Bestimmtes zur wiederholten Bezeichnung herausgezogen wird. In diesem Falle wird eine Mehrheit von Operationen zu einem Akt kondensiert. Hierbei muß allerdings zugleich ein Überschuß an Verwendungsmöglichkeiten vorhanden sein, der dadurch zustandekommt, daß die eben genannte Wiederholung in immer anderen Situationen, an verschiedenen Zeitstellen, von verschiedenen Beobachtern erfolgt. Die unter den veschiedenen Umständen anzutreffende Andersheit und die damit verbundenen Konnotationen müssen in die bezeichnende Wiederholung eingebaut oder bedacht werden. Nehmen wir Dein Beispiel mit dem Baum. Mit Hilfe Deiner Anfangsunterscheidung Baum/ andere Objekte kann Identität hier durch die Wiederholung der Bezeichnung der einen Seite der Unterscheidung (Baum) in immer anderen Kontexten und Zeitstellen wiedererkennbar gemacht werden. D.h. die Vielzahl der unterschiedlichen Eindrücke werden sozusagen kanalisiert gesammelt und koordiniert, so daß der Begriff des Baums (als Referenzidentität) immer eine Reduktion jener Sinnverweisungen ist, die mit einer Fülle konkreter Bäume in ihrer je individuellen Gestalt, Form und Farbe verbunden werden. Den Begriff Baum gibt es also als übergreifenden Kondensationswert im Kontext höchst verschiedener Ansichten und Fälle. Umgekehrt gesagt muß also in jeweils veränderten Konstellationen das ‘Testen’ mit Operationen trotz Kontextvariationen immer konfirmiert werden können. Eine so praktizierte Wiederholung der Anwendung konfirmiert den Begriff. Hier geht es, wie ich kürzlich gesagt habe, "um ein selektives Kondensieren (warum beziehen wir uns auf ‘Baum’ und nicht auf ‘Auto’? , S.F.) und zugleich um konfirmierendes Generalisieren von etwas, was im Unterschied zu anderem (zur unterschiedlichen Beschaffenheit verschiedener Bäume, S.F.) als Dasselbe behandelt werden kann." Dadurch entsteht für alle eine konkrete Vertrautheit mit der Welt. Wenn ich von Identität spreche, dann spreche ich also von einer Generalisierung, in der eine Mehrheit von Referenzen als Einheit betrachtet wird. Und dies kann auf allen Sinndimensionen realisiert werden, nämlich auf der Ebene von Sachen, von Personen (der Baum ist auch für andere ein Baum) und mit der Voraussetzung einer gewissen Dauer (der Baum wird auch morgen noch Baum sein=Zeitdimension). Da die hier zustandegekommene Stabilität in wechselnden Kontexten auftaucht, also mit verschiedenen Situationen ‘kompatibel’ ist, verstehe ich Identität als eine "virtuelle, an Horizonte geknüpfte Identität", die einigen Spielraum von Möglichkeiten anzeigt.

Du sprichst von wiederholenden Bezeichnungen in anderen Kontexten, von Generalisierungen und ‘virtueller Identität’. Das Ganze hört sich für mich etwas irreführend an, weil ich den Eindruck habe oder besser gesagt, das Gefühl, daß Identität bei Dir in erster Linie formal bestimmt ist. Gibt es nun etwas Dahinterliegendes oder...

Gut, daß Du danach fragst! Wir sind uns einig, daß die Außenwelt als existente Größe so gegeben ist, wie sie ist. In meiner Sprache gesagt ist die Außenwelt die eigentliche Bedingung dafür, daß systemeigene Operationen überhaupt möglich sind.

Und genau das ist der Punkt: Wenn alles, was Systeme tun (z.B. Abgrenzung, Strukturaufbau, Reflexion, Evolution) durch selbstreferentielles Operieren zustandekommt, dann müssen wir auch das als konstitutiv hergestellt betrachten, was Systeme als vorgebliches Bild des Außen entwerfen. D.h. alles, was mit Vertrautheitsqualität bzw. als Eigenschaft des ‘Allgemeinen’ auftritt, ist immer das ureigenste Konstrukt geschlossener Operationsverfahren von Systemen. "Alle Tatsachen", so habe ich einmal gesagt, "sind und bleiben Aussagen im System." Während Du in Deiner Weltsicht immer schon eine festgelegte Entscheidung für die ‘in sich ruhende’ Realität des Außen getroffen hast, betone ich (nach meinen bisherigen Erläuterungen konsequent), daß Systeme sowohl ihr Innen als ihr Außen selbstreferentiell herstellen. Die rein intern konstruierten Vorstellungen von Systemen haben also kein ‘Gegenstück’ in der materiellen Welt, haben kein substantielles Äquivalent in der Realität, anders gesagt: stützen sich nicht auf eine Meta-Garantie der Übereinstimmung von Innen und Außen. "Die hier konstruierte Realität", so hat das mal jemand sehr anschaulich und treffend gesagt, "ist (also) nicht die Realität, die sie meint (...). Alles Licht, das wir in die Welt hineintragen, erhellt nicht die Welt bzw. nicht dasjenige, was wir gezwungen sind, als Objekte unseres Denkens anzunehmen, sondern es erhellt gleichsam nur sich selbst."

Du mußt also (wieder einmal) versuchen, Dich von Deinem Denkschema zu lösen und auf die sozusagen ‘frei schwebende’ Operationsweise von Systemen zu blicken. Soweit Rekursionen auf Vergangenes verweisen (z.B. auf bewährten, bekannten Sinn), verweisen sie nur auf kontingente Operationen, deren Resultate gegenwärtig verfügbar sind, aber gerade nicht auf fundierte Ursprünge. Und soweit Rekursionen auf Künftiges verweisen, "verweisen sie auf endlos viele Beobachtungsmöglichkeiten, also auf die Welt als virtuelle Realität, von der man noch gar nicht wissen kann, ob sie jemals über Beobachtungsoperationen in Systeme (und in welche?) eingespeist werden wird." Während Du annimmst, der Mensch gewinne über seine Sinnesorgane Kontakt zur Außenwelt und könne damit seinen Erkenntnisakt begründen, will ich den genau umgekehrten Zugang deutlich machen: Ich sage, daß in der Umwelt psychischer Systeme wirklich eigenprofilierte kommunikative Systeme in einer wirklichen Welt existieren, wobei beiden Systemen genau diese Welt kognitiv unzugänglich ist und bleibt!

Auch wenn ich in Ansätzen nachvollziehen kann, was Du meinst, muß ich salopp feststellen, daß mir mit Deiner Theorie mittlerweile fast alles zwischen den Händen weggeflossen ist. Gerade weil Deine Theorie ‘sehr aufwendig’ ist (wir sind ja inzwischen recht lange im Gespräch), frage ich mich die ganze Zeit, worin denn hier überhaupt der Vorteil zu sehen ist; denn ich...

Moment! Eine solche Theorie erfindet man nicht einfach ‘ins Blaue hinein’! Insgesamt geht es mir darum, mit einer ‘dynamisch’ angelegten Theorie den gesellschaftlichen Bedingungen in angemessener Weise entsprechen zu können. Nicht umsonst habe ich vorhin gesagt, daß ich die ‘theorietragenden’ Kategorien aus der Struktur der Gesellschaft selbst heraus ableite und sie gerade nicht an metaphysische Fixpunkte binde. Mit meinem spezifischen Verständnis von Identität, wie ich es gerade dargelegt habe, ist ein zentraler Vorteil verbunden. Ich habe damit die Möglichkeit gewonnen, meinen Blickwinkel von der Sach- und Sozialdimension in die Zeitdimension zu verlagern. Dein Problem der Erkenntnis einer unabhängig von ihr bestehenden Welt wird bei mir (und da brauchst Du Dich nicht zu erschrecken) in die Zeitdimension aufgelöst; "das Zeitproblem", so habe ich kürzlich gesagt, "tritt an die Stelle (Deiner, S.F.) (...) Frage, wie das Subjekt zur Welt kommt." Weil sich das für Dich etwas merkwürdig anhören muß, möchte ich Dir kurz darlegen, warum ich auf den Aspekt der Zeit so großen Wert lege und wie ich selbst die Zeit begreife. Wenn Du diese Geduld noch aufbringst, würde ich Dir im Anschluß daran darlegen, warum es ein entscheidender Vorteil ist, den von mir entwickelten Identitätsbegriff so eng an den Zeitfaktor zu koppeln (denn das ist ja schließlich deine Frage gewesen).

Ich vermute mal, Du beginnst jetzt mit meinem Zeitverständnis, um Deines dann dagegenzusetzen...

Richtig! In Deinem Denken wird Zeit im Bezugsrahmen einer Vorstellung linearer Bewegung gesehen. Ausgangspunkt ist z.B. die Form eines Flusses oder eines Prozesses, auf dem dann Streckenbegriffe wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft angeordnet werden. Zugleich, und das wirst Du zugeben, wird Zeit als Teilphänomen der Seinswelt verstanden: Das Unveränderliche wird in seiner verobjektivierten Seinsqualität als zeitlose Ordnung, sozusagen als Weltrahmen vorausgesetzt und von den veränderlichen, zeitabhängigen Dingen in der Welt unterschieden. Die Vorstellung des seienden Dinges, so lautet das in meiner Sprache, "übergreift die Differenz von Bewegung und Nichtbewegung, sie überdauert ein Kreuzen der Grenze dieser Unterscheidung und verweist damit auf einen Seinsgrund, der diesen Unterschied transzendiert." Meine Kritik richtet sich nun darauf, daß Zeit bei Dir letztlich als Differenz jeweils inaktueller Zeithorizonte gesehen, Zeit also letztlich de-temporalisiert wird und daß in diesem denkerischen Kontext nicht ausreichend rekonstruiert werden kann, welche Probleme Systeme in und mit der Zeit haben. Denn wenn Zeit an Hand der Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft beobachtet wird, dann dient die Gegenwart (lediglich) als Grenze, also als unbeobachtbare Einheit der Differenz. In diesem Verständnis wird genau das unterdrückt, was die Beobachtung der Zeit erst möglich macht, nämlich die Gegenwart. Gegenüber diesem m.E. verkürzten Verständnis möchte ich der Gegenwart zu neuem Recht verhelfen! Zur Erläuterung sehen wir uns wieder auf den Begriff des Systems verwiesen: Die im System zu beobachtende rekursive Vernetzung von Operationen erfolgt stets in der Gegenwart und zwar aufgrund der jeweils gegenwärtig verfügbaren Umwelt, Strukturen und Anschlußmöglichkeiten. Wenn die Gegenwart in dieser Weise zum Ereignis oder ‘zur Tat’ wird, ist sie zugleich der Punkt, an dem sich die Unterschiede von Vergangenheit und Zukunft treffen. Sie wird (gleichsam als von mir aufgewertete Gegenwart) automatisch zur Grenzlinie zwischen den Zeithorizonten Vergangenheit und Zukunft, die beide für ein System bedeutsam sind. Denn damit ein System seine Autopoiesis fortsetzen kann, muß es rückwärtsgewandt an Vergangenes anschließen können und andererseits auf künftige Entfaltungsmöglichkeiten hinsichtlich denkbarer Selektionen Offenheit in Anspruch nehmen können. Als Vergangenheit, so habe ich mal gesagt, "wird, da hier nichts mehr zu ändern ist, Redundanz in die Zeit eingeführt, als Zukunft dagegen Varietät." Was "als Vergangenheit Gegenwart geworden ist, legt die Ausgangslage für die Zukunft fest, über Zukunft wird dagegen, in dieselbe Gegenwart Unsicherheit eingeführt." Wenn ich die Gegenwart in dieser Weise als Differenz von Vergangenheit und Zukunft verstehe, dann will ich damit herausstellen, daß beide Zeithorizonte von System und Umwelt integrierbar bleiben, d.h. die Gegenwart wird zu einem Jetzt-Zeitpunkt, der das ständige Umschalten von einem in den anderen Zeithorizont ermöglicht. Kurz gesagt, kommt es mir darauf an, zwei Dinge zu zeigen: Zeit ist nichts anderes als eine Bezeichnung für die ständige Auflösung und Rekombination der Einheit der Verschiedenheit von Vergangenheit und Zukunft. Die Gegenwart, und das ist der zweite Aspekt, ist dabei immer die Situation der Entscheidung, sie wird stets als Quellpunkt des Neuen begriffen.

Was will ich mit diesen mehr grundsätzlichen Überlegungen sagen? Mit meiner Theorie habe ich die Möglichkeit, den Zeitfaktor in einer viel stärkeren Weise zu berücksichtigen. Wenn ich sage, daß ich mit der Betonung der Zeitdimension eine "dinghafte Verfestigung der Sozialdimension verhindern möchte (Hervorhebungen von mir, S.F.)" , dann meine ich damit, daß wir nicht immer auf den Konsens warten können, damit sich überhaupt etwas ändern kann.

Auch wenn es vieles gibt, daß man diskursiv abarbeiten könnte oder müßte, behaupte ich, daß es immer weniger funktioniert; denn in immer mehr Situationen kommt es auf Geschwindigkeit an und nicht auf Diskursivität! In vielen wichtigen Entscheidungssituationen, das kannst Du gut an der Politik studieren, kommt es auf die Geschwindigkeit inszenierter Schemata, auf die Dynamik schnell wechselnder Symbolik an und nicht auf Diskursivität!

Ich behaupte, daß sich in unserer Gesellschaft ständig alles ändert (und zwar sehr schnell) und daß wir dringend Kriterien brauchen, mit denen wir das noch nicht bestimmte Anderssein irgendwie fassen können. Dadurch, daß ich Identität ganz stringent im eben genannten Sinne an Zeit binde, kann ich z.B. auf die immense Steigerung der Komplexität gesellschaftlicher Kommunikation viel besser reagieren als Du mit einem statisch angelegten Seinsschema. Du erinnerst Dich, daß ich davon sprach, Unterscheidungen zu prozessieren und Beobachtungen zu beobachten. Wenn einer im nächsten Moment anders beobachtet, dann irritiert mich das nicht, weil ich immer ganz gelassen nur danach frage, wer, was wann unter welchen Bedingungen aktualisiert, - alles kommt nur auf Unterscheidungen an, die im Moment getroffen werden, - und wenn dieser Mechanismus generell funktioniert, zwingt er sich selbst zur Reflexion.

So langsam blicke ich auch auf die Uhr. Da ich bisher meist in Form ‘oppositioneller’ Einwände reagiert habe, will ich Dir zum Abschluß signalisieren, daß ich redlich bemüht bin, Deine Überlegungen konstruktiv nachzuvollziehen. Sehen wir uns die Gesamtgesellschaft an, sie interessiert mich am meisten: Du siehst hier mehrere Systeme mit einer Vielzahl ‘gegeneinander versetzter’ Beobachtungen. Wenn man die Gesellschaft so sieht, so sagst Du sinngemäß, kann man besser sehen und verstehen, wer was wann tut und vor allem warum. Und in der Konsequenz ist man in flexibler Weise sensibilisiert für das, was aktuell geschieht. Wenn jedes System wüßte, daß der Mechanismus so funktioniert, wie Du dargestellt hast, also in der Lage wäre, sich selbst wiederum als Umwelt anderer Systeme zu sehen, dann könnte ein besseres und effektiveres Arbeiten in der Gesellschaft möglich werden. Auch wenn ich das vielleicht etwas hilflos dargestellt habe, so glaube ich doch, daß mir Dein Anliegen in Ansätzen irgendwie deutlich geworden ist; vor allem Dein Hinweis auf den Zeitfaktor hat mich nachdenklich gemacht. Vielleicht können wir unser Gespräch, das ja schließlich nur einen ersten Zugang zu Deinem Denken eröffnen will, mit der Klärung einer vorläufig letzten Frage abschließen. Ich frage mich nämlich, wo in Deiner Theorie der Mensch geblieben ist! Am Anfang sprachst Du von organischen und psychischen Systemen und im Laufe unseres Gesprächs ist für mich immer mehr der Eindruck entstanden, als hättest Du den Menschen bzw. das Subjekt in irgendwie diffuser Form zur Seite geschoben, auseinandergenommen oder totgeschwiegen.

Natürlich gibt es den Menschen. Ich sehe an ihm, da hast Du recht, ein organisches System, d.h. seinen leiblichen Organismus. Ich sehe an ihm auch das psychische System, d.h. sein Bewußtsein. Jetzt gehe ich allerdings weiter und sage, daß andere Systeme, z.B. soziale Systeme wie das Rechtssystem, das politische System usw. mit gleichem Recht existieren. D.h. auch sie beobachten gleichermaßen und arbeiten dabei nicht weniger effektiv. Eher im Gegenteil, wenn man die Gesellschaft zugrundelegt! In welcher Weise die psychischen Systeme (Bewußtseine) mit den sozialen Systemen der Gesellschaft gekoppelt sind, kann und will ich Dir an dieser Stelle nicht erklären (vgl. S. 266). Hier muß der Hinweis genügen, daß sie trotz ihrer Geschlossenheit auf jeden Fall miteinander Kontakt haben und daß auch psychische Systeme auf jeden Fall ihren Beitrag leisten. Aber Deine Frage zielte auf eine viel generellere Ebene und darum will ich Dir wie folgt antworten: Wie ich öfter erwähnt habe, unterscheiden wir uns dadurch, daß ich letztlich nicht alles auf das Subjekt zentriere, indem ich es als ‘Garant der Einheit von Erkenntnis’ in den Mittelpunkt stelle. Denk’ an das, was ich vorhin sagte: Würde ich von dem einzelnen und seinem subjektiven Bewußtsein ausgehen, dann, so lautet mein ‘Standardsatz’, hätte ich das Problem: "welches der ca. 5 Milliarden nehme ich?" Du erinnerst Dich, in letzter Konsequenz hätten wir nur den Streit oder Konsens. Und jetzt mal ehrlich: Warum sind denn so viele frustriert, die in deinem Denkschema denken? Weil sie im Hinblick auf einen spezifischen Punkt keinen Konsens heraufziehen sehen. Und ich gehe noch weiter: Selbst wenn es den Konsens gäbe, wären sie eventuell auch noch nicht weiter, weil ihnen die Situation dann möglicherweise weggelaufen ist. Verändern wir also die Perspektive! In der philosophiegeschichtlichen Tradition wurden die Interessen aus dem Erkenntnisbegriff insofern ausgeklammert, als eine ‘Verobjektivierung’ stattgefunden hat. Und genau das will ich wieder zurückdrehen, - aber nicht dadurch, daß ich mich allein auf die Faktizität psychischer Zustände beziehe und hier die geschichtliche und soziale Bedingtheit der Interessen sehe, sondern indem ich ungeschmälert das Eigenrecht und die Folgewirkung verschiedener autopoietischer Systeme und deren Abhängigkeit betone, in Rechnung stelle und ernst nehme. Was heißt das konkret? Während Du immer auf das Wissen oder die Intelligenz einzelner Personen fixiert bist, sehe ich Regelsysteme von Kommunikationsmustern und Wissensbeständen, die sich von den einzelnen Personen unabhängig gemacht haben. Nehmen wir z.B. die Familie: Hier entwickeln sich auf der Ebene von Sinnstrukturen eingeschliffene Routinen, Rituale und Regeln, die sich zu einer spezifischen (‘korporativen’) Identität eines kommunikativen Netzwerks verdichten und zwar so, daß sich diese Regelhaftigkeit von der Steuerung einzelner Träger gelöst hat. D.h. wenn sich ein einzelner in der Familie ändert, ist damit zwangsläufig noch keine Änderung der Muster erreicht. Nicht einzelne Personen, sondern nur die Beeinflussung der Beziehungsstruktur kann eine Änderung des Netzwerks bewirken. Sehen wir uns die Vorgänge um "Brent Spar" im Jahre 1995 an und die hierdurch ausgelöste Reproduktion der Kommunikation durch Kommunikation. Ist denn hier, so will ich mit Helga Gripp-Hagelstange fragen, "der Mensch die Instanz gewesen, die gesteuert hat, was verstanden, (...) angenommen oder abgelehnt wurde?" Ich sehe mir vielmehr die in den Kommunikationsabläufen praktizierten Zurechnungsmodalitäten an und komme zu einem ganz anderen Schluß: Die Bilder von den Demonstranten auf der Ölplattform haben eine bis dahin ungeahnte Verdichtung kommunikativer Reproduktion freigesetzt, mit der die offizielle Politik für einen Moment regelrecht ‘aus den Angeln gehoben wurde’. Einzelne Personen hatten hier nichts zu melden, - und wenn doch, dann wurden ihre Beiträge sofort von diesem anonymisierten Regelsystem aufgesogen, um die hier etablierten Programme und Sinnstrukturen in der einen oder anderen Richtung (mehr gab es nicht) zu zementieren.

Ein anderes Beispiel: Wie ist Gerhard Schröder Kanzlerkandidat der SPD geworden? Keiner von uns hat im Vorfeld der Niedersachsenwahl 1998 eine große Solidarisierungswelle für diesen Politiker ausmachen können. Ausschlaggebend war für mich die ein Jahr vorher inszenierte Frage: Lafontaine oder Schröder? Damit wurde von der Politik ein Schema entworfen, d.h. eine Differenz aufgebaut, die (im Vorfeld der Niedersachsenwahl) aus sich selbst heraus die Spannung mit jedem Tag aufs Neue intensivierte. Die Medien konnten nicht nur, sie mußten dieses Schema lesen! Es entsprach der Logik ihres Arbeitens. ‘Heiß, wie ein Grillwürstchen’ reproduzierten sie diese Thematik in unendlicher, facettenreicher Intensität, bis hin zu der Frage, welches Lieblingsessen (a oder b?) in der Bundesrepublik prominent werden würde. Alle reproduzierten Inhalte fraßen sich bis in die kleinsten Entscheidungsgremien der Partei vor. Dieser Mechanismus wirkte so kraftvoll, daß einzelne Politiker wie Lafontaine und Müntefering der inzwischen verselbständigten Realität hinterherlaufen mußten, indem sie dafür sorgten, den Termin der Bekanntgabe des Kandidaten vorzuverlegen! Die geschickt angeworfene ‘Kommunikationsmaschine’ hatte bereits alleine alles entschieden; die Kommentare der Beobachter 2. Ordnung lauteten: "Guildo oder Gerhard?"

Wenn Du (immer noch) der Meinung bist, der einzelne Mensch steuere das Geschehen, dann frage doch mal Hanno Hackmann, die Titelfigur des Romans "Der Campus", wie er über Deine Meinung denkt! Er würde Dir sagen, daß z.B. ein Ereignis, das mit Deiner Person verbunden ist, eine von Dir bisher ungeahnte Logik von Wirkungsketten in Gang setzen kann, in die Du immer tiefer hineingezogen wirst, bis Du ihr schließlich hilflos ausgeliefert bist. D.h. quasi ‘hinter Deinem Rücken’ gibt es die Operationsweisen vieler völlig unterschiedlicher Regelnetzwerke, die das mit Dir verbundene Ereignis je für sich mit dem alleinigen Ziel vereinnahmen, um sich selbst in jeweils opportunistisch-eigenwilliger Weise fortsetzen zu können. Und selbst wenn Du die bei mir vollzogene ‘Abwertung’ des Subjekts (immer) mit Argwohn betrachtest, muß ich Dir entgegenhalten, daß es gleichsam eine rührende Illusion ist, wenn Du glaubst, die harte Logik dieser eigendynamisch ablaufenden Geschehensprozesse noch irgendwie aufhalten oder steuern zu können. "Der Mensch", so hat das mal jemand gesagt, "steht (nur) noch am Rande des Geschehens und schaut mehr oder weniger hilflos zu." Hanno Hackmann hat es selbst erlebt, - und fügte sich.

Ein anderes Beispiel: Erinnerst Du Dich an die Studentenproteste der ersten Wochen des Jahres 1998? Hierbei war auffallend, daß sich alle Beteiligten, wie Studenten, Politiker, Professoren und andere (wie z.B. Medienvertreter) einig waren. Hier hattest Du den Konsens, von dem Du praktisch immer träumst! Und was hat er bewirkt? Er hat im Gegensatz zu dem, was sich Konsenstheoretiker dazu ausgedacht haben, nichts, aber auch gar nichts in Gang gesetzt oder vorangebracht! Der Blick auf die einzelnen Individuen hat die Offenlegung und Analyse anonymisierter Regelnetzwerke blockiert, so daß die darin verborgenen Zuständigkeiten, Beziehungsstrukturen und Wirkungsweisen nicht ans Licht kommen konnten und damit die Frage regelrecht verschluckt worden ist, wie denn nun was zu tun ist! Ich möchte bei Dir also, und mehr möchte ich an dieser Stelle nicht erreichen, eine Sensibilität dafür wecken, daß es ein großer Irrtum ist, wenn Du davon ausgehst, der einzelne könne die Gesellschaft gestalten. Ich gebe Dir zwar recht, daß wir die Zurechnung der Dinge auf den Menschen letztendlich nicht vermeiden können, aber, und mehr will ich nicht sagen, wir können diese Illusion durchschauen und sind in der Lage, uns in der Theorie davon unabhängig zu machen. Sind wir mit einem solchen Ansatz nicht ungleich näher an der Gesellschaft dran?

Das hat sich streckenweise schon recht faszinierend angehört; - aber irgendwie habe ich den Eindruck, Deine Theorie liest sich wie eine einzige ‘Anleitung zum Unglücklichsein’.

Ich vermute, ich weiß, was Du meinst. Wenn Du z.B. sagen willst, daß meine Theorie einen enormen Abstraktionsgrad erreicht hat, der völlig vom traditionellen kausallogischen Denken entfernt ist, dann bist Du mit Deinem Einwand natürlich nicht allein. Von verschiedenen Autoren wird ausdrücklich darauf hingewiesen, und wir haben es eben ja selbst gesehen, daß bei mir z.B. gegenüber Nietzsche und Adorno der Gedanke der Nichtidentität am konsequentesten operationalisiert ist und vor allem auf das Subjektverständnis ausgedehnt wird. Und selbst wenn man nachvollziehen kann, daß ein solcher Schritt theorietechnisch notwendig ist, um zu einer differenzierteren Betrachtung der Dinge zu kommen, ist damit zugegebenermaßen noch lange nicht gesagt, daß man die Aufgabe der alteuropäischen Denkgeste ‘Subjekt denkt Objekt’ auch tatsächlich praktizieren kann. So betont z.B. Helga Gripp-Hagelstange im Anschluß an Gerhard Roth ausdrücklich, daß ich im Rahmen meiner Theoriekonstruktion eine Unterscheidung zu beseitigen versuche, die ontogenetisch überaus stark verfestigt ist und die (wie Roth glaubt) auch nicht durch Denken wieder beseitigt werden kann. Und ich kann Dein ‘Unwohlsein’ insofern verstehen, als man mehr oder weniger wohl gezwungen ist, mein Theoriedesign auf einer Meta-Ebene nachzuvollziehen; d.h. auf der Ebene des Nachdenkens über die Theorie als Theorie. Andererseits, - wenn Du derjenige bist, der nie müde wird zu betonen, daß unsere Gesellschaft ‚entwurzelt‘ bzw. ‚bodenlos‘ verfaßt ist, gleichsam ‘frei schwebend’ um sich selbst kreist, dann frage ich Dich: Muß nicht eine Theorie ebenso verfaßt sein, wenn sie den Anspruch erhebt, eben diese Gesellschaft angemessen strukturreich erklären zu wollen?

 

3.2. Der differenztheoretische Ansatz der Systemtheorie als exemplarisches Modell ‘bodenlosen’ Denkens

Der fiktive Dialog des vorangegangenen Abschnitts trägt den Titel "Das Sein ist obsolet." Es sollte dort herausgearbeitet werden, daß Luhmann die traditionelle Subjekt-Objekt-Problematik, die Adorno noch aus dem Inneren des Verhältnisses heraus lösen wollte, vollends hinter sich gelassen hat. Die klassische Vorstellung von Identität, daß nämlich der Gegenstand des Erkennens als ein Für-sich-Seiendes, als ein Gegenüber der beweglichen Subjektivität identisch Beharrendes zu denken ist, wird durch eine systemtheoretische Definition ersetzt: Selbstbezüglich operierende Systeme auf der Ebene natürlichen, psychischen und sozialen Lebens treten in den Mittelpunkt. Mit Hilfe der Differenz von Selbstverweisung und Fremdverweisung, so sollte oben deutlich werden, gewinnen sie Informationen, die ihnen die Selbstproduktion ermöglichen, so daß Selbstreferenz (auf jeder dieser Ebenen) zum Merkmal des Seienden wird. Daraus folgt, daß die Andersheit der durch Selbstreferenz gekennzeichneten einen Seite, wie Helga Gripp-Hagelstange feststellt, "nicht als eine von Subjekt und Objekt verstanden werden kann, sondern, daß auf beiden Seiten das Andere das jeweils nicht Gewählte der für alle Informationsverarbeitung notwendigen Differenzschemata ist." In der Konsequenz kann Luhmann also nicht mehr sagen, "Das ist das Identische!", oder "Das ist die Gesellschaft!", sondern er kann nur noch Mechanismen angeben, wie Identität aktuell entsteht und wieder zerfällt, in welcher Konstellation von Elementen die Gesellschaft aktuell beobachtbar ist. D.h. in durchweg ‘verflüssigten’ und dynamischen Prozessen der Selbstorganisation kann Luhmann nur noch momentan gültige ‘Relevanzen’ festhalten, die alsbald ihre organische, psychische oder soziale (de facto) Prägekraft zugunsten neuer Konstellationen wieder verlieren. Das systemtheoretische Denken Luhmanns fragt also, wie Gripp-Hagelstange anschaulich herausstellt, "nach der Art der Ordnung, die das Seiende sich selbst gibt (Hervorhebung von mir, S.F.) und die als Auswahl aus anderen Seinsmöglichkeiten verstanden werden muß." Hierbei, und das ist entscheidend, gibt es keine gleichsam notwendige oder verbindliche Ordnung mehr. Alles könnte ebensogut anders sein. Und selbst das, was (wie auch immer) an Selbstproduktion aufgebaut wird, ist niemals das ‘an sich’ Gegebene: "Alle Asymmetrien, die dem Erleben und Handeln zugrunde gelegt werden, sind in selbstreferentielle Zirkel hineinfingiert – sozusagen als künstlich-begradigte Strecken, die aus praktischen Gründen als endlich behandelt werden (Hervorhebungen von mir, S.F.). Das gilt für Deduktion, das gilt für Kausalität. Aber Begradigung, Asymmetrierung, Externalisierung und, wenn man so sagen darf, Apriorisierung sind ihrerseits selbstreferentielle Prozesse, wie immer getarnt (...) als Aussagen über Natur oder Bewußtsein. Alle ‘regulativen’ Ideen bleiben daher Projektionen; sie gelten nur so, als ob sie gelten würden, und dies, weil dies als Notlösung benötigt wird." Identität, so hatten wir herausgestellt, ist immer eine "virtuelle, an Horizonte geknüpfte Identität", d.h., sie ist ein im fließenden Strom des Operierens ‘festgehaltenes’ Moment zum Zeitpunkt X. Dieses Moment kann nur deshalb ‘da’ sein, weil es definiert ist durch seinen (prinzipiell willkürlich gefaßten) Unterschied zu etwas anderem. Während sich Adorno (immer noch) für ein letztes Prinzip interessiert, das allen Erscheinungen zugrundeliegt, seine Dialektik, wie wir oben zu zeigen versuchten, an der Leitdifferenz der "Identität von Identität und Differenz" entwirft, steht für Luhmann dagegen ein strukturell neues Paradigma im Mittelpunkt: die "Differenz von Identität und Differenz." Und diese Differenz, die letztlich darüber entscheidet, daß überhaupt etwas Beobachtbares in die Welt treten kann, lebt von der prinzipiellen Offenheit ihrer Konstruktion, nimmt alle generierten ‘Formen’ mit Gleichmut hin.

Das Denken hat hier jeden ‘Halt’ verloren.

IV Zwischenbetrachtung: Zur begrifflichen Bestimmung gemeinsamer Strukturmerkmale von Denken, Gesellschaft und Subjektivität

In den ersten Kapiteln ging es um den Versuch, auf phänomenologischer Ebene die Bodenlosigkeit des Subjekts und der Gesellschaft an exemplarischen Teilbeobachtungen aufzuweisen, sowie die Entwurzelung des Denkens anhand der Denkmodelle Nietzsches, Adornos und Luhmanns skizzenhaft darzustellen. Die nun folgende Zwischenbetrachtung versucht aus einer gleichsam rückwärts gerichteten Perspektive, die Ausführungen der drei vorangegangenen Kapitel auf einer abstrakteren analytischen Reflexionsebene zusammenzuziehen. Es geht hier um den Versuch, die bisherigen Beobachtungen auf gemeinsame analytische Kategorien der 'Entwurzelung‘ zu reduzieren. Beginnen wir mit der Kategorie der Differenz, die in allen gesellschaftlichen Kontexten wie auch in den genannten Theoriemodellen, als durchgängiges Strukturprinzip enthalten ist.

1. Differenz:

Wie oben angesprochen, ist der Ausgangspunkt der Luhmannschen Systemtheorie nicht die Einheit eines ‘stabilen’ substantiellen Identitätsbegriffs, sondern das Prinzip der Bewegung, der aktuell gegebene Zusammenstand eines differentiellen Geschehens. Soll aus dieser Bewegung etwas Bleibendes entstehen bzw. erkennbar werden, muß es ein Prozessieren von Unterscheidungen geben. Im Mittelpunkt der Luhmannschen Theorie stehen also pluralistische Differenzen in Form stets wechselnder Grenzen zwischen Innen und Außen, System und Umwelt. Differenz ist die Funktionsprämisse selbstreferentieller Operationen, anders gesagt: die Differenz ist zwischen zwei Komplexitäten (System und Umwelt) jenes Prinzip, das Selektion und letztlich Form ermöglicht. Spricht man vom System, so handelt es sich um ein gegenwärtiges Geschehen als die Differenz von Vergangenheit und Zukunft; spricht man von der Gesellschaft, so handelt es sich um die Differenz konkurrierender autonomer Funktionssysteme und ihren höchst widersprüchlichen Teilsystemrationalitäten.

Auch Adornos Denken richtet sich gegen die mythisch-wahnhafte Überhöhung und Verabsolutierung geschlossener philosophischer Urprinzipien. Statt dessen will er das Wesen der Dinge dadurch in ihrer Vielfalt, Ungeordnetheit und Widersprüchlichkeit sehen und ernst nehmen, daß er die Nichtidentität des vermeintlich Identischen in permanenter Reflexion thematisiert und bewußt zu machen versucht. Das Ringen mit Differenzen als Methode und realem Prozeß ist nichts anderes als die praktische Entfaltung des Satzes "Das Ganze ist das Unwahre."

Auch für Nietzsche ist das Leben nicht durch Einheit und die Tendenz zur Harmonie bestimmt, sondern durch die polare Spannung von Gegensätzen, durch das ewige schöpferische Spiel spontaner und widerstreitender Kraftäußerungen. Nietzsche wehrt sich gegen die metaphysische Vereinheitlichung und Verobjektivierung der Realität und wendet sich in offensiver Bejahung den Differenzen der binnenweltlichen Dinge zu. Erkennen ist für Nietzsche immer Erkennen im Hinblick auf die Differenzen von Autorschaft und Zeitstellen.

Auf gesellschaftlicher Ebene zeigt sich die Kategorie der Differenz in der Kluft zwischen den universalen, abstrakten Steuerungsmechanismen politischer und wirtschaftlicher Globalisierung einerseits und der strukturellen Beschränkung nationaler politischer Handlungsmöglichkeiten andererseits. Hier gibt es die Differenz zwischen dem Machtanspruch institutioneller Politik und ihrem real sehr begrenzten Problemlösungsvermögen, die Differenzen zwischen der politischen Aushöhlung institutioneller Politik der Großorganisationen und der brisanten politischen Aufladung dezentraler subpolitischer Teilarenen. Und selbst dort wiederum stoßen wir auf die unversöhnlichen Antagonismen der Plausibilitäten, d.h. auf die Differenz pluraler subpolitischer Geltungs- und Machtansprüche, die sich in einem verschärften moralischen Klima quer zueinander artikulieren.

Auf der Ebene der Kultur und der Religion geht es nicht darum, das Universale zu entdecken, sondern in den Strukturen einer verhärteten Standardisierung das Differenzieren zu praktizieren, zu rechtfertigen und mit enormer Energie zu inszenieren. Nicht miteinander geteilte, sondern buchstäblich verteilte differentielle Erfahrungen stehen im Mittelpunkt kulturellen und religiösen Lebens. Im Bereich der Medien zeigen sich pluralistische Differenzen in den krassen Bruchstellen zwischen realer, authentischer Erfahrung und den konstruktiven Mechanismen digitaler und synthetischer Simulation.

Die Kategorie der Differenz zeigt sich auch auf der Ebene der Subjektivität. Das Subjekt der Moderne, so haben wir oben dargelegt, ruht gerade nicht in einem ‘statischen’ Gehäuse stabiler Ausgewogenheit und Ganzheit, sondern ist dadurch gekennzeichnet, daß sich Heterogenität, Divergenzen und Widersprüche mitten in die Subjektivität hineinverlagert haben. Das o.g. Modell "Wir sind, wenn wir tun" lebt geradezu von der Differenz der Aktivitätsformen, der Attribute und der symbolträchtigen Inszenierungen. Sie werden entdeckt, aufgebaut und wieder verworfen. Nicht der Inhalt einer Wahl ist entscheidend, sondern nur, daß gewählt und daß wieder verworfen wird. Stets wird das Neue in Differenz zum Alten entdeckt, - das ‘Anders-sein-können’ wird zur Pflicht. Nur so läßt sich Individualität in der Gesellschaft darstellen und behaupten. Wir erinnern in diesem Zusammenhang an die Aussage Luhmanns, daß nur derjenige Achtung verdient, der gegen die Gesellschaft ist. Man wird (erst) wahrnehmbar in der Differenz.

2. Horizontalität

Aus der Kategorie der Differenz folgt bei Luhmann zwangsläufig die der Horizontalität. Das Gesamtsystem, so Luhmann, multipliziert sich selbst als Vielheit interner System-Umweltdifferenzen. Statt des einen Standortes, von dem her die Gesellschaft verbindlich beschrieben werden könnte, gibt es eine sich in die Breite fortpflanzende unendliche Vielzahl kommunikativer Realitäten bzw. zahlloser Realitätskonstruktionen der Systeme, die alle "gleichen Rechts" neben- und durcheinanderstehen. In diesem kommunikativen Zusammenspiel autonomer und zugleich interdependenter Teile vollzieht sich in horizontaler Ausbreitung des Partikularen der unendliche Prozeß des Aufbaus, Zerfalls und Neuentwurfs struktureller Kopplungen. Die reflexive Abstimmung der Vielheit (ohne Einheit erreichen zu können) wird zum Neuentwurf von Rationalität.

Das Interesse Adornos liegt dort, wo das Einzelne, Besondere, Verstreute und Begriffslose ist. In der horizontalen Verflüchtigung des Vielen zeigt sich für ihn das wahrhaft Identische; es zeigt sich widerspenstig gegen die zurichtenden Versuche seiner Identifikation. Gerade auf diesem Schauplatz der zugelassenen Vielheit ist der einzig legitime Ansatzpunkt für ein Denken in Konstellationen zu finden, dem es nicht um gewaltsame Zurichtung geht, sondern das sensible Verhältnisbestimmungen praktiziert, um das Eigenrecht des Partikularen zu sichern.

In wortgewaltiger Kraft artikuliert sich die Kategorie der Horizontalität bei Nietzsche: Wie bereits erwähnt, macht er die Erfahrung der "Überfülle der Vielen" in den binnenweltlichen Dingen. Von hier ausgehend, so Nietzsche, kann man die Welt nur durch das schöpferische Interpretationsgeschehen eines perspektivisch-relationalen Denkens wahrhaft verstehen. Ein solches Denken zielt immer auf die Breite, läßt bereits von seinem Ansatz her den Reichtum des Vielen zu. Auch wenn Nietzsche mit seinem Begriff vom Willen zur Macht einer metaphysischen Einheitskonzeption verhaftet bleibt, so ist daran zu erinnern, daß es den Willen zur Macht nur im Plural geben kann: Hier artikuliert sich in der expressiven Ausweitung zufälliger zielloser Spiele die Übersteigerung und Übermächtigung pluralistischer, höchst widersprüchlicher Kräfte-Relationen, die letztlich nichts anderes bedeuten als das Leben.

Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen dieses Abschnitts ist es bestechend zu sehen, mit welcher Klarheit die Kategorie der Horizontalität gerade auch aus der Gesellschaft hervortritt. So wurde oben bereits am Beispiel der Politik aufgezeigt, daß trotz der Allgegenwart und Übermacht der Parteien und bürokratischer Administrationen die eigentliche politische Gestaltungsmacht in die breite Fläche dezentraler gleichberechtigter subpolitischer Artikulationsforen bzw. abstrakter, frei schwebender "Skripts" (vgl. S. 61) abgewandert ist. In horizontaler Verflechtung und ausdehnender Zerstreuung sind die Konturen einer ‘dilettantischen Verhandlungsgesellschaft’ erkennbar, die zuweilen vom eigenen politischen Erfolg selbst überrascht wird.

Auf der lebensweltlichen Ebene kultureller Ausdrucksformen und religiöser Praxis skizzieren die Begriffe "Multioptionalität" (Peter Gross) und "Markt der Möglichkeiten" (Ev. Kirchentag) die überschwengliche Aktivität und selbstverliebte Experimentalität unzähliger Formen von Erlebnis- und Selbstverwirklichungssuche. Oben wurde hinlänglich beschrieben, daß der ehemals vertikale Kulturbegriff durch das Spezifikum horizontaler Zerfaserung kultureller und religiöser Ausdrucksformen verdrängt wurde.

Auch auf dem Gebiet der Medien finden wir die Kategorie der Horizontalität. Alles hat sich in einem gewaltigem Umfang ausgebreitet: die Informationsmenge, die technologische Innovation sowie das ökonomische Gewicht des Medienmarktes. Beim Fernsehen beobachten wir die Ausdifferenzierung weiterer Sender und Programmangebote, im Internet die ständige Erweiterung und Verdichtung autonomisierter Digitalkommunitäten.

Auf der Ebene der Subjektivität finden wir das gleiche Bild: Eine unübersehbare, breit gestreute Vielfalt von Aktivitätsformen, Attributen, Symbolen, Sprachstilen und Lebensdeutungen dient der Inszenierung des individuellen Selbst. In spielerisch-experimenteller Weise werden diese Elemente miteinander kombiniert, werden z.T. expressiv ausgelebt und wieder verworfen, weil ihr Profilierungswert verschlissen ist. Ein gleichsam unerschöpfliches Reservoir neuer Optionen bietet sich erneut an. Die Subjekte haben diesen Steigerungsimperativ verinnerlicht und praktizieren ihn mit Gleichmut.

3. Rekursivität:

Im folgenden soll gezeigt werden, daß das Prinzip der Horizontalität auf allen hier vorgestellten Ebenen zwangsläufig in die Kategorie der Rekursivität einmündet: Der in die Breite ausufernde Steigerungsimperativ wird letztlich auf sich selbst zurückgeworfen. Mit wechselnden Inhalten reproduziert er in unerbittlicher Wiederholung stets nur seinen eigenen Mechanismus und überbietet sich darin an Schnelligkeit. Aus den oben angestellten Betrachtungen zur Systemtheorie Luhmanns dürfte zumindest ansatzhaft deutlich geworden sein, daß Systeme nicht statisch in sich verharren, sondern laufend mit der rekursiven Herstellung von Eigenwerten dynamischer Stabilität befaßt sind. Systeme leben von ihrer autopoietischen Selbsterneuerung. Rekursivität ist dabei der Schlüsselmechanismus, der die Vernetzung der Elemente, die Strukturbildung oder die Schließung des Systems auf operativer Ebene ermöglicht und damit die Voraussetzung dafür schafft, daß eine Änderung eigener Zustände durch wiederum eigene Operationen erfolgen kann. Bei Luhmann zeigt sich Rekursivität in dem unentwegten Prozeß des Aufbaus und Zerfalls struktureller Kopplungen. Während der begründete Nachweis von Rekursivität bei Nietzsche offensichtlich zutage tritt, gestaltet sich die Argumentation bei Adorno vielschichtiger und schwieriger. Das angesprochene Denken in Konstellationen läßt u.E. bereits eine rekursive Struktur erkennen. Es will sich gegen die Plattheit begrifflicher Affirmation zur Wehr setzen. So, wie der Gegenstand durch seine Geschichte geworden ist, muß auch das Denken seine eigene Genese erkennen und damit die eindimensionale Richtung verlassen. In der dialektischen Beziehung von Subjekt und Objekt geht es um die dynamisch-zirkuläre Verweisungsstruktur von Relationen, die in ihrer Vielschichtigkeit aufzudecken ist und nicht nach einer Seite aufgelöst werden darf.

Nietzsche spricht vom Kreis als dem Urgesetz allen Werdens, vom Rad des Aufbaus und der Zerstörung, von der ewigen Wiederkehr als dem Wesen des Zeitlaufs selbst. Die Linearität der Zeithorizonte Vergangenheit und Zukunft werden durch Nietzsche aufgelöst und ersetzt durch die Konzentration auf das augenblickliche Jetzt als einzige Realität. Das Vergehen kommt als ständiges Werden immer wieder und wird damit im Jetzt des Augenblicks beständig. Die Rekursivität liegt bei Nietzsche nicht nur in der offensichtlichen Kreisbewegung der Zeit, sondern ist bereits direkt aus der horizontalen Struktur seines empirischen Perspektivismus ableitbar. Sie zeigt sich in der ewigen Wiederkehr des schöpferischen Aufbaus und der destruktiven Zerstörung unendlicher Interpretationsgeschehen, die im Augenblick des Jetzt die einzige Realität darstellen.

Wenn sich die politische Gestaltungsmacht, wie oben dargestellt, in die horizontalen Verästelungen dezentralisierter Artikulationsforen bzw. abstrakter Mechanismen verflüchtigt hat, dann besteht eine entscheidende Konsequenz darin, daß das ‘linear voranschreitende’ Durchfechten ‘in sich ruhender’ Inhalte mehr und mehr ersetzt wird durch die Hinwendung zur kurzlebigen Aktualität tagespolitischer Bedeutsamkeiten. D.h. nicht die Kontinuität der Inhalte, sondern der fomale Mechanismus schiebt sich nach vorn: Alles gerät in den rekursiven Kreislauf der Artikulation von Geltungsansprüchen. Ganz plötzlich werden Inhalte ("Murorroa", "Scharping" im Jahre 1996) in diesen Kreislauf hineingezogen und genauso schnell, sofern sie verbraucht sind, wieder ausgeschieden und durch andere ersetzt.

Ähnlich plakativ läßt sich die kreisende Dynamik auf der Ebene kultureller und religiöser Ausdrucksformen beobachten: Die enorme Dichte pluralistischer Optionen kann nur dadurch bewältigt werden, daß man zugreift und verwirft. Das kreisende Karussell um die Fülle der Optionen wird nur verlangsamt, um verbrauchte Elemente gegen aktuelle auszuwechseln. Oben wurde gezeigt, wie in wachsender Schnelligkeit und Veränderungsdynamik sämtliche Inhalte auf kurzlebige ästhetische Interessen hin relativiert und damit ausgehöhlt werden, bis sich wiederum das Neue anbietet, um später seinen Verfall in gleicher Weise einzugestehen.

Aus den Betrachtungen zur Mediengesellschaft ging hervor, daß beim Fernsehen ebenso wie im Cyberspace der traditionelle Begriff der Öffentlichkeit abgelöst worden ist durch die fließende Struktur autonomisierter Kommunitäten, die aktuell entstehen und sich in anderen Kontexten neu generieren. Der Zuschauer oder Mediennutzer wird selbst zum Erfinder seiner Informationen. In selbstreferentieller Bewegung kreist das Individuum als Nutzer des Mediums um sich selbst. Diese Feststellung steht nicht im Widerspruch zu der Beobachtung, daß auch zwischen den Anbietern bzw. Sendern auf der einen und den Nutzern bzw. dem Publikum auf der anderen Seite zirkuläre Verhältnisstrukturen wechselseitiger Erwartungen bestehen: Erwartungen des Publikums bestimmen die Themenselektion, redaktionelle Entscheidungen orientieren sich an den beobachtbaren Veränderungen der Aufmerksamkeitswerte des Publikums. Am Beispiel des Internets wurde gezeigt, daß das Kommunizieren hier strukturell nicht zum Ziel einer irgendwie angestrebten Übereinstimmung führt, sondern auf die ständige Erweiterung und Potenzierung von Varianten angewiesen ist: Die unaufhörliche Dynamik von Einspeisung und Abrufung, von Präsenz und Verschwinden, Herstellung (des Materials) und Dekonstruktion hat die Grundform selbstbezüglicher Rekursivität angenommen.

In unseren Betrachtungen zur Subjektivität hatten wir bereits gesehen, daß die hohe Verdichtung erlebniszentrierter Aktivitäten, die hektische Betriebsamkeit zur Inszenierung des Selbst zwangsläufig in einen Kreislauf einmünden. Das oben vorgestellte Bild von den kreisenden und rastlosen Knüpfbewegungen der Spinne kann die rekursive Struktur dieses Mechanismus veranschaulichen. Das Subjekt hat sich selbst als Objekt eigener Bearbeitung entdeckt. Die Inhalte sind dabei nicht entscheidend, sie kommen und gehen. Der Mechanismus bleibt. Er ist deshalb rekursiv, weil ein immenser ‘Antriebsmotor’ im Innern des Subjekts ausschließlich damit befaßt ist, den Prozeß des Auf- und Abbaus von Relevanzen bzw. die kreisende Bewegung von Auswahl und Verwerfung lebendig zu halten: Das jeweils neu Gewählte erweist sich dabei als das (stets) Immergleiche.

4. Paradoxalität:

Aufbauend auf den anderen hier vorgestellten Kategorien wird die Grundform der Paradoxalität von uns als charakteristische Artikulation von Bodenlosigkeit und Entwurzelung angesehen. Mit Blick auf die (unausgesprochenen) Paradigmen des traditionellen philosophischen Denkens will Luhmann gleichsam voraussetzungslos anfangen und stößt in der Analyse dessen, was er im empirischen Tun (u.a. der Menschen) vorfindet, auf durchgängig paradoxe Strukturen. Er findet sie zunächst in der Grundform des Beobachtens, schließlich in der Reflexion des Zeitbegriffs, in der Frage der gesellschaftlichen Einheit, in dem systemtheoretischen Neuentwurf des Wahrheitsbegriffs, in der (analogen) Neufassung von Rationalität bis hin zu der paradoxen Beobachtung, daß das Individuum in der Welt der Systeme einerseits nichts ausrichten kann, andererseits in seinem Eigenrecht vom systemtheoretischen Denken her viel ernster genommen wird als in herkömmlichen Denkmodellen. In den philosophischen Strömungen der alteuropäischen Tradition gibt es in der Einschätzung Luhmanns unzählige Bemühungen, entdeckte Paradoxien zu verschleiern oder unkenntlich zu machen. Luhmann wehrt sich gegen die Versuche, Paradoxien mit Hilfe traditioneller Logik und Rhetorik lösen zu wollen, weil sie letztlich nicht lösbar sind. Gerade deshalb darf man sie entsprechend seiner Forderung nicht verdecken, sondern muß sie offenlegen, in Gebrauch nehmen und damit bearbeitbar halten; das aber bedeutet, das Paradox als Letztformel zu akzeptieren.

Das Bemühen Adornos, die Einheit des Vielen zur Sprache zu bringen, die eigene Identität der Sache gegen ihre Identifikation zu denken, verlangt die Anstrengung, wie Adorno sagt, "über den Begriff durch den Begriff hinauszugehen." Hiermit soll ein Denken an der Grenze der Identitätslogik mitteilbar gemacht werden; es zeigt sich die Paradoxie eines Denkens, das noch nicht zu sich selbst gekommen ist.

Auch Nietzsches Philosophie ist ein Denken auf der Grenze, der Versuch, das Äußerste zu wagen. In seinem Ziel, das verstreute Viele zur Geltung zu bringen, zu seinem Recht zu verhelfen, um damit Trug und Verkürzung zu vermeiden, gerät er andererseits doch wieder in die Fallstricke einer metaphysischen Letztbegründung. Angetreten mit dem Anspruch, die polare Spannung der Differenzen in ihrer Pluralität denkerisch zu reflektieren und auszuhalten, kommt er letztlich zum traditionellen "Glaubenssatz" der Einheit zurück, kann dem Paradox nicht entrinnen.

Eine nur oberflächliche Betrachtung erkennt bereits den Grundzug der Paradoxalität auf gleichzeitig mehreren Ebenen der Politik. Die gewachsene Komplexität institutioneller politischer Machtstrukturen steht im krassen Widerspruch zu ihren realen Handlungsmöglichkeiten und Erfolgen. Die genuinen Entscheidungszentren sehen sich durch die politische Aufladung frei schwebender subpolitischer Bereiche entmachtet. Politik, die, so hat man den Eindruck, nötiger ist denn je, begegnet uns statt dessen vielfach reduziert auf Ritualität und Symbolik. Politik braucht in immer höherem Umfang die kognitive Bewältigung von Komplexität, die kühle, analytische Zerlegung gewaltiger Netzwerke und ihrer Zusammenhänge; statt dessen regiert die verlockende Einfachheit der Skripts, wird vieles auf emotionales und ästhetisches Interesse reduziert und plötzlich werden Belanglosigkeiten politisch gefährlich. Unter dem Zeichen der Globalisierung erkennt man eine gewaltige Aufblähung internationaler Vernetzungen, zugleich entleeren sich die Nationalstaaten nach Innen: Politische Trägergruppen und Trägermilieus zerfallen, sie verflüchtigen sich in unpolitische subkulturelle Eigenwelten oder lassen den Bürger in seiner Vereinzelung zurück.

Ein ähnliches Bild zeigt sich im Bereich der Kultur:

Einerseits ist die Kultur durch den Pluralismus lebensweltlicher Ausdrucksformen reicher geworden und vermag die vielschichtigen, bunten Aspekte kultureller Artikulationen authentisch zu spiegeln. Andererseits verfehlt sie damit ihr eigenes ursprüngliches Ziel, nämlich den Aufbau gemeinschaftsstiftender kultureller Identität als Mitte der Gesellschaft. Es entsteht der Eindruck, daß in dem Maße, in dem alle den Pluralismus kultureller Ausdrucksformen partizipierend mitvollziehen, alle zugleich an der Entleerung bzw. Aufhebung der Kultur arbeiten und damit die Tendenz zur Vereinzelung des Individuums beschleunigen. Die lebensweltlichen Ausdrucksformen kultureller Aktivität, die einerseits als praktischer Vollzug nie dagewesener personaler Freiheit gefeiert werden, entbergen andererseits die harten Eigengesetzlichkeiten gewaltsamer Standardisierung. Im Bereich der Religiosität ist zu beobachten, wie man einerseits der institutionell-etablierten Religion des Christentums entflieht und andererseits in hektischer Aktivität zu alternativen, vulgären Formen der Pseudo-Religiösität zurückfindet. Hierbei geht es nicht mehr darum, das Universale zu entdecken; vielmehr werden Interessen, Aktivismen und Beteiligungsformen in Dienst genommen, um individuelle Differenzierungen gegeneinander aufzubauen, zu rechtfertigen und symbolträchtig darzustellen. Die wachsende lebensweltliche Indifferenz gegenüber der Institution der christlichen Kirche steht im Widerspruch zu den Massendemonstrationen zur Bewahrung des Kreuzes als Symbol und Konstante kultureller Herkunft. Der auf Kirchentagen beschworene Ruf nach der kulturell-normativen Einheit der Gesellschaft wird durch die selbstgegebene Antwort pervertiert.

Zur Paradoxalität in den Medien: Durch die wachsende Zahl der Sender und digitaler Vernetzungen steigt die Einflußmacht der Medien in einem bisher beispiellosen Ausmaß. Parallel zu dieser Entwicklung werden mediale Inhalte einer verstärkten Fragmentarisierung ausgesetzt und damit bis zur Bedeutungslosigkeit im o.g. Sinne (vgl. S. 84) relativiert: Die unübersehbare Fülle des Gebotenen erweist sich letztlich als die versteinerte Form des Immergleichen. Der Anspruch der Sender, das Authentische zu zeigen, steht im Widerspruch zu den gewachsenen Möglichkeiten virtueller Manipulation (vgl. S. 92). Die durch das Internet erreichte Annäherung der Individuen zueinander steht im Widerspruch zu jener sozialen Distanz, die in der spezifischen Qualität virtueller Begegnung begründet liegt. Die vom Internet-User erlebte Freiheit der Handlungsmöglichkeiten erweist sich letztlich nur als programmierte Variable, d.h. ist begrenzt durch künstliche, im Voraus festgelegte Parameter. Die durch das Internet forcierte Entwicklung zur Globalisierung steht im krassen Widerspruch zu gesellschaftspolitischen Bewegungen des Rückzugs auf Provinzialität und nationalstaatliche Identität.

Die Kategorie der Paradoxalität finden wir auch auf der Ebene des Subjekts. Was hier vordergründig als Freiheit individueller Selbstbehauptung dargestellt wird, ist in Wirklichkeit Ausdruck vollkommener Marktabhängigkeit. Wir hatten bereits gesehen, daß die vermeintliche "Authentizität des Selbst" nichts anderes ist als der Konsum vorgefertigter Muster und uniformer Rollen. Die Freiheit zum Selbst ist nichts anderes als die Abhängigkeit von Experten. D.h. der dominante Mechanismus, mit dem sich die Subjekte auf dem ‘Forum’ der Gesellschaft zur Geltung bringen bzw. inszenieren, spiegelt letztlich nur die ‘harte’ Logik kollektiver Standardisierung und harter Außenkontrolle.

 

 

Zweiter Teil: Die Parallelität der ‘Bodenlosigkeit’ von Gesellschaft, Subjektivität und Denken – Ein systemtheoretischer Erklärungsversuch

Im folgenden, zweiten Teil dieser Arbeit geht es um den Versuch, die Bodenlosigkeit der Gesellschaft, der Subjektivität und des Denkens zu erklären. Der Erklärungsversuch erfolgt im ‘Medium’ der Systemtheorie Niklas Luhmanns; denn im fiktiven Dialog des vorangegangenen dritten Kapitels haben wir nachzuweisen versucht, daß das systemtheoretische Denken selbst ‘bodenlos’ verfaßt ist und daher in besonderer Weise geeignet sein kann, Erklärungsbeiträge für unsere Beobachtungen und Behauptungen zu liefern.

Im folgenden werden wir die Gesellschaft, die Subjektivität und das Denken zunächst jeweils gesondert betrachten und im Anschluß hieran versuchen, die Parallelität von Kognition und Sozialität sowie die Parallelität von Subjektivität und Sozialität im Rahmen der Systemtheorie Luhmanns zu erklären. Es wird sich zeigen, so unsere Behauptung, daß dies in faszinierender Weise möglich ist.

I. Die Gesamtgesellschaft als zentrifugales Beziehungsgeflecht autonomer, funktional differenzierter Teilsysteme

Wenn wir nun im Kontext systemtheoretischen Denkens funktionale Differenzierung als Strukturmerkmal der Gesellschaft beschreiben wollen, dann fällt der Einstieg nicht leicht. Denn aufgrund der rekursiven Struktur der Theorie sind Begriffe (wie z.B. Medium, Code u.a.) vorauszusetzen, deren Erläuterung jedoch mit Blick auf die hier angezielte Thematik nicht vorgeschaltet werden können. Fallen wir also ‘mit der Tür ins Haus’ und wir werden sehen, daß Vieles von dem letzten Kapitel dieser Arbeit, d.h. von rückwärts gesehen, verständlicher werden kann.

Luhmann legt dar, daß sich Kommunikationen verschiedener sinnhafter Bezüge voneinander abgesetzt und sich schließlich als je geschlossene Verweisungszusammenhänge gegeneinander ausdifferenziert haben. D.h. wir haben uns Identitätsdiskurse vorzustellen, die sich auf den jeweils spezifischen Ebenen z.B. des Rechts, der Politik, der Ökonomie und der Erziehung geschlossen haben. Die hier etablierten ‘Semantiken’ haben es sozusagen geschafft, für sich selbst ihre Funktion zu ‘monopolisieren’ und all das, was außerhalb dieses Sinnbezuges liegt, bleibt irrelevant. Irgendwann, so Luhmann, "beginnt sich die Rekursivität der autopoietischen Reproduktion selbst zu fassen und erreicht eine Schließung, von der ab für Politik nur noch Politik, für Kunst nur noch Kunst... (zählt).. und die entsprechenden gesellschaftsinternen Umwelten nur noch als irritierendes Rauschen, als Störungen oder Gelegenheiten wahrgenommen werden."

Die Geschlossenheit kommt dadurch zustande, daß es auf der Ebene jedes Kommunikationszusammenhangs ein Differenzschema gibt, das genau bestimmt, was bzw. wie erkannt wird, das gewissermaßen festlegt, welche Kommunikation zu welcher gehört, an was mit Anschlußhandeln angeschlossen werden kann. Durch diese ‘Unterscheidungsschemata’ sind dezentrale Konfigurationen eigenständiger selbstreferentieller gesellschaftlicher Teilsysteme entstanden.

Am Beispiel der Wissenschaft zeigt Luhmann auf, daß mit der Differenzierung in Disziplinen, Teil- und Unterdisziplinen eine inzwischen beängstigend hohe Kapazität der Informationsverarbeitung, eine hohe Elastizität und Dichte im Strukturaufbau eines einzelnen Systems erreicht worden ist. So, wie die Wissenschaft sich aus sich selbst heraus reproduziert, ihre Kontinuität in der Kontinuität ihrer eigenen Operationen findet und ihre Identität in ihrer eigenen Operationsweise wahrt, so vollzieht sie das, was alle Funktionssysteme entsprechend ihrer Operationslogik (bzw. ihrer leitenden Differenzen) in analoger Weise auch tun. Nochmals anders formuliert: Wenn es Signale gibt, die von der Umwelt erzeugt werden, dann können sie nur in den einzelnen Funktionssystemen separat bearbeitet (d.h. zu Informationen) werden. D.h. jedes Ereignis, wie z.B. eine Demonstration, produziert jeweils unterschiedliche Anschlußkommunikationen. Im System der Wirtschaft wird die Demonstration als Kostenfaktor gesehen, in der Politik unter dem Gesichtspunkt der Einschränkung bzw. Förderung von Wahlchancen, aus der Perspektive der Wissenschaft wird dieses Ereignis im Kontext von Forschungsprojekten relevant. D.h. die Teilsysteme fühlen sich jeweils ganz unterschiedlich betroffen und können nur im engen Rahmen ihrer eigenen Möglichkeiten, aufgrund ihrer eigenen Strukturen reagieren. Es gibt also, wie Peter Fuchs in einem anderen Zusammenhang ausführt, "eine über Differenzen zustandegekommene Vielzahl kommunikativer Realitäten" über das Ereignis der Demonstration, d.h. zugleich: Die ‘eine’ Welt der Demonstration gibt es nicht.

Hierzu paßt eine Feststellung, die Luhmann in seinem jüngsten Werk getroffen hat. Die Gesellschaft, so sagt er, "hat kein Wesen", d.h. sie ist nichts anderes als die ‘Zusammenschau’ aktuell realisierter, differentieller Kommunikationen. Als Extremfall polykontexturaler Selbstbeobachtung ist die Gesellschaft der Extremfall eines Systems, "das zur Selbstbeobachtung gezwungen ist, ohne dabei wie ein Objekt (Hervorhebung von mir, S.F.) zu wirken, über das nur eine einzige richtige Meinung bestehen kann, so daß alle Abweichung als Irrtum zu behandeln ist." Die Selbstbeobachtungen können laufen wie sie wollen, und konstituieren damit die Gesellschaft ohne jedweden Zwang zur Integration der Beobachtungen. Es kommt also, wie Luhmann feststellt, "zu konkreten Idiosynkrasien, die ihren Sinn gegen den unmarked space aller anderen Sinnmöglichkeiten behaupten und zugleich im scharfen Strahl spezifischer Ablehnungen globaler Kennzeichen moderner Gesellschaften bestimmte Gegnerschaften beleuchten." Wenn jedes System durch die geschlossene Operationsweise nur seine eigenen Relevanzen zum Zuge kommen läßt, dann besteht die Konsequenz darin, daß die verschiedenen ‘Sprachen’ nicht zusammen kommen können, und dies wird von Luhmann überdeutlich zum Ausdruck gebracht: Wenn in der Gesellschaft z.B. die Erwartung herrscht, das Recht möge Mitleid haben, die Wirtschaft möge an die Umwelt denken, oder die Politik möge sich der Erziehung annehmen, so sind dies in den Augen Luhmanns hilflose Versuche, etwas einzufordern, was strukturell überhaupt nicht funktionieren kann. Bei allem, was passiert, muß man sich immer wieder klarmachen: Die Gesellschaft selbst kann nicht handeln!

Zusammenfassend kann also festgehalten werden, daß ein Bezugssystem die ‘fremde’ Kommunikation des jeweils anderen nicht verstehen kann. In der Verengung auf ihre jeweils eigene Logik stehen sich die Teilsysteme als "black boxes" gegenüber und ignorieren sich gegenseitig in ihren widerstreitenden Interessen. Dissens bzw. Differenz ist sozusagen der Normalzustand, in dem sich die Teilsysteme untereinander befinden.

Wenn man bedenkt, daß, wie wir oben am Beispiel der Demonstration erwähnt haben, Ereignisse oder Weltprobleme nicht automatisch in das Raster einer spezifischen Funktion fallen, sondern quer zu mehreren Funktionen liegen, und die Funktionssysteme ihre Probleme und Anfragen normalerweise auch nicht im exakten Zuschnitt auf einzelne Disziplinen präzisieren, dann ist leicht erkennbar, daß Funktionssysteme auf irgend eine Art und Weise miteinander zu tun haben müssen sofern etwas ‘Sinnvolles’ geschehen soll. Wenn wir nun feststellen, daß es eine Offenheit der Systeme gibt, dann stellt sich die Frage, ob die Trennung der Systeme dann doch durch Vermischungen und Überschneidungen durchbrochen wird. Die Antwort, so stellen wir im Anschluß an Helmut Willke fest, "ist weder ja noch nein. Sie hängt vom Beobachtungsstandpunkt ab." D.h. die Geschlossenheit der Systeme bleibt bestehen, es bleibt bei der scharfen Trennung exklusiver Logiken, es gibt keine durchgehende Vermischungen und keine Anpassungen der Systeme aneinander. Andererseits sind die Systeme insofern keine ‘autistischen’ Systeme, als sie nach Maßgabe eigendefinierter Bedingungen eine immer spezifische und selektive Offenheit für Umweltinformationen aufweisen. Damit ist gemeint, daß jedes System sozusagen für sich selbst eine Brille entwirft, mit der es die Umwelt beobachten kann. Die Brille trägt die Gläser des spezifischen Differenzschemas, unter dem das jeweilige System arbeitet. Das bedeutet, daß das meiste, was in der Umwelt passiert, mit diesen Gläsern nicht erkannt werden kann, es taucht einfach nicht auf. Nur das, was unter dem Gesichtspunkt der Ordnung des eigenen inneren Schematismus in irgendeiner Form Relevanz hat, kann gesehen werden. Um im Bild zu bleiben: Jedes System fertigt selbst die Gläser seiner Brille an. Ihre Transparenz ergibt sich aus dem jeweils spezifischen Profil des Codes und der systemintern erzeugten Programme. Jedes System steckt also selbst den Rahmen ab, in dem es sich von der Umwelt beeindrucken lassen will. Die gegenüber der Umweltkomplexität realisierten Selektionen werden, wie Helmut Willke feststellt, unter Kontrolle systemeigener Kriterien gebracht; die Umwelt muß sozusagen, "in die systeminterne Operationslogik eingebaut sein, um zur Geltung kommen zu können."

Wollen Systeme Offenheit in dieser Weise herstellen, so müssen sie zunächst auf der Basis selbstreferentiell hergestellter struktureller Ordnung eine arbeitsfähige Vorstellung von sich selbst entwickeln. Erst diese interne Bedingung gibt dem System sozusagen eine Basis ‘momentaner Stabilität’ für die Konstruktion einer Brille, mit der es die Umwelt ‘verstehen’ und dadurch letztlich seine Selbstisolierung überwinden kann.

Wir halten also fest: Es gibt im diffusen Rauschen der Umwelt spezifische Stellen, auf die Systeme ganz sensibel reagieren, d.h. es treten plötzlich ‘bezeichnunsgfähige’ Einheiten in der Umwelt auf, die zwei Prozesse in Gang setzen können: Einmal kann jedes System, ohne seine Grenzen zu überschreiten, diese Einheiten beobachten; zum anderen können die vom System beobachteten Einheiten dazu führen, daß sich die internen Konstellationen des Systems verändern. Damit ist nicht gemeint, daß sich irgendwelche Kausalwirkungen gleichsam von außen in das System schieben, vielmehr ist es umgekehrt so, daß das System selbst die Umwelt als relevante Größe (im o.g. Sinne) konstituiert und dann wiederum selbst ‘beschließt’, ob es (intern) mit dieser Größe als interne Fremdreferenz arbeiten, d.h. eigene Konstellationen verändern will. Das ist gemeint, wenn Helga Gripp-Hagelstange feststellt, daß jedes System eigenständig jene Bedingungen regelt, nach denen Umweltimpulse als Angebot zur Strukturveränderung des Systems wirksam werden dürfen. Strukturveränderungen werden deshalb möglich, weil die erkannten Umweltimpulse durch Operationsweise des jeweiligen Bezugssystems bearbeitet werden können. Was hier immer noch sehr abstrakt geblieben ist, wird in den nachfolgenden Ausführungen unter der Thematik "Struktureller Kopplung" nochmals ausführlich aufgegriffen. Im Zusammenhang der hier vorliegenden Fragestellung halten wir fest: Wenn Systeme also nicht nur in Isolation und Dissens zueinander stehen, sondern in beachtlichem Umfang miteinander zu tun haben, dann ist damit nicht etwa eine Art Problemlösungskommunikation im ‘Miteinander’ der Systeme gemeint. Es bleibt dabei, daß sie nach wie vor geschlossen operieren und selbst ihre Offenheit durch geschlossene Mechanismen ermöglichen und Strukturveränderungen (aufgrund ‘lesbarer’ Umweltimpulse) wiederum nur intern herstellen. Offenheit, und dies ist ein zweites vorläufiges Fazit, ist niemals durchgängige Offenheit füreinander. D.h. die o.g. Kopplungen der Funktionsysteme oder Interdependenzen sind entlang den Differenzen nicht universal durchlaufend, sondern eigensinnig punktuell und selektiv. Ein spezielles wirtschaftliches Problem kann dadurch als politisches Problem auftauchen bzw. in ein politisches Problem ‘transformiert’ werden, daß diese wirtschaftliche Frage jetzt nach den internen Gesetzmäßigkeiten der Politik behandelt wird (z.B. wenn durch diesen wirtschaftlichen Aspekt Wahlchancen tangiert werden). Das, was an dieser hier spezifischen Stelle passiert, ist prinzipiell an allen nur denkbaren Schnittstellen der Funktionssysteme auch (punktuell) möglich. Je nach Problemlage werden also ganz unterschiedliche Konfigurationen der Abstimmung bzw. Koordination praktiziert. Dies hat Folgen: Sie bestehen, salopp gesagt, darin, daß nicht mehr überschaubar und berechenbar ist, an welchen Stellen Kopplungen auftreten bzw. auftreten werden und was hierdurch angerichtet wird. Strukturelle Kopplungen realisieren ein filigranes und dynamisches Netzwerk zentrifugaler Zusammenspiele, die sich in bisher ungeahnter Komplexität so verselbständigt haben (und damit entwickeln wir selbst unbewußt dieselbe Luhmannsche Ironie), daß man nur noch staunen und darüber hinaus nichts mehr kann. Und je mehr dies bedacht wird, um so lächerlicher, um so hilfloser und naiver wirken die in ‘alteuropäischer Manier’ vorgebrachten Appelle, in Zukunft alles besser machen zu müssen. Zum Abschluß dieses Kapitels fassen wir zusammen:

Die Teilsysteme haben ein Höchstmaß an Autonomie und Spezialisierung entwickelt, die ihre Beeinflussung (Änderung) enorm erschwert, d.h. sie haben sich selbst mit Folgeproblemen ihrer eigenen Hochleistungsorientierung belastet. So kann man leicht feststellen, daß Probleme laufend von einem System in ein anderes verschoben werden.

Andererseits gibt es eine enorme Expansion wechselseitiger Abhängigkeiten, die im gesamtgesellschaftlich angestiegenen Irritationspegel begründet liegen, d.h. die gegenseitige Irritation der Funktionssysteme hat sich horizontal derart ausgebreitet, daß die Auswirkungen und Veränderungen der unübersichtlichen Beziehungsschemata der Teilsysteme überhaupt nicht mehr kalkuliert werden können bzw. einfach unbeherrschbar geworden sind.

In den Gesellschaften des spätmittelalterlich-frühmodernen Europa war die Lage anders. Luhmann bezeichnet sie als stratifikatorische Gesellschaften. Hier hatten sich Teilsysteme der Gesellschaft unter dem Gesichtspunkt einer Rangdifferenz im Verhältnis zu anderen Systemen ihrer gesellschaftsinternen Umwelt ausdifferenziert. Es war die Ausdifferenzierung und Schließung einer Oberschicht entstanden, die sich, getragen durch die Rechtsordnung und durch die Akzeptanz von Reichtumsunterschieden, als relativ kleine Population im gesellschaftlichen Gefüge behaupten konnte. So ermöglichte die Geburt eine eindeutige Zuordnung von Personen zu Schichten. Die dann erfahrbar werdende spezifizierte Selbstbeschreibung der Oberschicht, die Zelebrierung eigener Merkmalsbewußtseine sowie die Fortentwicklung eigener Genealogien trugen insgesamt dazu bei, daß sich eine schichtinterne Homogenität nach außen abgrenzen und in der Gesellschaft (mit Rechtsvorteilen ausgestattet) durchsetzen konnte. Entscheidend für unseren Zusammenhang ist nun, daß durch die Wiederholung der Rangabstufung in den durch sie getrennten Systemen rangmäßige Plazierungen zu einer Alltagserfahrung werden konnten.

Stratifikation, so Luhmann, wird dadurch reproduziert, "daß sie sich laufend in Erinnerung bringt, wenn immer Personen verschiedenen Ranges beisammen sind." Sie regelt die Inklusion von Menschen in der Gesellschaft dadurch, daß sie, bezogen auf Teilsysteme, Inklusion und Exklusion festlegen.

Genau dieses ‘haltgebende Gerüst’ hat die heutige Gesellschaft nicht mehr. Im nachfolgenden Kapitel werden wir noch sehen, daß die Inklusion von Personen von hochgradig komplexen und vor allem situativ wechselnden Faktoren bestimmt wird. Generell haben die Funktionssysteme keine (feste) Ordnung zueinander. Ihre gegenseitige Irritation, so sagt Luhmann, ist "in Selbstirritation der Gesellschaft umgeschlagen." Die Diskrepanz ist offensichtlich: Obwohl der Bedarf an reflektierter Steuerung der Systembeziehungen gewachsen ist, werden echte Problemlösungen durch das Gelingen mehrstufiger Kopplungen immer seltener. Das, was die Funktionssysteme untereinander bewerkstelligen müssen, stellt sich auch als Problem der Gesamtgesellschaft: In welcher Weise kann die zentrifugale Dynamik der Funktionssysteme eingegrenzt oder re-integriert werden? Wie kann eine funktional differenzierte Gesellschaft ihre Einheit herstellen? Müssen wir uns mit der ernüchternden Feststellung Luhmanns abfinden, daß die Gesellschaft hier nichts bewirken kann und die Regulation der Inter-Systembeziehungen allenfalls der Evolution überlassen muß?

1. Die Gleichwertigkeit von Integration und Desintegration – oder: Die paradoxe Struktur gesellschaftlicher Einheit

In diesem Abschnitt gehen wir der Frage nach, was Luhmann zu dem ausführt, was man im alteuropäischen Sinne als die Identität oder die Einheit der Gesellschaft beschrieben hat. Wir gehen von der Feststellung aus, daß die Teilsysteme die Gesellschaft aus ihrer jeweils eigenen Perspektive und Funktion beobachten. Entscheidend ist nun, daß hierbei kein Teilsystem für sich selbst eine Vorrangstellung einnehmen kann. Wenn wir feststellen, daß die Teilsysteme sozusagen ‘gleichrangig’ zueinander stehen, dann ist damit ein zweifaches gemeint: Einmal ist kein System in der Lage, allein die Einheit der Gesellschaft gegen die Diversität ihrer Funktionssysteme zu behaupten. Die Politik zum Beispiel, die lange Zeit als Ordnung der Einheit der Gesellschaft angesehen wurde, hat im hier vorliegenden Zusammenhang keine hierarchisch höherliegende Funktion als andere Systeme, es gibt weder ein Zentrum noch eine Spitze der Gesellschaft, weil die wechselseitig voneinander abhängigen, gleichrangigen Funktionssysteme je für sich unverzichtbare Funktionen für die Gesellschaft erfüllen. Wenn es keine Dominanz einer besonderen Funktion gibt, dann ist damit andererseits nicht gesagt, daß alle Funktionssysteme dieselben Chancen ihrer evolutiven Entwicklung haben. Die Gesellschaft, so Luhmann, "geht nicht auf wie ein Sauerteig, d.h. sie wird nicht gleichmäßig größer, komplexer." Das heißt, die Unausgewogenheit, daß einige Funktionsbereiche eine höhere ‘Verdichtung’ an Komplexität aufweisen und andere dagegen zu verkümmern drohen, ist ein ganz normales Phänomen. Wenn alle Einzelleistungen der Systeme für den Erhalt und die Selbstproduktion der modernen Gesellschaft unabdingbar sind, dann kann Luhmann mit Recht sagen, daß jedes Funktionssystem je für sich die Einheit der Gesellschaft darstellt; denn jedes bedient in der Geschlossenheit seiner Autopoiesis eine zentrale Funktion des Gesellschaftssystems und ist zugleich für die eigene Umwelt offen. Jeder teilsystemische Sinnzusammenhang tendiert zur Inklusion der ganzen Gesellschaft (in den je eigensinnigen Bereich der Relevanz) und erzeugt so, um es mit Helmut Willke auszudrücken, eine "differente Kopie der Gesellschaft insgesamt", anders gesagt: Jedes Teilsystem beansprucht quasi automatisch die Einheit der Gesellschaft in seiner eigenen Logik. Luhmann formuliert es so, daß die Gesellschaft mit der teilsystemischen Ausdifferenzierung eben auch den Transformationsmodus der Selbstsubstitution, d.h. sozusagen ein Moment der Gesellschaftlichkeit, auf die Ebene der einzelnen Funktionssysteme verlagert.

Können wir also in dieser Hinsicht Anhaltspunkte für die Einheit der Gesellschaft verorten, so stellen wir zugleich fest, daß diese Einheit keine Einheit ist. Oben wurde hinreichend gezeigt, daß jedes Funktionssystem entsprechend seines Codes arbeitet, daß es mehrere Codes zugleich gibt, die sich gegenseitig ‘verwerfen’, d.h., daß kein System die eigene Sichtweise transzendieren kann. Am Beispiel der Demonstration wurde bereits gezeigt, daß durch die differentielle Zuordnung zu jeweils verschiedenen Kontexten (zur Wirtschaft, zum Recht, zur Politik) aus einem scheinbar einheitlichen Ereignis eine in unterschiedliche Sinnzusammenhänge zerrissene Angelegenheit geworden ist. Wir erinnern daran: Die eine Welt der Demonstration gibt es nicht und dieser Satz trifft auf alles zu. Auf die globale Dimension einer spezifischen Frage oder Problemstellung gibt es in den Teilsystemen zwangsläufig immer zu wenig oder zu spezifiziert verengte Resonanz, wodurch eine effiziente (d.h. sinnvolle und hilfreiche) Antwort auf die Universalität des entsprechenden Problems strukturell vereitelt wird. Die Einheit der Gesellschaft liegt also in der Differenz, d.h. in der Mannigfaltigkeit innergesellschaftlicher System-Umwelt-Differenzen und das einzige, was Luhmann als klärenden ‘Zusatz’ anbieten kann, ist sein Hinweis auf das kommunikative Zusammenspiel der zugleich autonomen und interdependenten Teile. Dies führt uns zum Begriff der Integration.

Der Begriff ‘Integration’ wird im alteuropäischen Denken mit den Kategorien der Einheit, der Zusammenführung und des Konsenses in Verbindung gebracht. Auf funktionale Differenzierung angewandt, würde dieses Denkschema den Gehorsam verschiedener Teilsysteme im Hinblick auf eine zentrale Einheitsinstanz bedeuten können. Genau das ist im systemtheoretischen Zusammenhang nicht gemeint. Entgegen dem herkömmlichen Verständnis können wir auch nicht davon sprechen, daß die Gesellschaft zu wenig integriert ist; gerade umgekehrt ist bereits oben angeklungen, daß die Gesellschaft überintegriert und eventuell gerade dadurch gefährdet ist, wie Luhmann feststellt. Die Gesellschaft, so hatten wir herausgestellt, ist in einem Maße durch sich selbst irritierbar, wie keine Gesellschaft zuvor, d.h. es gibt eine enorm verdichtete Vielzahl struktureller und operativer Kopplungen – die Systeme integrieren und desintegrieren sich in immer kürzeren Sequenzen. Bei dem Begriff der Integration geht es nun um die Frage, wie in der Dynamik dieser hochkomplexen Interdependenzen die wechselseitige Abstimmung der differenten Teile geleistet werden kann - und zwar deshalb, weil es eine gesamtgesellschaftlich verbindliche Ordnung des Verhältnisses der Systeme zueinander nicht gibt.

Wenn Integration, plakativ gesagt, die bewegliche ‘Justierung’ der Teilsysteme in ihrem Verhältnis untereinander meint, dann müssen (wenngleich zeitlich versetzt) Abhängigkeiten und Unabhängigkeiten in gleicher Weise beachtet werden. Die entscheidende Frage ist dabei, in welcher Weise, wann und an welchen Stellen die Teilsysteme bereit sind, eigenwillige Freiheiten zugunsten situativer Abstimmungsleistungen zu bändigen, d.h. Selbstbeschränkungen eigener Möglichkeiten im Hinblick auf die Möglichkeiten anderer Systeme vorzunehmen, um damit Überintegration ‘kanalisiert’ zurückzuschrauben. Hierbei werden Reflexionsleistungen der Teilsysteme vorausgesetzt, die darauf zielen, sich selbst als adäquate Umwelt anderer Teilsysteme begreifen zu lernen und die daraus folgenden Einschränkungen und Abstimmungszwänge in das eigene Entscheidungskalkül einzubauen.

Betrachten wir ein Beispiel: In der Reihe der bisherigen Bundestagswahlkämpfe nahm der Wahlkampf des Jahres 1998 eine Sonderrolle ein, die exakt mit dem zu tun hat, was wir gerade zum Thema ‘Integration’ ausgeführt haben. Wir meinen das ‘Verhältnis’ von Politik und Publizistik. Das heißt: Wir betrachten die Wahlkampfaktivitäten einer Partei, in diesem Falle der SPD, als Operationen des politischen Systems und betrachten auf der anderen Seite die politische Berichterstattung als Subsystem des publizistischen Systems. Sodann sehen wir folgendes Bild: Selten ist es einer Partei in dieser perfektionierten Weise gelungen, sich in die ‘Logik’ der Operationsweise der Publizistik hineinzudenken, d.h. die eigene Politik exakt so zu gestalten, daß sie von der Funktionslogik der Medien her ‘gelesen’ werden konnte und dadurch in der strategisch beabsichtigten Weise tiefgreifende Spuren ins publizistische System einzugravieren vermochte. "Die SPD-Politik in den Zeiten des Wahlkampfs", so urteilt die SZ am 20.7.98, "ist wie ein Feuerwerk. Es knallt und zischt, es funkelt und stinkt. Die Leute sagen "Ah" und "Oh", denn so ein Schauspiel haben die Sozialdemokraten schon lange nicht mehr gegeben. Rakete um Rakete schicken sie nach oben, es regnet Sterne und bunte Kugeln. Und dann, zum Finale, schreibt der Feuerwerker die Buchstaben "SPD" an den schwarzen Himmel. Dann ist Stille, dann ist der 28. September – der Tag nach der Bundestagswahl. Das Pulver ist verschossen." Sämtliche Kommentare bescheinigten der Partei, ihr Wahlkampf sei ein "zeitgemäßes Projekt", er seit innovativ und rational. Die SPD-Wahlkampflinie, das war für alle offensichtlich, zelebrierte nicht die alten Klischees von rechts und links, sondern hatte sich von politischen Orten völlig gelöst, ja transzendierte sogar jeglichen Kampf, beschränkte sich nur darauf, den Kontrast zu inszenieren, daß Schröder ‘in’ ist und alle anderen ‘out’. Dieser Wahlkampf führte vor Augen, was geschieht, wenn die eine Seite weiter in alten gedanklichen Geschmacksmustern verharrt (z.B. der Sozialismus-Vorwurf der CDU), während die andere Seite sich genau diesem überkommenen Muster entzieht. Mit einer gewissen ‘Leichtigkeit’ schritt die SPD voran. Hier konnten wir u.E. erkennen, wie die Politik mehr und mehr gelernt hat, sich als Umwelt des publizistischen Systems zu begreifen, d.h. Freiheiten eigener systemischer Operationen einfach selbst zu beschneiden, um dem publizistischen System gezielte Impulse anzubieten, die schließlich zu den beabsichtigten Strukturveränderungen führen konnten, die sich ihrerseits wiederum positiv für das politische System auswirken konnten. Das, was Helmut Willke als "Supervision" vorschwebt, ist der SPD-eigenen Operationsweise gelungen, nämlich einen parteiinternen Reflexionsprozess in Gang zu setzen, der mit der Entdeckung neuer Differenzen und Beobachtungsmöglichkeiten zur Revision eingeschliffener Kommunikationsbahnen geführt hat.

Genauer: Die wahlkampfstrategische Operationsweise der SPD hat sich u.E. von einer selbstverliebten und vordergründigen Machtdemonstration verabschiedet und sozusagen eine neue ‘Demut’ entworfen. Sie bestand darin, daß Beobachtungskapazitäten verstärkt worden sind, um durch die damit eröffneten zusätzlichen Perspektiven und Sichtweisen blinde Flecken der Operationsform des eigenen Systems sichtbar zu machen. Wir sprachen schon davon: Das bereits ein Jahr vor der Bundestagswahl inszenierte Geheimnis ‘Schröder oder Lafontaine?’ ist ein Ausdruck dieser neuen ‘Demut’ (wir haben keinen besseren Ausdruck), daß man sich nämlich selbst verbietet, diese wichtige machtpolitische Entscheidung zu treffen, weil es im Hinblick auf das publizistische System höchst rational ist, diese Differenz zu erhalten! Ebenso wurde mit der Benennung von Jost Stollmann zum designierten Bundeswirtschaftsminister eine politisch-programmatische Differenz (auf der einen Seite Stollmann, auf der anderen die ‘klassische’ SPD-Position von Lafontaine und DGB) explizit aufgebaut und künstlich erhalten. Die Publizistik war diesem Impuls so gut wie hilflos ausgeliefert; d.h. sie konnte gar nicht anders: in unendlichen Variationen medienspezifischer Artikulationen hat sie die politische Brisanz dieser Differenz unermüdlich reproduziert und in der Konsequenz dafür gesorgt, die politische Wählerschaft neu zu formieren. Hier geschah genau das, was wir oben darzustellen versuchten: Die ungezügelte Überintegration der Systeme durch eine unübersehbare und unkoordinierte Vielfalt gleichsam blind und wahllos ablaufender struktureller Kopplungen wurde hier (zumindest partiell) gezielt und überlegt zurückgedrängt. Statt dessen wurden kanalisierte Impuls-Bahnen angeboten und im Ergebnis zeigten sich Innovationen bzw. ganz neue Qualitäten in den Formen struktureller Kopplung des politischen Systems mit dem System der Publizistik! Die Autopoiesis der Publizistik wurde von den Impulsen der (SPD-)Politik in einer bisher beispiellosen Weise angeheizt und zu enormer Verdichtung getrieben. "Schröders Schattenmänner und der Tod der Langeweile" ist nur eine Schlagzeile im unübersehbaren Dickicht inflationärer Veröffentlichungen der Monate Juni bis September 1998. Umgekehrt stellte die SPD zufrieden fest, daß alles plötzlich viel besser funktioniert, d.h. die neue ‘Demut’ war nichts anderes als eine raffiniertere und effizientere Politik.

Das, was hier in der Relation von politischen Systemen und publizistischen Systemen abgelaufen ist, müßte quasi auf allen Ebenen, d.h. zwischen sämtlichen Systemen anderer Art in analoger Weise funktionieren, dann hätte man eine annähernde Vorstellung von dem, was Rationalität im systemtheoretischen Sinne bedeuten könnte (wir kommen später auf diesen Punkt zurück). An dieser Stelle wollen wir nur noch darauf hinweisen, daß die mit der Justierung der Systeme verbundene Einschränkung der Freiheitsgrade nicht nur (wie dargestellt) in Bedingungen der Kooperation, sondern auch im Konflikt liegen können. Luhmann weist darauf hin, daß der Begriff der Integration gerade nicht die Differenz von Kooperation und Konflikt beinhaltet, sondern dieser Unterscheidung übergeordnet ist. Der Begriff hat hier jede Wertigkeit verloren. Der gleiche Sachverhalt begegnet uns auch beim Begriff der Rationalität.

 

2. Gesamtgesellschaftliche Rationalität als ‘Modellfall’ reflexiver Abstimmung des Partikularen

Wenn wir im folgenden der Frage nachgehen, in welcher Weise Luhmann den Begriff gesamtgesellschaftlicher Rationalität entwirft, dann kommt vieles zum Vorschein, was in den vorangegangenen Abschnitten bereits aufschien. Rationalität ist im Verständnis Luhmanns kein universales Prinzip wie etwa der materielle Gehalt allumfassender Kategorien. Kein Rationalitätsbegriff wird entsprechend seinem Verständnis auf die Position der Einheit und Autorität zurückführen können. Im Gegenteil: Mit Blick auf das alteuropäische Verständnis geht es um eine Emanzipation von der Vernunft; und diese Emanzipation, so Luhmann, ist nicht anzustreben, sondern bereits geschehen. Der Titel ‘Rationalität’ geht für Luhmann zunächst einmal an die Hochleistungsrationalitäten der Teilsysteme über, von denen bereits weiter oben die Rede war. Wie am Beispiel der Wissenschaft angesprochen, bestehen die Rationalitätsbemühungen der Teilsysteme darin, durch die Generalisierung einer Methode funktionaler Analyse die Differenzen von System und Umwelt im System zu reflektieren und auf dieser Basis Komplexität für ‘filigranere’ Formen struktureller Kopplung auszuweiten.

Zugleich ist offensichtlich, daß die Gesamtsystemrationalität nicht die Verallgemeinerung dessen sein kann, was die einzelnen Funktionssysteme als jeweils ihre Rationalität ansehen. D.h. der Allgemeinbegriff der Rationalität muß, analog zum Begriff der Einheit, der polykontexturalen Struktur der Gesellschaft entsprechen – anders ist er nicht denkbar. Ausgangspunkt für die Erfassung gesamtgesellschaftlicher Rationalität ist damit also die Tiefenstruktur von Ungleichgewicht, Dissens und Differenz. Wenn Luhmann, wie Gripp-Hagelstange feststellt, den Gedanken an rationalere gesellschaftliche Problemlösungen weder aufgeben, noch technokratisch verkürzt gelten lassen will, dann kann es (gesamtgesellschaftlich) nur um die Frage gehen, wie die Spezifikation der Systemreferenzen mit dem Universalismus der Thematisierungspotentiale kombiniert werden kann. Luhmann räumt ein, daß hiermit Anforderungen angesprochen werden, die allenfalls über Relativierungen gelöst werden können. Er meint damit, daß es eine adäquate Selbstschreibung des Gesamtsystems der Gesellschaft nicht geben kann. Wollte die Gesellschaft dies erreichen, müßte sie sich von sich selbst unterscheiden, um sich in dieser Weise die eigene System-Umwelt-Differenz reflektierbar zu machen. Für den Bezug auf die Differenz von Gesellschaft und Welt kann es aber kein privilegiert zuständiges System geben, denn die Welt ist nach Luhmann als unfaßbare Einheit und differenzloser Letztbegriff selbst ohne Form und Gestalt und damit lediglich Bedingung der Möglichkeit von Differenz und Systembildung.

Wir sind also wieder auf die Rationalitätsbemühungen der Teilsysteme verwiesen, weil sich die Gesellschaft nur in ihnen selbst beobachten kann. Wie bei der Betrachtung der Einheit der Gesellschaft stoßen wir nun auf einen analogen Sachverhalt: Jedes System kann für sich die Rationalität seines Funktionsbereichs über ein funktionsspezifisches re-entry durchführen und auf dieser Grundlage eine gesamtgesellschaftliche Rationalität rekonstruieren. Was immer in den Reflexionsleistungen zum Vorschein kommt, man entdeckt immer nur noch die "prinzipielle Auswechselbarkeit aller Konditionierungen." An die Stelle der sachlichen Wahrheit, die erkannt und autoritativ verkündet werden kann, so Helga Gripp-Hagelstange "tritt die zeitliche Sequenz der entsprechenden Kommunikation und ein Verfahren der evolutionären Selektion dessen, was unter sich ändernden Bedingungen zu überzeugen vermag."

Verallgemeinert gesagt geht es Luhmann darum, die paradoxe Struktur des Prozessierens von Differenzen, der reflexiven Abstimmung des Partikularen als unendlichen Prozeß auszuhalten. Rationalität könnte dann heißen "sich den Folgen der evolutionären Unwahrscheinlichkeit und Riskanz eigener Strukturentwicklungen in einer daran nicht partizipierenden Weise auszusetzen und gleichwohl die Autopoiesis des Systems fortzusetzen."

Anders gesagt: Alles fügt sich der Logik der ziellosen Evolution, d.h. im einzelnen dem, was die Strukturentwicklung an zufälligen Konstellationen hervorbringt und arbeitet daran, die Autopoiesis in der einen oder anderen Richtung fortzusetzen. Ist die Unmöglichkeit einer ‘gesamtgesellschaftlichen’ Rationalität einmal durchschaut, so Gripp-Hagelstange im Anschluß an Luhmanns Werk "Ökologische Kommunikation", so kann es durchaus von Nutzen sein, sich doch an der Utopie der Rationalität zu orientieren, um zu sehen, ob und wie man von einzelnen Systemen aus rationalere, weitere Umwelten einbeziehende Problemlösungen gewinnen kann. Die SPD hat gezeigt, daß es geht!

"Ich höre das nicht gern, es tut mir weh. Ich hätte das lieber anders. Vielleicht, daß eine andere Theorie...", sagt Frau Siebenschwan und formuliert damit eine durchaus typische Reaktion im Hinblick auf die ‚Bodenlosigkeit‘ der Systemtheorie. Auch wenn Luhmann ihren Einwand versteht, so kann er ihn doch nicht stehen lassen. Ich weiß, was Du meinst, könnte er sagen, "aber eine Theorie ist nicht dazu da, die Welt schönzufärben." Luhmann ist schonungslos in der Beurteilung jener Versuche, die eine Einheitsrepräsentation oder Integration der Gesellschaft durch ‘multifunktionale’ Kategorien bzw. durch eine Art ‘Superrepräsentation’ retten wollen. Unabhängig davon, ob dies in der Autorität des Wissens, in der Moral oder in Begriffen wie Vernunft gesucht wird, verweist Luhmann auf die Hilflosigkeit und Lächerlichkeit dieser Unternehmungen, die allenfalls "Werteinflation", Angstzustände oder Aufgeregtheiten zu erzeugen in der Lage sind.

Die oben skizzierte Diskussion um einen "postmodernen Vernunftbegriff" zeigt Luhmann überdeutlich, daß man mit der "leichtfüßigen" Neuformulierung alter Kategorien lediglich die Verlegenheit verdeckt, nicht zu wissen, was in der Gesellschaft eigentlich geschieht. Auch wenn Luhmann konzediert, daß das Wirklichkeitsbild unseres gesellschaftlichen Alltags monokontextural geblieben ist, so ist er andererseits sicher, daß traditionelle ‘Einheitskategorien’ die spezifische Struktur der neuen Gesellschaft zwangsläufig verfehlen müssen. Entsprechend seiner Auffassung entzieht man sich schon im Vorfeld jeder Möglichkeit zur wirksamen Bearbeitung von Problemen und wird auf diesem Wege höchstens zwischen Überschätzung und Resignation hin- und herpendeln. Ich, so würde Luhmann Frau Siebenschwan antworten, habe den Himmel nicht leergefegt – ich gehe von der Leere aus. Tröstungen kann man der Theologie überlassen und moralische Emphase der Pädagogik. Wir betreiben (...) nicht Diakonie, sondern Theorie.

 

II. Die Entmachtung des Subjekts

Die Entmachtung des Subjekts im Rahmen der Systemtheorie zu erklären, erweist sich auf den ersten Blick als unproblematisch; denn in den vorangegangenen Kapiteln ist bereits angeklungen, daß sich in erster Linie alles um soziale Systeme dreht, daß Subjekte höchstens in der Umwelt sozialer Systeme auftreten, soziale Prozesse nicht zu steuern vermögen und eine insgesamt stark ‘relativierte’ Position einnehmen. Können wir das Subjekt also vernachlässigen, seine Entmachtung einfach postulieren und uns statt dessen auf die mächtigen Prozesse sozialer Autopoiesis beschränken? Die Antwort lautet Nein, denn das zugegebenermaßen ‘eigenwillige’ Verhältnis der Systemtheorie zur Subjektivität (im herkömmlichen Begriffsverständnis) ist nicht so zu deuten, als sei hier eine völlige Indifferenz gegenüber dem Bewußtsein des einzelnen, seiner Personalität und Individualität gegeben. Gerade das Gegenteil ist der Fall. Um hier Klarheit zu schaffen, ist eine entsprechende Vorarbeit unumgänglich. Sie besteht darin, die systemtheoretische Logik der inneren Zerlegung des traditionellen Subjektbegriffs herauszuarbeiten, um darauf aufbauend die Entmachtung des Subjekts erklären zu können.

Im Ergebnis stellt sich dann zwar alles komplizierter dar, als wir es bisher sehen konnten, die argumentative Begründung der Entmachtung des Subjekts tritt aber dann um so klarer und nachdrücklicher hervor.

1. Die systemtheoretische ‘Logik’ der inneren Zerlegung des traditionellen Subjektbegriffs

Das "alteuropäische" Denken basiert auf der Vorstellung des Menschen als Subjekt seiner Erkenntnis. Als "Supersingular" ist er Urheber und Instanz des Wissens. Luhmann will sich von dieser, wie er sagt, "Zurechnungskonvention" auf den Menschen lösen, d.h. das Denken der Bewußtseinsphilosophie radikal überschreiten, weil nach seiner Auffassung der Soziologie hiermit gewaltige Probleme aufgeladen wurden.

Der Konstruktionsfehler liegt für Luhmann in der Gleichsetzung von Subjektivität und Allgemeinheit und in der Zurechnung dieser Gleichsetzung auf das sich selbst gegebene Bewußtsein. Im Rahmen des traditionellen Denkens muß für das Subjekt ein transzendentaler Standpunkt reklamiert werden; Individualität, so Luhmann, wird hier nicht wirklich individuell, sondern als das allgemeinste schlechthin gedacht, indem letztlich Subjekt und Objekt in eins gesetzt werden. Wir erinnern an dieser Stelle an das, was wir im Dialog oben bereits ausgeführt haben. Denken und Sein, so sagten wir, bescheinigen sich hier wechselseitig ihre Gleichförmigkeit. Obwohl, wie oben erwähnt, die mit dem "alteuropäisch" gefaßten Subjektbegriff verbundenen Probleme und Blockaden offensichtlich sind, ist die Soziologie in der Einschätzung Luhmanns nicht bereit, vom Menschen zu lassen, sie sieht sich allenfalls dazu veranlaßt, das mit der klassischen Epistemologie gegebene Theoriedefizit "durch Warmherzigkeit und Anteilnahme am Menschen auszugleichen." Dies ist für Luhmann der falsche Weg. In seinem Band "Die Wissenschaft der Gesellschaft" hält er den "Fehlsteuerungen" des ‘alten’ erkenntnistheoretischen Denkens die Position entgegen, daß das Soziale vom Subjekt her nicht zu begreifen ist.

Wenn man den Menschen ernst nimmt, und die weiteren Betrachtungen sollen zeigen, daß Luhmann diesem Anliegen redlich verpflichtet ist, dann muß von der Feststellung ausgegangen werden, daß Menschen nicht Teile oder Elemente sozialer Systeme sind, sondern in der Umwelt aller sozialen Systeme (bzw. des Gesellschaftssystems) plaziert sind; und Luhmann stellt im Hinblick auf die Einwände seiner Kritiker die Frage: "Warum soll das ein so schlechter Platz sein?"

Ausgangspunkt der Beantwortung dieser Frage ist die Feststellung, daß Luhmann die Begriffe Mensch, Bewußtsein, Person, Subjekt voneinander unterscheidet und wir kommen nicht umhin, die weitere Betrachtung von diesen jeweiligen Begriffsdefinitionen her aufzunehmen.

Der Begriff Mensch ist für Luhmann deshalb äußerst problematisch, weil er zu viel verdeckt. Die Formel ‘Mensch’, so Luhmann in seinem Aufsatz "Die Soziologie und der Mensch" ist allenfalls ein Rahmenbegriff für eine unabsehbare und unendliche Komplexität und Gegensätzlichkeit, aber nicht ein Gegenstand, über den man direkte Aussagen machen kann. Man kann den Menschen "weder einfach als Leben beschreiben, noch (aufgewertet im Sinne der aristotelischen Tradition) als das gute Leben, weder als Ziel der Gesellschaft, noch als Bewußtsein oder Subjekt und schon gar nicht als Kommunikation, als gesellschaftliches Wesen."

Im Hinblick auf die Aussage der Tradition, der Mensch sei Urheber des Erkennens, legt Luhmann dar, daß schon einfaches Nachdenken aufweisen kann, daß gerade nicht der ganze Mensch erkennt. Erkennen kommt nur aufgrund der Möglichkeit des Sich-Irrens zustande. Das Leben und selbst das Gehirn, so Luhmann, kann sich aber nicht irren. Es ist entscheidend an der Produktion wahrer und unwahrer Vorstellungen beteiligt und produziert beides auf gleiche Weise, mit gleichen Operationen. Die Schlußfolgerung lautet, daß Erkenntnis, wenn überhaupt auf den Menschen, dann seinem Bewußtsein zuzurechnen ist und dem menschlichen Organismus allenfalls eine notwendige Beteiligung bei der Ermöglichung von Beobachtung zuzuerkennen ist. D.h. während die selbstreferentielle Bewegung des Beobachtens in der Geschlossenheit des Bewußtseins abläuft, laufen gleichzeitig zahlreiche Körperprozesse ab, "die Bewußtsein ermöglichen, ohne Bewußtsein zu sein." Das Bewußtsein kann nur in ständiger struktureller Kopplung mit den zahlreichen lebenden Systemen arbeiten, die seinen Organismus ausmachen.

Da von der Operationsweise des Bewußtseins im nachfolgenden Abschnitt noch ausführlich die Rede sein wird, soll nun, über den Begriff des Menschen hinaus, ein weiterer Aspekt betrachtet werden, nämlich die Frage, inwieweit die Kommunikation selbst Bedingungen dafür bereitstellt, daß die strukturelle Kopplung mit den Bewußtseinssystemen gelingen kann. Damit kommt der Begriff der Person ins Spiel. Luhmann versteht unter Personen weder psychische Systeme noch, wie er sagt, "komplette" Menschen, d.h. die konkrete, körperlich und seelisch voll individuierte Natur des Einzelmenschen.

Bei dem Begriff der Person geht es vielmehr darum, daß die Kommunikation im Rahmen ihrer internen Autopoiesis auf Träger bzw. Adressaten zurückgreifen kann. Die Autopoiesis sozialer Systeme schafft sich selbst die Funktion der Personalisierung. Personen werden sozusagen als Aufzeichnungsstellen für komplexe Kommunikationsverläufe vorausgesetzt und zwar in dieser Hinsicht, wie Luhmann ausführt, "funktional äquivalent zur Schrift." Dem Sinn nach ist der Begriff der Person also eine "Kollektividee", die sich ausschließlich als kommunikative Realität zur Geltung bringt und ohne determinierende Auswirkung auf das Bewußtsein ist. Dieser Zusammenhang läßt sich recht anschaulich im Kontext der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien betrachten. Hier zeigt sich, daß die Zurechnung auf Personen eine pure Nachahmung von Erfordernissen des Alltags ist und letztlich der Vereinfachung der Orientierung dient, denn schließlich muß Geld den Zahlern (Personen), Macht den Machtinhabern (Personen) und Wahrheit ihren Entdeckern (Personen) zugerechnet werden. Personen sind gewissermaßen eine Identifikationsebene von Erwartungen innerhalb der Selbstorganisation sozialer Systeme. Dabei ist es nicht so, daß sie etwa nur kommunikative Bedeutung und psychisch überhaupt keine Relevanz hätten. Personen ermöglichen vielmehr den psychischen Systemen, wie Luhmann sagt, "am eigenen Selbst zu erfahren, mit welchen Einschränkungen im sozialen Verkehr gerechnet wird. Das Bewußtsein, eine Person zu sein, gibt dem psychischen System für den Normalfall das soziale O.k." Um die Konturen der Begriffsbestimmung klarer zu gestalten, soll die Untersuchung auf einer mehr formalisierten Betrachtungsebene fortgesetzt werden.Beginnen wir die Erläuterungen vom Begriff der Kommunikation her:

Im herkömmlichen Verständnis (in nichtsystemtheoretischer Begrifflichkeit) ist Intersubjektivität eine Bedingung für Kommunikation. In der Konzeption Luhmanns hat man nun zwei Möglichkeiten, diesen Sachverhalt zu verstehen: Entweder ist man gezwungen, auf den Begriff der Intersubjektivität völlig zu verzichten. In diesem Fall müßte man ihn durch die Vorstellung einer sozusagen verselbständigten kommunikativen Einheit ersetzen, die sich als Autopoiesis ihrer selbst realisiert. Erkenntnistheoretisch gesehen tritt die Annahme eines rekursiv operierenden, eigene Beobachtungen prozessierenden Systems an die Stelle, wo früher, wie Luhmann sagt, das Subjekt die Funktion hatte, "sich selbst über a priori geltende Bedingungen der Erkenntnis zu vergewissern." Will man sich mit dem Verzicht dieses Begriffs nicht anfreunden, muß man umgekehrt (zum herkömmlichen Verständnis) Kommunikation als Bedingung für so etwas wie ‘Intersubjektivität’ betrachten. D.h., durch die Gesetzmäßigkeiten der Kommunikation bzw. durch den Vorgang des Sich-Einlassens auf Situationen werden Anlässe zur Entstehung von doppelter Kontingenz gegeben, mit denen die Autopoiesis sozialer Systeme anläuft (vgl. "Interpenetration", "strukturelle Kopplung"). In dieser ersten Betrachtung kommt es nur darauf an herauszustellen, daß nicht die Menschen als Einzelelemente innerhalb der Kommunikation etwas bewirken, sondern die Kommunikation selbst etwas bewirkt.

In seinem Aufsatz "Die Form Person" definiert Luhmann den Begriff der Person als eine besondere Art der Unterscheidung, die als Form mit zwei Seiten das Beobachten leitet. Die Form liegt darin, daß im Rahmen der Autopoiesis sozialer Systeme etwas als andere Seite, d.h. als nicht zur Person gehörig ausgewiesen wird. Wenn man nun danach fragt, wovon jemand unterschieden wird, wenn man ihn als Person bezeichnet, anders gefragt, worin der Gegenbegriff zur Person besteht, dann sieht man sich auf den Begriff der "Unperson" verwiesen, der ebenso unbestimmt ist, "wie das Unloch beim Billard."

Personen sind also dann gefragt, wenn es in der Kommunikation darauf ankommt, durch Markierung dasjenige hervorzuheben und bereitzustellen, was für die weitere Kommunikation interessant, weiter klärbar oder auch bezweifelbar ist, während als "Unperson" das zählt, was die Person im Moment nicht bezeichnet, ihr aber zweifellos später attributiert werden könnte (im Moment jedenfalls nicht Gegenstand der Kommunikation ist). Das psychische System erlebt ein gewisses Maß an Distanz zur jeweils aktualisierten Person: Dient die Person im Moment z.B. der strukturellen Kopplung des Bewußtseinssystems mit dem politischen System (Demonstrant), dann kann das Bewußtsein sehen, daß es im Moment auf dieser Ebene in Anspruch genommen ist, wobei es aber nicht bleiben muß. Das Bewußtsein weiß um potentiell andere Variationen der Interpenetration bzw. Kopplung. Vor diesem Hintergrund wird klar, daß Luhmann Personen auf der Folie einer "Sozialkosmetik der Selbstdarstellung" ansiedelt, während er das Bewußtsein auf der Ebene der Authentizität verortet. "Die Form Person", so Luhmann "überformt das psychische System durch eine weitere Unterscheidung, eben die des eingeschränkten und des dadurch ausgegrenzten Verhaltensrepertoires. Psychisch kann man beide Seiten dieser Unterscheidung sehen und das personentreue Verbleiben auf der einen Seite ebenso wie das Kreuzen der Grenze genießen."

Immer wenn der Körper zur Person werden soll, zeigt er Form, zeigt er zwei Seiten, zeigt er sich "als Kontextur, die dann ihrerseits zum Gegenstand von Annahme- und Ablehnungsentscheidungen einer höheren logischen Ordnung wird."

In der Konsequenz führen die Betrachtungen des Person-Begriffs wie von selbst wieder auf das Kommunikationssystem zurück:

Kommt Kommunikation durch die Unterscheidung von Information und Mitteilung zustande (vgl. S. 264 ff. ), dann wird in der Praxis quasi mitlaufend die Unterscheidung zwischen der Mitteilung und dem Mitteilenden parallelgezogen. Ego, der versteht, daß es nicht nur um Laute, sondern um eine Information geht, lernt, wie Helga Gripp-Hagelstange sagt, "daß es ein Jemand ist, der die Information mitteilt."

Wie von selbst wird also die Unterscheidung von Dingen und Personen bzw. Objekt (das Mitgeteilte) und Subjekt in die Kommunikation eingeschleust. Durch die Wiederverwendung solcher herausgebildeten, z.B. personalen Referenzen, werden, wie Luhmann in seinem neuen Werk ausführt, Personen (bzw. Dinge) kondensiert, d.h. als identische fixiert und insofern konfirmiert, als sie mit neuen Sinnbezügen aus andersartigen Mitteilungen angereichert werden. So sehr es für die Kommunikation sinnvoll und letztlich unentbehrlich ist, ein alter ego zu unterstellen, so sehr ist die Wahrnehmung der Welt nach diesem Schema (Subjekt/ Objekt) äußerst problematisch; denn das, was zunächst ein Problem der Anschlußfähigkeit und Autopoiesis der Kommunikation ist, wird auf Personen zugerechnet und fälschlicherweise so dargestellt, als ob es "ich-gleiche" Phänomene in der Außenwelt gäbe, als ob man wahrnehmen könnte, wie andere wahrnehmen, als ob es um psychisch verankerte Meinungsunterschiede gehe. Das bedeutet: "Wir glauben, es gäbe den anderen als unser alter ego und übersehen, daß es sich dabei um Konstruktionen eines Systems des Beobachtens von Beobachtungen handelt." Wenn Luhmann resümiert, es handle sich dabei um nichts anderes als um eine Art "self-doping", mit der sich die Kommunikation entlastet, dann ist diese Feststellung identisch mit der Aussage von Peter Fuchs, der in seinem Band "Die Umschrift" konstatiert, es gebe psychisch und kommunikativ tief verankerte (aus der Sprache kaum zu beseitigende) Zurechnungsroutinen, die gesprengt werden müssen, aber in der Sprengung selbst "die Regression auf eine irgendwie gegebene Binneneinheit, des Einzelexemplars Mensch nicht verhindern kann."

Festzuhalten bleibt hier, daß die Zurechnung der Kommunikation auf den Menschen eine Konstruktion ist, die mit Hilfe des Schemas Person bewerkstelligt wird, um innerhalb des Systems Anschlüsse für Kommunikation verorten zu können. Die Zurechnung auf Personen, so Luhmann in seinem Aufsatz "Die Soziologie und der Mensch", "wählt aus, pointiert eine im Netz der Bedingungen faßbare, benennbare Stelle, wertet eine Einzelursache auf, und führt auf diese Weise Kausalität in ein prinzipiell zirkuläres Geschehen ein." Trotz des Eindrucks von Kausalität bleibt es dabei: Die Kommunikation selbst ist das Beobachten, das sich der Bewußtseine und der Personen bedient, um sich selbst fortzusetzen; wir kommen in einem gesonderten Kapitel auf diesen Sachverhalt weiter unten zu sprechen (vgl. "Die autopoietische Eigensteuerung des Darstellungssystems", S.302 ff.).

Nach der Definition der Termini ‘Mensch’, ‘Bewußtsein und ‘Person’ muß nun gefragt werden, wie sich der Begriff des Subjekts in den bisher aufgestellten Begriffszusammenhang einordnen läßt. Wenn wir Luhmann richtig verstehen, liegt der Begriff des Subjekts auf einer abstrakteren bzw. formal höheren Ebene als der der Person. Der Begriff ‘Subjekt’, so Luhmann, bezeichnet die Art und Weise, in der Personen im Kommunikationszusammenhang für relevant gehalten werden. Wenn Luhmann an mehreren Stellen den Begriff des Subjekts als "Symbol für Inklusion" bezeichnet, und dabei betont, daß grundsätzlich niemand von diesem Begriff ausgeschlossen werde, dann ist vermutlich damit gemeint, daß Subjekte dann vorliegen, wenn die Eigenlogik und strukturelle Dynamik sozialer Systeme de facto mitkonditioniert wird; d.h. wenn psychische Systeme durch strukturelle Kopplung die Eigendynamik sozialer Systeme faktisch verändern: einmal als Person X, ein anderes mal als Person Y, aber insgesamt genommen immer als Subjekt, da Inklusion gegeben ist. Ein Individuum, so Luhmann in "Gesellschaftsstruktur und Semantik", ist in der Typisierung als Person gegeben, wobei der Typus nur regelt, "inwieweit dessen Individualität konkret erforscht und als Prämisse weiteren Verhaltens aktualisiert werden muß." Wir sehen den Zusammenhang so, daß die generelle Faktizität der Inklusion (die Subjekthaftigkeit) durch den Begriff der Person quasi eine soziale Konkretion annimmt, die je nach Bezugssystem verschieden ist. D.h. während Personen als je verschiedene ‘Ausgestaltungen’ von (sozialen) Adressaten gegeben sind, sehen wir das Subjekt als Inbegriff für alle faktisch gegebenen Fälle der Inklusion (unabhängig von ihrer jeweiligen sozialen Beschaffenheit), sozusagen als ‘Dachbegriff’ für mehrere Personen, sofern sie im Kommunikationszusammenhang eine tatsächliche Rolle spielen.

Was versteht Luhmann unter Individualität? In seinem Abriß der Geschichte der Individualität stellt er zunächst klar heraus, daß Menschen immer schon nach Gestalt und Wesen je für sich existieren, also die Merkmale der Individualität erfüllen, und daß dies von keinem bezweifelt werden könne. Wenn er nun doch die Positionen einnimmt (wie könnte es anders sein), daß das Individualitätsprogramm neu besetzt werden müsse, dann richtet sich Luhmann zunächst einmal dagegen, Individualität als ‘steigerbare’ Qualität in den Binnenräumen der Seele anzusehen, die zwangsläufig immer auf personale Identität zielt.

Individualität ist für Luhmann zunächst einmal die Individualität des Bewußtseins.

Seine Autopoiesis ist "die faktische Basis der Individualität psychischer Systeme." Die Individualisierung eines psychischen Systems läuft über den Prozeß der Selbstbeobachtung. Die maßgebende Unterscheidung, innerhalb derer die eine und nicht die andere Seite bezeichnet wird, ist die Unterscheidung von Bewußtsein und Leben, d.h. es geht um die Beobachtung der eigenen Körperlichkeit durch das Bewußtsein. Luhmann zeigt auf, daß die Unterscheidung Bewußtsein/ leibliches Leben beide Bereiche so eng zusammenspannt, daß man nicht darauf kommt, sein Bewußtsein in Abstraktion von der Autopoiesis des eigenen Leibes oder diese unter Absehung vom Gedankengängen des Bewußtseins zu erfahren. Erst aufgrund dieser Identität, die auf einer bezeichnenden Unterscheidung vom eigenen Leib beruht, kann das Bewußtsein die Erfahrung lernen, beobachtet zu werden. D.h. das Bewußtsein des Beobachtetwerdens ist, wie Luhmann ausführt, "nur über das Bewußtsein der Sichtbarkeit des eigenen Leibes zu gewinnen." Obwohl das Bewußtsein die Autopoiesis des eigenen Organismus nicht beeinflussen oder kontrollieren kann, wird ihm durch die Gewißheit, beobachtet zu werden, die Vorstellung einer Verantwortung für den eigenen Leib aufgedrängt. Wenn das Bewußtsein gedanklich thematisiert, daß es sich beobachtet wähnt und dies wiederum beobachtet, dann kann es im Prozeß der Selbstbeobachtung zu einer weiteren Ausdifferenzierung seiner Identität gelangen. Das sich selbst zunächst nur aktuell erfahrene Bewußtsein sieht sich durch die Aufnahme fremder Beobachtungen plötzlich dazu aufgefordert, mehr zu sein als nur das, was nötig ist, um sich im nächsten Gedanken zu reproduzieren. In der intern überlegten Reaktion darauf "rundet es sich selbst zur Einheit auf." Hierbei kommen jetzt auch neue Unterscheidungen ins Spiel: Wird der Gedanke des Beobachtetwerdens bewußtseinsintern beobachtet, dann kann dieser Gedanke als Vorstellung genommen werden und dann das "crossing" freisetzen, nämlich entweder die fremde Beobachtung zu bezeichnen (was meint der Beobachter?) oder den Eindruck, den sie auf das eigene Bewußtsein macht, zu bezeichnen (was fühlt man selbst?). Mit diesem Beobachtungsmechanismus wird das Wechselspiel von Fremderwartungen und Ansprüchen offenlegt. Sofern Bewußtseinssysteme entdecken, daß sie selbst in der Umwelt anderer Systeme vorkommen, können sie sich mit Fremderwartungen konfrontiert sehen. Sie befinden sich dann in einer binär strukturierten Situation, nämlich Erwartungen zu erfüllen oder zu enttäuschen. Die Systeme werden in eine Entscheidungssituation gebracht, die, wie Luhmann sagt, "als Struktur ihrer eigenen Autopoiesis dienen." Damit ist gemeint, daß sich beide Haltungen bewähren und durch positives Feedback verstärkt werden können, so daß es zu einer Geschichte kommt, die sich entweder auf der Bahn der Konformität oder auf der Bahn der Abweichung akkumuliert. Beide Möglichkeiten, so Luhmann, sind mit Bezug auf die jeweils andere kontingent; "es ist die Bewältigung dieser Kontingenz, die das System in Richtung von Individualität spezifiziert." So artikuliert sich Individualität in der Form unterschiedlicher, nach außen gerichteter Ansprüche, die sich an der Differenz von Selbstsystem und Umwelt ‘formieren’ und so die Informationsverarbeitung steuern.

Wenn Luhmann feststellt, der Anspruchsindividualismus setze sich selbst universell, dann verbirgt sich hinter dieser Aussage die Vorstellung von Individualität als "Ansprüche generierendes Prinzip." Das heißt: Jedwede Ansprüche können zum ‘Sondieren’ in unbekanntem Terrain benutzt werden und an den Resultaten, an Erfüllungen oder Enttäuschungen kann dann eine Person ihr Gesellschaftsbild formen. Jeder hat also die Chance, sich selbst als ‘letzte Instanz’ seiner Interessen und Wünsche darzustellen und sich in dieser Weise als ‘einzigartig’ zu behaupten. Diese Freiheit ist aber zugleich gekoppelt mit einer unausweichlichen Notwendigkeit: denn der einzelne ist zwangsläufig dazu bestimmt, das Allgemeinste, was jeder ist, für sich zu respezifizeren: "Seine Individualität", so Luhmann, "ist nichts anderes als diese Notwendigkeit der personalen Respezifikation." Weiter ist zu bedenken, daß Individualität allein nicht ausreicht. Wenn Luhmann feststellt ‘man muß auch Person sein’, so meint er damit die Möglichkeit der Zuordnung von Individualität im Kommunikationsprozess. Wenn Individualität (Inklusion vorausgesetzt) in dieser Weise als Anspruch kommunizierbar wird, so ist damit keine gesellschaftsinterne Gegebenheit gemeint, sondern, wie Luhmann in "Die Wissenschaft der Gesellschaft" ausführt, "eine Quelle von Impulsen zur Variation mit der dazu nötigen körperlich-mentalen Existenz."

Die Konsequenz der bisherigen Ausführungen zum weiten Definitionsrahmen des Subjekt-Begriffs liegt in der folgenreichen Feststellung, daß der Mensch, das Bewußtsein, die Person, das Subjekt und die Individualität jeweils Unterschiedliches im Hinblick auf die Kommunikation bewirken. Die zweifellos recht ‘aufwendige’ Vorarbeit war notwendig, um zu zeigen, daß das, was wir im herkömmlichen Sinne als Subjekt verstehen, im systemtheoretischen Kontext sozusagen zerlegt oder auseinandergerissen wird; und zwar in mehrere autonome ‘Funktions-Segmente’, die in jeweils unterschiedlicher Weise mit der Kommunikation zu tun haben. Wenn wir sagen "auseinandergerissen", dann ist damit selbstverständlich keine Wertung verbunden; denn von der Logik des systemtheoretischen Ansatzes her ist es keine ‘Böswilligkeit’, sondern gar nicht anders möglich, daß die verschiedenen ‘Dimensionen’ des Subjektbegriffs ihre Beiträge nur in ihrer jeweils spezifischen Weise zu leisten vermögen.

2. Subjektivität als ‘Artefakt’ funktionaler Differenzierung

Anknüpfend an die Vorarbeit des vorangegangenen Abschnitts geht es jetzt darum, die Bodenlosigkeit des Subjekts im Rahmen der Systemtheorie zu erklären. Zu diesem Zweck ist es erforderlich, die systemtheoretische ‘Logik’ der inneren Zerlegung des traditionellen Subjektbegriffs durchzuhalten. Wir beginnen unsere Betrachtungen mit dem Bewußtsein. Was Frank Marcinkowski im Hinblick auf die Operationsweise der Publizistik festgestellt hat, gilt zunächst einmal für das Einzelbewußtsein selbst, wenngleich hier das Öffentlichwerden des gesamten Spektrums von Beobachtungen zurücktritt: Die Operationen des Bewußtseins "sind durch ihren relativ blinden Interventionismus eine der zentralen Störquellen des selbstreferentiellen Operierens diverser gesellschaftlicher Funktionsbereiche." D.h. durch die individuellen Bewußtseinsleistungen werden die thematischen Verengungen teilsystemischer Kommunikation ständig zur Disposition gestellt. Uns kommt es darauf an, herauszustellen, daß funktionale Differenzierung, von der wir oben sprachen, eine Diskontinuierung der Kommunikation bewirkt, und wie Einzelbewußtseine damit zu tun haben. Wenn es den abrupten Wechsel der Kopplung mit Teilsystemen gibt, dann ist offensichtlich, daß Einzelbewußtseine quer zum Muster funktionaler Differenzierung operieren. Sie lernen alle anderen Differenzen kennen, durchwandern sozusagen die Grenzen der Systeme, d.h. sie vermögen die Umwelt stets gegen die funktionsrationalen Codierungen der Gesellschaft zur Geltung zu bringen.

Da das Einzelbewußtsein immer an Sprache gebunden ist und quer zum etablierten Muster funktionaler Differenzierung operiert, operiert es "im sprachbabylonisch aufgewühlten Ozean gesellschaftlicher Kommunikation" stets quer zu verschiedenen Sprachen. Die Zerrissenheit der Gesellschaft teilt sich, vermittelt sich über die Sprache dem Einzelbewußtsein mit. Am Medium der Sprache kann es seine eigene Zerrissenheit ablesen. Wir kommen weiter unten auf den Aspekt der Sprache nochmals ausführlich zu sprechen. Wenn das Bewußtsein, salopp gesagt, in dieser Weise die Erfahrung macht, seinen (sozialen) Ort verloren zu haben, so gilt das in gleicher Weise auch für alle Dimensionen, die wir (im Hinblick auf das traditionelle Subjekt) im systemtheoretischen Sinne unterschieden haben. In der Form der Person erlebt sich das Bewußtsein als multiple Adresse der Kommunikation. Wo immer es partizipiert, ob im Recht, in der Politik, in der Familie oder in der Wirtschaft, sieht es sich je verschiedenen Zurechnungsprozessen ausgesetzt. D.h. der Pluralismus von Zurechnungsprozessen wird (durch wechselnde Kopplungen) ungebremst in das Bewußtsein ‘hineintragen’, bildet dort harte Differenzen ab, so daß sich das Bewußtsein in innerer Distanz zu sich selbst erlebt. Wenn das Bewußtsein eins und authentisch sein will, sorgen die Kopplungen mit den Funktionssystemen und damit die stets wechselnden Personen für die Bewußtheit einer inneren Gespaltenheit. Wenden wir uns nun dem Begriff des Subjekts zu.

Die Gesellschaft selbst reguliert die Bedingungen für Inklusion. Diese Bedingungen werden, wie oben bereits angesprochen, von jedem Funktionssystem anders definiert (z.B. als Wähler, Zahler, Machtinhaber), fallen also bezogen auf die Gesamtgesellschaft höchst heterogen aus. Die zunehmende Komplexität der Gesellschaft bewirkt, daß die ehemals klassischen und festen Inklusionsmuster aufgelöst und freigesetzt werden. D.h. die Gesellschaft macht Inklusion von hochdifferenzierten Kommunikationschancen abhängig, die, wie Luhmann in seinem jüngsten Werk ausführt, "untereinander nicht mehr sicher und vor allem nicht mehr zeitbeständig koordiniert werden können." Das Bewußtsein erlebt sozusagen an sich selbst das in unterschiedlichen Situationen vorliegende Faktum der Inklusion, d.h. manchmal ‘fungiert’ es als Subjekt (im Luhmannschen Sinne) und manchmal eben nicht und erlebt damit zugleich eine Distanz zu je wechselnden Personen. Wenn im Einzelfall und für einen Moment Inklusion vorliegt, dann ist das nicht einer Idee oder der Kraft eines Bewußtseins zu verdanken, sondern wird bestimmt durch die internen Operationen der Sozialsysteme. D.h. die Gesellschaft diktiert das Erfordernis, entsprechend der unterschiedlichen ‘Logik’ der Funktionssysteme ein sozial reguliertes Rollenverhalten anzunehmen. Es werden also, um es zu wiederholen, stets unterschiedliche Personen relevant, die je für sich das aktuelle Faktum der Inklusion begründen bzw. als "Unperson" in Exklusion umkehren. Nochmals anders gewendet: In allen Funktionssystemen ist Inklusion grundsätzlich möglich und alle im Falle der Inklusion realisierten Personen graben sich in ihrer heterogenen Vielfalt in das Bewußtsein des einzelnen menschlichen Organismus ein.

Damit können Subjekte in der Gesellschaft (d.h. sozial) nicht mehr ‘greifbar’ plaziert werden. Dieser Zusammenhang ist schwer zu beschreiben. Vielleicht können wir es so ausdrücken: Alle ‘Elemente’ treten je für sich auf. Inklusion ermöglicht, daß überhaupt etwas Neues geschieht bzw. geschehen kann, das Bewußtsein bestimmt den qualitativen Beitrag (den sich die Kommunikation zu eigen macht!) und die Person bestimmt die äußere Form sozialer Zurechnung.

Führen wir diese Betrachtung nun unter dem Gesichtspunkt der Individualität fort. Die spezifischen Strukturen gesellschaftlicher Differenzierung bestimmen in einer höchst heterogenen Weise die Ausgestaltung individueller Anspruchsimpulse. Im Hinblick auf das politische System werden sich zwangsläufig andere Anspruchsimpulse ergeben als etwa mit Blick auf die Familie oder das Rechtssystem. D.h. wenn die Individualisierungsanstöße von den Bewußtseinen ausgehen, wir sprachen bereits davon, dann ist es die Gesellschaft, die sie schonungslos kanalisiert, d.h. die sie stets über Differenz laufen läßt. Umgekehrt ist natürlich zu bedenken, daß die Generierung von Anspruchsindividualitäten auf die Funktionsautonomie der Teilsysteme zurückwirken und deren Innenperspektive zu erweitern vermögen. Auch wenn allen Ansprüchen die Differenz von individuellen Impulsen und Gesellschaft zugrundeliegt, dürfte vor dem Hintergrund funktionaler Differenzierung und struktureller Kopplung also deutlich sein, daß niemals ‘die’ Gesellschaft ‘dem’ Individuum als Einheit gegenübertreten kann. Die Strukturen funktionsautonomer Systeme einerseits und die Art und Weise individueller Anspruchsartikulationen andererseits begründen sich wechselseitig. Luhmann führt aus, daß sich beide ineinander "verzahnen", d.h. "sie gehen eine Symbiose ein, der gegenüber es keine rationalen Kriterien des richtigen Maßes mehr gibt." Wir sehen an dieser Stelle also die sozusagen ‘übereinandergelegten’ Differenzen der Funktionssysteme einerseits und die jeweils analog möglichen Erwartungen bzw. die analog möglichen Anspruchsimpulse andererseits. Gleichsam über dieser Differenzfläche tritt die Schnellebigkeit aufflackernder Erwartungsstile und Anspruchsimpulse hervor. Die quer zu allen Funktionssystemen realisierten Kopplungen mit den Bewußtseinen werden damit in hoher Verdichtung flexibilisiert. Der einzelne bekommt damit eine hohe, unstrukturierte Reflexionslast zugewiesen. Hierbei ist weniger ein Kreiselkompaß gefragt, der aus der Statik des Innern her die Richtung weist, sondern eher, um ein Bild von Riesmann aufzunehmen, eine großdimensionierte Radaranlage, mit deren Hilfe sich in Enttäuschungslagen die Richtung der Erwartungsänderung hinreichend rasch und eindeutig ausmachen läßt.

Mit den nun folgenden, abschließenden Ausführungen dieses Kapitels wenden wir uns den Konsequenzen der vorgestellten Einzelbetrachtungen zu. Unser Fazit gestaltet sich deshalb sehr schwer, weil Luhmann merkwürdigerweise sehr oft vom Individuum spricht. Wir könnten diesen Begriff jetzt aufnehmen und schlicht feststellen, daß das Individuum durch die Heterogenität der Funktionssysteme in sich gespalten ist. Damit wäre allerdings eine begriffliche Unklarheit eingeschleust worden, die die o.g. Detailbetrachtungen unterlaufen würde. Daher sind wir in unserem Fazit gezwungen, die von uns herausgestellte und recht mühevolle und ‘umständliche’ Differenzierung durchzuhalten. Vor diesem Hintergrund halten wir folgendes fest:

Das Einzelexemplar der Gattung Mensch, und diese Begrifflichkeit wird jetzt bewußt gewählt, tritt in der Systemtheorie in sich zerlegt auf, es kann nicht mehr als Einheit gesehen werden. Der menschliche Organismus ermöglicht Bewußtseinsleistungen. Das Bewußtsein kann wahrnehmen, Ideen, Kreativität und damit Individualität entwickeln und damit die Kommunikation stören. Die Kommunikation legt fest, ob sie sich mit diesen Ideen selbst bereichern will, setzt also die Bedingungen für Inklusion fest, d.h., sie bestimmt, wann ein "Subjekt" gegeben sein soll bzw. sie legt fest, im Spektrum welcher Personen Inklusion möglich sein kann! Unter diesem Diktat können Bewußtseine mit einem Sozialsystem gekoppelt sein, so daß hierdurch die Dimensionen "Mensch", "Bewußtsein", "Individualität", "Subjekt" und "Person" in ihrer je spezifischen (und auch zusammenhängenden) Weise sequentiell zum Tragen kommen. Wenn wir nachfolgend vom einzelnen, vom Akteur oder vom Subjekt sprechen, dann sind diese Begriffe immer vor dem Hintergrund dieser ‘Einzeldimensionen’ zu sehen. Das gewissermaßen ‘in sich zerlegt’ auftretende Einzelexemplar kann niemals nur einem gesellschaftlichen Teilsystem angehören, sondern ist, in der Komplexität der Systemreferenzen, wo immer es partiziert, stets soziales Segment, Ausschnitt einer von der Gesellschaft nicht mehr erfassbaren Einheit.

Die Einheit der Gesellschaft, so Helmut Willke,wird zum "virtuellen Kontext, der jedem Akteur die Illusion erlaubt, seine Einheit für ‘die’ Einheit zu halten. De facto gilt, daß die Einzelexemplare fragmentarisch sind. Sie sind, wie Peter Fuchs anschaulich formuliert, "nicht aufrundbar zur Ganzheit, weil Kehrseiten, Seitenansichten und Rückseiten systemisch verschwinden." Sie verschwinden im Schatten der jeweils wechselnden Beleuchtungen, die die Funktionssysteme je für sich vornehmen und dadurch Sozialität konstituieren. Funktionale Differenzierung, so das Resümee von Peter Fuchs, "muß das individuelle Einzelexemplar sich selbst dividual vorführen und es damit exkludieren." Das Subjekt (im herkömmlichen Sinne) ist insofern exkludiert, als es nur in der Umwelt des Gesellschaftssystems vorkommt. In höchst pluralistischen, heterogenen und problematischen Formen der Inklusion ist es an die funktional ‘zerrissene’ Gesellschaft gekoppelt (die als Gesellschaft sonst nicht möglich wäre) und kann in dieser Kopplung nur in sich zerlegt relevant werden. Das Einzelwesen wird entmachtet, es unterliegt einer sozialen Auflösung, d.h. es verliert, wie Helga Gripp-Hagelstange feststellt. seinen Ort, wo es als ‘gesellschaftliches Wesen’ existieren kann.

III. Kognition als operational geschlossenes Systemgeschehen

Für Luhmann gibt es mehrere empirische Grundlagen für Kognitionsprozesse, die jeweils eine operative Schließung voraussetzen, nämlich Leben, Bewußtsein und Kommunikation. Da wir in diesem Abschnitt die Bodenlosigkeit des Denkens im Lichte der Systemtheorie erklären wollen, befassen wir uns im folgenden in erster Linie mit der Operationsweise des Bewußtseins. Voraussetzung für die Operationen des Bewußtseins sind die geräuschlosen, unbemerkten Aktivitäten des Nervensystems des eigenen Körpers, d.h. das Bewußtsein ist an die neurophysiologischen Prozesse des eigenen Organismus gekoppelt. Entgegen der lange Zeit vorherrschenden Vermutung, daß es irgendwo im Gehirn ein singuläres Zentrum geben müsse, in dem alle Informationen zusammenkommen und einer einheitlichen Interpretation zugeführt werden, erbrachte die Hirnforschung in den letzten Jahren den Beweis, daß ein solches, sozusagen ‘in sich ruhendes’ Zentrum nicht existiert. Die Forschung sieht das Gehirn heute als extrem distributiv organisiertes System, in dem zahllose Teilaspekte der einlaufenden Signale parzelliert und parallel abgearbeitet werden. Zwar stehen alle Zentren miteinander über mächtige und reziproke Nervenbahnverbindungen in intensiver Wechselwirkung, aber es ist bisher völlig unklar, so Wolf Singer, "wie ein derart parallel organisiertes System dazu kommt, das Bild einer kohärenten Wahrnehmungswelt zu entwerfen und sich insgesamt zielgerichtet zu verhalten." Bei allen faszinierenden Rätseln, die die Hirnforschung in den letzten Jahren aufgeworfen hat, interessiert uns im hier vorliegenden Zusammenhang nur der unstrittige Ausgangspunkt der Forschung, daß Verhaltensphänomene einschließlich psychischer und mentaler Funktionen durch neuronale Kommunikationsprozesse erklärt werden müssen, d.h. durch mächtige dezentrale Mechanismen dynamischer Selbstorganisation.

Das Bewußtsein ist an diese Mechanismen gekoppelt, ohne etwas von den Arbeitsbedingungen dieser neurophysiologischen Abläufe zu kennen, ohne diese Bedingungen in irgendeiner Weise kontrollieren bzw. sich diesen Prozessen anpassen zu können. Trotz der Kopplung beider Operationsweisen ist die von beiden jeweils intern generierte Kognition inkompatibel zueinander. Das Bewußtsein kann seine Gedanken, so Peter Fuchs, "nur durch Zuordnung zu diesem seinem leiblichen Leben zur Einheit aggregieren und nur dadurch, daß es sich selbst zugleich von diesem Leben unterscheidet." Helga Gripp-Hagelstange hebt hervor, daß das Bewußtsein die Beschränkungen des Nervensystems, das selbst ohne Bezug zur Außenwelt operiert, dadurch gewissermaßen kompensiert, indem es das, was ihm als Eigenzustand des Körpers suggeriert wird, nach außen kehrt.

Wenn wir im folgenden nun die spezifische Operationsweise des Bewußtseins näher untersuchen, stoßen wir auf dieselbe Grundstruktur der mächtigen und dynamischen Prozesse von Selbstorganisation, die wir im Hinblick auf die Arbeit des Gehirns oben skizziert haben. Als ‘Material’ des Bewußtseins gelten die Wahrnehmung sowie die Gedanken. Als sehr kurzes, sich immer wieder verlierendes Ereignis ist die Wahrnehmung jener Mechanismus, der dem Bewußtsein Außenkontakt vermittelt. Wie man unschwer erkennen kann, gibt es die Wahrnehmung nie im Singular; vielmehr muß immer wieder neu wahrgenommen werden. Und so ist es auch mit den Gedanken. Gedanken sind im Verständnis Luhmanns die ‘Letztelemente’ des Bewußtseins, sie können nie einzeln vorkommen, sondern immer nur in Vernetzung mit anderen Gedanken; der imaginative Aufbau von Bildern und vagen Assoziationen ist unvermeidlich eingebunden in einen dynamischen Verknüpfungskontext. Luhmann weist darauf hin, daß die Ordnungskapazität des Systems in Minutenschnelle überfordert wäre, wenn jeder Gedanke im Bewußtsein stehenbleiben würde. Gerade weil sich die Gedanken nicht halten lassen, ist das Bewußtsein gezwungen, dem Zerfall der Ereignisse die Produktion von neuen entgegenzuhalten. Aktuell entwickelte Vernetzungskonstellationen lassen andere absterben; insofern kann Luhmann sagen, das Bewußtsein bestehe aus Ereignissen (Elementen), die mit ihrem Auftauchen schon wieder verschwinden. Der Dauerzerfall der Konstellationen ist konstitutiv für die Tätigkeit des Bewußtseins; es ist, wie Luhmann sagt, gehalten, "sich selbst durch die ständige Neubildung von Elementen irreversibel zu machen, also eine Geschichte zu akkumulieren." Wir halten also in einer ersten Zwischenbetrachtung fest, daß, wie Gripp-Hagelstange feststellt, "die Genese von Gedanken nicht einer wie auch immer zu denkenden Potenz des Bewußtseins geschuldet ist, sondern gleichsam aus der Potenz der Autopoiesis resultiert."

Oben haben wir bisher lediglich davon gesprochen, daß sich Gedanken als rekursiv erzeugte selektive Ereignisse untereinander fortspinnen. Wir müssen jetzt hinzufügen, daß diese Aufeinanderfolge zunächst einmal blind abläuft, denn bisher haben wir Gedanken nur als ‘Material’ des Bewußtseins betrachtet. Auf dieser Betrachtungsebene können wir nicht begreifen, daß die Gedanken jeweils füreinander andere Gedanken sind. D.h. solange diese selbstreferentielle Bewegung des Aufbaus von Gedanken aus Gedanken läuft, bleibt letztlich nichts sichtbar. Soll ein sichtbarer Gedanke in die Welt kommen, muß diese unendliche Bewegung angehalten oder unterbrochen werden. Dies geschieht im Prozeß des Beobachtens, den wir oben bereits dargestellt haben (vgl. S. 170). Durch die Beobachtung kommt eine weitere Differenzierung ins Spiel, nämlich die Unterscheidung zwischen dem Gedanken und dem Gedachten. Das Gedachte ist dadurch gegeben, daß ein Gedanke einen anderen beobachtet; d.h. ein Gedanke faßt einen anderen mit Hilfe einer Unterscheidung und fixiert (bezeichnet) ihn so, daß er eben von diesem Gedanken (und keinem anderen) Abstand gewinnt: "Der beobachtende Gedanke", so Luhmann, "kann den beobachteten Gedanken von sich selbst unterscheiden, nur so kann ein Gedanke merken, daß er nicht der zuvor gedachte Gedanke ist, und nur so kann man zielstrebig auf etwas hindenken." Der beobachtete Gegenstand ist in der Terminologie Luhmanns die Vorstellung und das Beobachten ist das Vorstellen einer Vorstellung.

Wir gehen nun der Frage nach, wie das Reproduktionsverhältnis von Gedanken und Vorstellungen (unter der Bedingung ihrer permanenten Andersheit) beschaffen ist. Bei dem Zustandekommen einer Vorstellung müssen wir von der Voraussetzung ausgehen, daß diese Vorstellung (sofern sie beobachtet wird) bereits kein aktuelles Ereignis mehr ist, weil die Autopoiesis des Bewußtseins bereits weitergegangen, der Übergang zu einem anderen Gedanken bereits gelungen ist. D.h. der die Vorstellung beobachtende Gedanke ist der Vorstellung immer schon voraus. Vor diesem Hintergrund kommt Luhmann zu der Feststellung, das Bewußtsein prozediere voran, indem es zurückblicke, es operiere gleichsam "mit dem Rücken zur Zukunft", es bewege sich gegen die Zeit in die Vergangenheit, sehe sich selbst dabei ständig von hinten und an der Stelle, wo es schon gewesen sei. Das Bewußtsein, so Luhmann, "bemerkt, was ihm passiert ist. Es wird auf sich selbst aufmerksam. Es bemerkt seine Vorhaben in der Erinnerung, es entdeckt im Rückblick gespeicherte Zukunftserwartungen." Wir halten fest: Durch Anschlußoperationen an die bezeichnete Seite unterschiedener Gedanken wird die Autopoiesis des Bewußtseins garantiert. Die Vorstellung dient einem Gedanken dazu, sich selbst zu finden, d.h. sich in dem jeweils aktuellen Moment kurzfristig zu lokalisieren und den Übergang zum nächsten Moment (selbständig und autonom) zur regulieren. Die spezifische Geschichte von Vernetzungen (bzw. Strukturbildungen), die hiermit aufgebaut wird, ist individuell, offen und beliebig. Der einzige, sozusagen ‘generelle Leitfaden’ besteht darin, daß sich die beobachtenden Operationen an der Unterscheidung zwischen Selbst und Nichtselbst orientieren. Die Beobachtung, die immer die Orientierung an einer Unterscheidung verlangt, verwendet die Differenz von Selbstreferenz und Fremdreferenz. Wie bei jeder Unterscheidung steht die Beobachtung auch hier unter dem Zwang, zu bezeichnen, welche von beiden Seiten gemeint ist. So kann das Bewußtseinssystem die aktuell gegebene Referenz anreichern und damit Sinn kondensieren oder die Referenz wechseln. Damit trennen sich Strukturkondensation und Autopoiesis; denn sofern die Variation von Strukturen das Erleben nicht überzeugend faßt, kann die Referenz gewechselt werden, so daß eine neue Strukturbildung in Gang kommt. Im Zentrum steht hier der Mechanismus des "crossing." Luhmann führt aus, daß es keine stabile und endgültige Option für die Welt und gegen das Ich oder (zwangsläufig nur) den umgekehrten Fall geben kann. "Jeder Gedanke", so Luhmann, "gewinnt für sich selbst die Freiheit zurück, im Rahmen der Beobachtung eines anderen Gedankens von Fremdreferenz zu Selbstreferenz bzw. von Selbstreferenz zu Fremdreferenz überzugehen." Gerade weil die Autopoiesis des Bewußtseins dafür sorgt, daß jede Operation beide Möglichkeiten regeneriert, kann sich jeder folgende Gedanken in einer Situation der "Bistabilität" immer wieder neu entscheiden. Das Bewußtsein kann ausprobieren, wie es in der jeweils momentanen Situation am besten zurechtkommt. "Die Welt," so Luhmann, "bleibt eine offene Welt, aufnahmefähig für alles, was das Bewußtsein sich selbst zurechnet."

Im Hinblick auf die uns interessierende Frage der Bodenlosigkeit des Denkens spüren wir nach den bisherigen Ausführungen etwas von der Einsamkeit, mit der das Einzelbewußtsein vor sich hinarbeitet. Alles, was die Wahrnehmung als stets wechselnde Sequenz dem Bewußtsein als Anschauung gibt, ist nicht die Welt ‘an sich’, vielmehr handelt es sich, wie Luhmann im Anschluß an den Konstruktivismus ausführt, um "neurophysiologisch präparierte Zufallsträger", wobei das Gehirn seinerseits als vorgeschaltetes autopoietisches System fungiert. Durch die Autopoiesis der Bewußtseine selbst wird profiliert festgelegt, in welcher Weise sie umweltempfindlich reagieren wollen; insofern gibt es eine unübersehbare Vielzahl höchst individueller Selektionen und Kopplungen und alle Resultate, die hieraus erwachsen, sind (wiederum) für rein interne Zwecke der Bewußtseine produziert. Wenn wir auf der einen Seite also betonen, daß die Wahrnehmung gerade nicht die Welt ‘an sich’ zur Anschauung bringen kann, dann müssen wir auf der anderen Seite festhalten, daß die Autopoiesis der Bewußtseine nicht zwangsläufig von bestimmten Strukturen abhängt. Bewußtseine, so Luhmann, können so viele Zustände annehmen, daß sie nicht berechnet, ihr Verhalten nicht prognostiziert werden kann, "sie operieren lernfähig und so gut wie unbelehrbar." D.h. in der Struktur seiner Selbstfestlegung hat das Bewußtsein weder eine intendierte Entwicklung noch ein übergreifendes Ziel, es hält lediglich den Prozeß der eigenen Autopoiesis lebendig und gerade darin, so Luhmann "spürt es sich denken." Die Autopoiesis des Bewußtseins, die wir zu beschreiben versucht haben, ist nicht als Produktion einer bestimmten Gestalt zu begreifen. Vielmehr kommt es hierbei in erster Linie auf den Prozeß der fortgesetzten Reproduktion an sowie auf den Tatbestand, daß dabei eine Differenz von System und Umwelt erzeugt wird.

Die ‘Bodenlosigkeit’ des Operierens sehen wir noch in einem weiteren Sachverhalt begründet: in der Fähigkeit des Bewußtseins zur Selbstbeobachtung seines eigenen Systems.

Bevor wir diesen Zusammenhang untersuchen, werfen wir zunächst noch einen Blick auf die Geschlossenheit des Bewußtseins.

Bewußtseine reproduzieren Gedanken aus Gedanken und sind dabei eben nicht in der Lage, ihre Operationen außerhalb ihrer Systemgrenzen wie etwa auf der Ebene der Arbeitsbedingungen ihrer Gehirne oder auf der Ebene der Kommunikation fortzusetzen. Es kann keine Überschneidungen der Operationen geben, d.h. die Wahrnehmung sowie die Gedankenarbeit ist zwangsläufig immer ein rein psychisches Ereignis ohne z.B. kommunikative Existenz. Die Bewußtseine, die Kommunikation wie auch die lebenden Organismen (in unserem Bezug die neurophysiologischen Prozesse des Gehirns) lösen also die Probleme der Kognition im Vollzug ihrer je ganz spezifischen Autopoiesis. Die Geschlossenheit des selbstreferentiellen Operierens der Bewußtseine ist nicht nur im Hinblick auf andersartige, sondern auch gegenüber gleichen Systemen gegeben. Oben sprachen wir davon, daß die Operationen eines Einzelbewußtseins den historischen Zustand einer Konstellation festlegen, von dem das System bei der nächsten Operation auszugehen hat. "Jede Operation", so Luhmann, "ist mitbedingt durch den Zustand, in den sich das System selbst durch seine eigenen Operationen gerade versetzt hat." D.h. in der Weiterentwicklung der Operationsfolge baut sich eine spezifische Komplexität, ein spezifisches Gedächtnis auf, das gegenüber anderen Bewußtseinsstrukturen völlig autonom, unverwechselbar und intransparent ist.

In der vollen Autonomie der jeweils eigenen operativen Strukturentwicklung ist es den Bewußtseinen unmöglich, in andere Bewußtseine ‘hinüberzudenken’ bzw. den aktuellen Innenzustand anderer Bewußtseinssysteme zu kennen. Alles bleibt im Einzelbewußtsein verschlossen. Die autonome Geschlossenheit der Bewußtseine läßt sich gut im Zusammenhang mit der Sprache erläutern. Luhmann weist daraufhin, daß die Sprache die unterscheidende Beobachtung von Gedanken erleichtert. Sie verhilft dazu, Gedanken als klare, verschiedenartige zu artikulieren, Gedanken so ‘ordnend’ zu kanalisieren, daß sie sozusagen ‘entlang von Sätzen’ im Schnellzugriff verfügbar sind. Das Bewußtsein, so Luhmann, hilft sich bei zunehmender Komplexität mit Sprache, um ein bewußtseinsinternes ‘Chaos’ zu verhindern "und wird dann das Mittel nicht wieder los."

Daß die Geschlossenheit des Bewußtseins nie radikal bzw. konsequent genug gedacht werden kann, zeigt eine Formulierung Luhmanns in seinem Band ‘Soziologische Aufklärung 6’: "Würden wir uns anstrengen, das eigene Bewußtsein wirklich in seinen Operationen von Gedanken zu Gedanken zu beobachten, würden wir zwar eine eigentümliche Faszination durch Sprache entdecken, aber zugleich auch den nichtkommunikativen rein, internen Gebrauch der Sprachsymbole und eine eigentümlich-hintergründige Tiefe der Bewußtseinsaktualität, auf der die Worte wie Schiffchen schwimmen (Hervorhebungen von mir, S.F.), aneinandergekettet, aber ohne selbst das Bewußtsein zu sein; irgendwie beleuchtet, aber nicht das Licht selbst." Der bewußtseinsinterne Gebrauch der Sprache, will Luhmann sagen, hat immer noch eine merkwürdige Distanz zum eigentlich Gedachten. Umgekehrt betrachtet hat das eigentlich Gedachte eine solche Authentizität in der Tiefe des Bewußtseins, daß es von der bewußtseinsintern verwendeten Sprache nie ‘adäquat’ erfaßt und eingeholt werden kann. "Wie ein Irrlicht", so Luhmann "tanzt das eigene Bewußtsein auf den Worten herum, benutzt sie, verspottet sie, meint sie und zugleich auch wieder nicht, läßt sie auf- und wieder abtauchen." Die Operationen des Einzelbewußtseins würden allerdings unermüdlich um sich selbst kreisen und damit letztlich leerlaufen, wenn Bewußtseinssysteme nicht mit ihrer Umwelt, der gesellschaftlichen Kommunikation, gekoppelt wären. Die Umwelt erhält zwar keine Informationen für die Bewußtseine (Luhmann sagt im Anschluß an Gotthard Günther: "sie ist, wie sie ist"), dennoch können von ihr Impulse ausgehen, die von Bewußtseinssystemen als Störung ihrer eigenen Autopoiesis wahrgenommen werden. Bewußtseine können diese Irritation als Anlaß begreifen, interne Strukturveränderung vorzunehmen, wodurch sie sich letztlich selbst als "quirliges, ereignisbasiertes" (Luhmann) System am Leben erhalten. Da wir den Aspekt der strukturellen Kopplung weiter unten ausführlich untersuchen werden, wollen wir die Betrachtung der operativen Geschlossenheit (bzw. Offenheit) nun abbrechen, um den Prozeß bewußtseinsinterner Autopoiesis wieder aufzugreifen, der bisher nur bruchstückhaft vorgestellt werden konnte.

1. Das Unvermögen der Bewußtseine, aus sich heraustreten zu können: "Paradoxie der Selbstreferenz"

Bewußtseine können vom Beobachten ihrer (einzelnen) Operationen zum Beobachten ihres Beobachtens und schließlich auch zur Beobachtung ihres eigenen Systems übergehen. Mit dem letzteren Fall ist gemeint, daß sich die Beobachtung auf die Gesamtheit aller Operationen bezieht, die das Bewußtseinssystem als autopoietischen Zusammenhang konstituieren. Die Beobachtung richtet sich, wie Luhmann sagt, auf die "Einheit des sich selbst erzeugenden Gedankenzusammenhangs", d.h. das Bewußtsein beobachtet sich selbst als das System, das alle seine Gedanken umfaßt und darin von der Umwelt unterschieden ist. Hiermit ist im Verständnis Luhmanns keine willkürliche Beobachtung gemeint, die man ebensogut auch lassen könnte, vielmehr rekurriert die Logik der Reproduktion der Bewußtseine unausweichlich und ständig auf Selbstreferenz. Auf der Ebene der Beobachtung 2. Ordnung wird es sich situativ immer von seinem Gegenstand wegbewegen und sich dem momentanen operativen Selbst zuwenden (z.B. mit der Frage "warum will ich das wissen?"). Die Selbstbeobachtung des Bewußtseins kann sich nur innerhalb des (eigenen) Systems realisieren; sie muß voraussetzen, daß das System schon vorliegt. D.h. Bewußtseine setzen auf der operativen Ebene selbstreferentielle Geschlossenheit als Bedingung der Möglichkeit ihrer Operationen voraus und erzeugen erst damit die Möglichkeit (auch) dies beobachten zu können; damit werden die selbstreferentiellen Operationen auf sich selbst anwendbar. Für Selbstbeobachtungen gilt nun aber das gleiche, das für jede Beobachtung gilt, daß sie nämlich mit dem, was sie bezeichnen, zugleich einen unmarkierten Bereich produzieren, der nicht ‘thematisch’ erfaßt ist, sondern als Umwelt vorausgesetzt ist. Das heißt: Auch die Selbstbeobachtung praktiziert die Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz und zwar durch Operationen des Systems im System. Die Unterscheidung ist, wie Luhmann in "Die Gesellschaft der Gesellschaft" sagt, eine "Konstruktion des Systems." Das wiederum bedeutet, daß das Bewußtsein sich von einer Umwelt unterscheiden muß, wobei diese Umwelt nichts anderes ist als ein internes Produkt seiner Operationen. Das Bewußtsein ist nicht in der Lage, die Unterscheidung selbst zu beobachten, die es aktuell gerade verwendet. D.h. auch die Selbstbeobachtung ist bedingt durch einen blinden Fleck, sie ist nur möglich, weil sie "ihr Sehen nicht sehen kann." In der Konsequenz aktualisieren Bewußtseinssysteme in der Selbstbeobachtung also die "Paradoxie der Selbstreferenz", d.h. den Fall der differenzlosen Selbstreferenz, die nur von ihrer Selbstnegation lebt.

Dadurch, daß das Bewußtsein als System vorausgesetzt werden muß, kann die Selbstbeobachtung also nie eine konstitutive, d.h. ein System begründende Operation sein, sondern kann immer nur als nachträgliche Operation vorliegen. D.h. kein Bewußtseinssystem ist dazu befähigt, eine vollständige Selbstbeobachtung zu begründen, bzw. volle Transparenz im Hinblick auf sich selbst herzustellen. Allerdings kann jedes Bewußtsein Selbstbeobachtung auf der Grundlage eines reduzierten Modells von sich selbst praktizieren und damit weitere Operationen auslösen, die die Strukturen verändern und denen dann neue Selbstbeobachtungen folgen können. So entsteht ein komplexes Gebilde von Unterscheidungen, die den Beobachtungsprozeß der Bewußtseine leiten. Wird in dieser Weise die Wiedereinführung der Einheit eines Systems in das System vollzogen, so wird damit im Bewußtseinssystem eine Differenz erzeugt, nämlich, wie wir oben bereits sagten, "eine Differenz der introduzierten Einheit zu dem, was sich im System sonst noch ‘vorfindet’."

Wir können es auch so ausdrücken, daß die Operationen der Reflexion der Einheit in einem autopoietischen Kontext immer nur eine Operation im Zusammenhang mit anderen Operationen sein kann und dadurch zwangsläufig eine Differenz hervorbringen. Und auch diese Differenz kann im nächsten Moment durch einen anderen Gedanken als Vorstellung beobachtet werden und das typische Crossing, von dem wir oben gesprochen haben, freisetzen: Entweder können die Operationen bei der vorgestellten Einheit bleiben, d.h. sie kondensieren, oder die Vorstellung der Differenz selbst wird als Gedanke gefaßt, womit dann sehr schnell erlebbar wird, daß die intendierte Einheit unter dieser Vorstellung selbst wegläuft.

Uns kommt es darauf an, zu zeigen, daß die Einführung der Einheit in die Einheit des Bewußtseins zwangsläufig die Einführung einer Differenz ist. Eine Operation, so Luhmann, die sich in ihrem Bedingungszusammenhang als Einheit will, "will sich als Differenz." In der Suche nach der Einheit des Bewußtseins wird man also im Rahmen der Systemtheorie weder auf Eigenschaften noch auf Prinzipien stoßen, die unumstößlich feststehen. Wenn die Einheit immer nur als Differenz beobachtet werden kann, dann wird sie sich in der Beobachtung dieser Beobachtung zwangsläufig in Bistabilität auflösen. Das Bewußtsein hat verschiedene Möglichkeiten, mit den oben aufgezeigten Paradoxien umzugehen: Es kann sich zunächst einmal diesen eigenen Paradoxien ‘frei schwebend’ zuwenden, und zwar ohne daß dadurch, wie Luhmann sagt, diese Form der Aufmerksamkeit als Gedanke unmöglich würde: "Die Paradoxie ist keine Existenzfrage für das System." In der Konsequenz, so Luhmann, bleibt die Frage "wer bin ich?" zwangsläufig im Dunkel. Aus dem Dunkel kann man nur auf "unehrliche Weise" wieder herausfinden, nämlich durch Entparadoxierung der Paradoxie. Unabhängig davon, ob man diese ‘Stützkonstruktion’ als Verfahren der Selbstintendierung, als Selbstsimplifikation oder als Reduktion von Komplexität bezeichnet, müssen wir stets die prinzipielle Offenheit und Unbestimmtheit dieser Vorgänge sehen, die stets auf kontingente, d.h. auch anders mögliche Selektionen angewiesen bleiben.

2. Eine exemplarische Betrachtung: Der formal bestimmte Wahrheitsbegriff des konstruktivistischen Erkenntnismodells im Kontrast zum substantiellen Wahrheitsverständnis der Tradition

In den bisherigen Ausführungen dieses Abschnitts ging es um den Versuch, die ‘Bodenlosigkeit’ des Denkens im Bezugsrahmen der Systemtheorie zu erklären – an einigen Stellen haben wir entsprechende Erklärungsansätze geliefert. Wir wollen es dabei nicht bewenden lassen, sondern mit einer exemplarischen Betrachtung einen neuen Anlauf zur Erklärung starten. Wenn man die ‘Bodenlosigkeit’ des Denkens thematisiert, stellt sich unmittelbar auch die Frage nach der Wahrheit der Erkenntnis. Die entsprechende, am herkömmlichen Denken orientierte Frage könnte lauten: Ist nicht gerade mit der Wahrheit ein Kriterium gegeben, das die Übereinstimmung von Denken und Gegenstand garantiert und das Denken dadurch letztlich wieder auf einer verläßlichen Basis abzusichern vermag?

Die Philosophie Immanuel Kants war in der Philosophiegeschichte der letzte maßgebende Versuch, das Denken in dieser Weise abzusichern. Im nachfolgenden Abschnitt werden wir uns mit diesem Denken befassen und im Kontrast hierzu versuchen, die strukturell ‘bodenlose’ Verfasstheit des systemtheoretischen Wahrheitsverständnisses nachzuweisen: Wahrheit wird hier nur noch formal und hypothetisch bestimmt. In der Neubegründung der Erkenntnistheorie durch Immanuel Kant sah die traditionelle Schule von Anfang an eine Leugnung der Metaphysik – man betrachtete die Wahrheit als relativiert. Ungeachtet dessen bestand das zentrale Motiv Immanuel Kants gerade umgekehrt in der großen Aufgabe, die Philosophie auf ein autonomes und sicheres Fundament zu stellen, ein objektives Wahrheitskriterium aufzustellen, um von hier aus die Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit der Erkenntnis zu begründen.

Im Rahmen der Fragestellung dieses Kapitels ist es weder leistbar noch notwendig, die philosophische Position Kants in ausführlicher Weise vorzustellen; wir wollen lediglich ausschnitthaft den spezfischen Gedankengang skizzieren, mit dem Kant die Absicherung der Erkenntnis nachzuweisen versucht. Kants Ausgangspunkt ist der Bereich des Phänomenalen. Der Mensch, so sagt er, ist umgeben von den Erscheinungen der Dinge in Raum und Zeit. Alle Erkenntnis hat zunächst einmal auszugehen von der Sinnlichkeit und Endlichkeit des Menschen, d.h. von der Erfahrung des Einzelnen. Obwohl Kant diesen Ausgangspunkt wählt, will er nachweisen, daß Erkenntnis (dennoch) nicht von der Zufälligkeit und Beliebigkeit eines pluralistisch verfaßten ‘Empfindungschaos’ bestimmt wird, sondern Objektivität und Allgemeingültigkeit beinhaltet. Seine zentrale Aufgabe sieht Kant in der Begründung, mit der die Objektivität der Erkenntnis nachgewiesen werden kann. Am Anfang seiner Begründung steht eine Voraussetzung, von der er ausgeht: Die Allgemeingültigkeit der Erkenntnis ist nicht wie in der traditionellen aristotelischen Metaphysik aus dem Wesen der Dinge (an sich) ableitbar. Richtete sich die Erkenntnis im traditionellen Denken nach den Gegenständen, so dreht Kant die Perspektive um. Kann es nicht sein, so fragt er, daß sich die Gegenstände nach unserer Erkenntnis richten? Diese Frage soll zeigen, daß Kant, ausgehend von der Erfahrungserkenntnis, sozusagen rückwärts jene Faktoren ausfindig machen will, die am Zustandekommen eben dieser Erfahrungserkenntnis beteiligt sein müssen. Er fragt: Wie kann es überhaupt Gegenstandserkenntnis geben und das wiederum bedeutet, daß er nicht von dem Entstehen der Erfahrung sprechen will, sondern wie Günther Patzig anschaulich sagt, "von dem, was in ihr liegt."

Dadurch, daß er sozusagen allem anderen voraus, ganz generell die Bedingungen der Möglichkeit von Erkennen untersucht, d.h. eine Theorie der apriorischen Tiefenstruktur von Erfahrung und damit eine transzendentale Theorie der Subjektivität (Höffe) begründet, will er die erfahrungsunabhängige Seite der Erkenntnis aufspüren. Das Allgemeingültige und Notwendige unserer Erkenntnis, so sagt Kant an die Adresse der Tradition, kann nicht als ein Materiales hinter oder über unserer Erfahrung verstanden werden, sondern muß ein Formales vor aller Erfahrung sein und genau dies muß eine transzendentale Logik nachweisen.

Wenn Kant von der Erkenntnis des Menschen spricht, dann meint er damit neben der Sinnlichkeit bzw. Anschauung auch die Begriffe. "Ohne Sinnlichkeit", so lautet eine bekannte Aussage Kants, "würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden." Kant geht es um den Nachweis, daß beide Erkenntnisquellen neben ihrer ‘empirischen’ Dimension eine erfahrungsunabhängige Seite haben, in der letztlich die Objektivität und Allgemeingültigkeit der Erkenntnis begründet liegt. Betrachten wir zunächst die Sinnlichkeit des Menschen. Kant sagt, daß alles Vielfältige der Anschauung unter formalen Bedingungen steht, die selbst nicht wahrgenommen werden; er meint damit den Raum und die Zeit. Beide Größen sind nicht ‘an sich’ bestehende Dinge, die irgendwie abstrakt vorhanden wären, sie sind vielmehr notwendige Strukturen unserer Sinneswelt und damit rein subjektive Formen der Sinnlichkeit. Es fällt anfangs nicht leicht, Kants Unterscheidung zusammenzufügen, daß Raum und Zeit einerseits aller Erfahrung vorausliegen und andererseits rein subjektive Formen der Sinnlichkeit des Menschen sind. Er meint damit anscheinend, daß Raum und Zeit sozusagen als Grundanschauungen oder Leerformen a priori im Gemüt des Menschen bereitliegen, und die durch subjektive Empfindungen nur noch in spezifischer Weise eingefärbt werden. Die reine Anschauung des Raumes, so Günther Patzig, "ist gleichsam das Gefäß, in das Empfindungsmaterial eintreten kann. Erst in diesem bereitliegenden Gefäß kann uns Empfindung als Element der Erfahrung begegnen."

Ebenso ist die Zeit ein aller Erfahrung vorhergehendes Ordnungssystem von Erscheinungen, in dem wir erst die Mannigfaltigkeit der Empfindungen zu einer Anschauungswelt gliedern können. Raum und Zeit dienen Kant also als Prinzipien, die letztendlich eine erfahrungsunabhägige Begründung von wahren Urteilen ermöglichen (der gedankliche Ort dieser Begründung liegt in Kants Ausführungen zur Geometrie, Arithmetik sowie zur transzendentalen Ästhetik).

Betrachten wir nun die erfahrungsunabhängige Seite der Begriffe. Die Erfahrung, so Kant, kann nur dann einen Zusammenhang realisieren, wenn der Verstand durch das Vermögen der Begriffe eine systematische Einheit der Erkenntnis herstellt. Der Verstand leistet dies auf eine zweifache Weise. Zunächst einmal wird im Bezugsrahmen der Bedeutungsregeln der Sprache durch Begriffe die logische Form eines Urteils zustandegebracht. Kant spricht hier von der analytischen Einheit, die darin besteht, daß ein Satz aus rein logischen Gründen wahr oder falsch sein kann. Diesen Aspekt wollen wir zunächst einmal vernachlässigen, da es Kant in erster Linie darum geht, jenseits der Probleme der sprachlichen Logik die erfahrungsunabhängige Seite der reinen Verstandesbegriffe zu begründen. D.h. Kant geht davon aus, daß man durch ‘bloßes Nachdenken’ etwas über die Strukturen der Wirklichkeit erfahren kann. Es gibt, so sagt er, Erkenntnis von Gegenständen vor aller Erfahrung aufgrund reiner Verstandesbegriffe, die die Objekte a priori treffen. Die Verstandesbegriffe entspringen der Erkenntnis reiner Vernunft und ermöglichen die objektive Erkenntnis der erfahrbaren Wirklichkeit. Im Mittelpunkt des Interesses steht hier also nicht die Frage, wie Sätze aus anderen abgeleitet werden können, sondern das Bemühen zu erklären, wie sich überhaupt Begriffe a priori auf Gegenstände beziehen können und wie begründet werden kann, daß diese unabhängig von jeder Erfahrung existierenden Verstandesbegriffe legitim verwendet werden können und darin objektive Gültigkeit für alle Gegenstände möglicher Erfahrung besitzen. Wie ist es möglich, so fragt Kant, "daß ein synthetisches Urteil, d.h. ein Urteil reiner Verstandesbegriffe a priori objektive Gültigkeit für die Gegenstände der Erfahrung haben kann? In seiner Begründung stoßen wir auf Kategorien, die Kant in seinem Werk "Kritik der reinen Vernunft" entwickelt hat. Kant geht davon aus, daß alle Vorstellungen, die über Empfindungsdaten transportiert werden, bereits einen empirischen Inhalt besitzen – davon hatten wir bereits gesprochen. Jetzt geht er sozusagen ‘eine Stufe höher’ und sagt, daß der Verstand in die Vorstellungen auch einen transzendentalen Inhalt hineinlegt. Er besteht darin, daß in der reinen Anschauung sämtliche Vorstellungen, die es von einem Gegenstand gibt, als Eigenschaften eben dieses einzelnen Gegenstandes aufgefaßt werden. D.h. hier wird der Gegenstand quasi als Einheitspol verschiedener von ihm herrührender Vorstellungen betrachtet. Hier wirkt also, wie Günther Patzig feststellt, eine Kategorie "unter deren Anleitung wir mannigfaltige Vorstellungen auf Gegenstände beziehen können."

Alle Gegenstände möglicher Erfahrung sind a priori den formalen Bedingungen unterworfen, die in den Kategorien enthalten sind. Die Kategorien sind keine irgendwie ‘an sich’ gültigen, objektiven Maßstäbe, die über der Erfahrung liegen, sondern sie sind auf die in Raum und Zeit gegebenen Sinnesdaten des einzelnen hin verpflichtet und sind damit subjektive Bedingungen des Denkens. Andererseits sind sie transzendental, d.h. sie werden immer schon als notwendige Bedingung für den Aufbau von Gegenständen vorausgesetzt. Da sie sozusagen aufgrund dieses Status die Mannigfaltigkeit gegebener Vorstellungen zu einer synthetischen Einheit zusammenführen können, sind sie in der Lage, als reine Verstandesbegriffe die Objekte der Erfahrungswelt a priori zu treffen. Nochmals, anders gewendet:

Wenn Kant sagt, daß Kategorien jeder Erfahrung zugrunde liegen, dann meint er damit anscheinend eine transzendentale Verknüpfung jenes Materials, das uns durch die Sinnlichkeit gegeben ist. D.h. nicht nur Raum und Zeit sind als apriorische Formen unserer Anschauung gegeben, vielmehr gibt es auch eine allgemeingültige und notwendige apriorische Struktur menschlichen Denkens. D.h. wir können zwar etwas wahrnehmen, ohne es auf die systematische Einheit des Denkens zu beziehen. Wir können es aber nicht erkennen. Denn ‘etwas erkennen’ heißt, es auf die systematische Einheit unseres gesamten Erkenntnisstandes zu beziehen, - und das ist in der Überzeugung Kants nur unter dem Gefüge der Kategorien möglich: Innerhalb des ‘Stoffs’ der Erfahrung müssen formende, einheitsstiftende Funktionen am Werk sein.

Die Grundfrage, wie analytischer Verstandesgebrauch (im Zusammenhang mit den Bedeutungsregeln der Sprache) und reine Verstandesbegriffe miteinander zusammenhängen, wird recht unterschiedlich beantwortet und ist Gegenstand einer breiten philosophischen Diskussion. Wir können die Tiefe der Auseinandersetzung nicht ausloten. Günther Patzig hebt hervor, daß es falsch sei, davon auszugehen, die Urteilstafel regele den analytischen Verstandesgebrauch und die Tafel der reinen Verstandesbegriffe den synthetischen Verstandesgebrauch. Beide Seiten sind in seiner Beurteilung eng aufeinander bezogen. Jene Einheit, so Patzig, die in einem Begriff analytische Einheit (.d.h. auf der Ebene der Sprache) ist, ist im Hinblick auf mögliche Anschauungen oder Vorstellungskomplexe synthetische Einheit des Mannigfaltigen. D.h. solange das anschaulich Gegebene von den Menschen als ein unbestimmter Gegenstand aufgefaßt wird, also noch nicht auf den Begriff gebracht ist, ist die Zusammenführung oder Kombination der den Menschen eigenen Vorstellungen eine bloß synthetische Einheit. Erst dann, wenn dieser Vorstellungskomplex durch begriffliche Deutung, d.h. unter Leitung eines Begriffs, zu einem bestimmten Gegenstand gemacht wird, verwandeln sich die genannten Eigenschaften in die Merkmale des leitenden Begriffs (analytische Einheit). Der Gegenstandsbegriff kann also von allen anderen die Erfahrung regulierenden Prinzipien nicht abgetrennt werden; er ist überhaupt nur dann möglich, wenn die Vorstellung der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen bereits gegeben ist: "Einen Gegenstand auf einen Begriff bringen, das heißt, schon ihn in den gesamten Kontext der Erfahrung einordnen, innerhalb derer (Hervorhebung von mir, S.F.) der Gegenstand durch seine begriffliche Fixierung seine Stelle angewiesen bekommt."

Mit der Darstellung dieses Zusammenhangs wollen wir uns nicht in Detailfragen verlieren, uns kommt es nur darauf an zu zeigen, daß die Tafel der analytischen Urteile und die Tafel der reinen Verstandesbegriffe in einem analogen Verhältnis zueinander stehen und darin die Allgemeingültigkeit und Objektivität der Erkenntnis garantieren. D.h. die verschiedenen Möglichkeiten, mit denen wir auf der Ebene des analytischen Verstandesgebrauchs Begriffe in ein Verhältnis zueinander bringen, und darin zu einem Urteil gelangen, korrespondieren mit ebenso vielen Möglichkeiten, Vorstellungen im ganzen des Erfahrungsfeldes miteinander zu verknüpfen.

Im Anschluß an unsere Ausgangsfrage halten wir fest: Immanuel Kant hat die Gegenstandstheorie und Erkenntnistheorie zusammengeführt. Die synthetische Einheit des transzendentalen Bewußtseins umgreift die Objekt- und Subjektsphäre: Der Gegenstand bestimmt insofern die Vorstellung, als die Erscheinungen das Material unserer Wirklichkeitserkenntnis liefern und damit den Empfindungsanteil bestimmen. Die Vorstellung bestimmt insofern den Gegenstand, da Raum und Zeit als subjektive Anschauungsformen sowie die Kategorien als reine Begriffe von einem Gegenstand Voraussetzung dafür sind, daß wir überhaupt etwas als Gegenstand erkennen können. Die Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung werden zugleich zu Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände. Das "als Gegenstand erkennen", so Günther Patzig, "ist bei Kant ein zeugendes Erkennen, weil das Erkannte durch das Erkennen überhaupt erst hervorgebracht wird. So wie ein Schmerz erst dadurch Schmerz wird, daß er gefühlt wird, so wird ein Gegenstand erst dadurch ein Gegenstand, daß er als solcher erkannt wird."

Wenn die traditionelle Bestimmung der Wahrheit gewöhnlich durch die Übereinstimmung von Denken und Gegenstand charakterisiert ist, dann ist der Gegenstand bei Kant also kein subjektunabhängiges ‘An sich’, sondern wird durch die Subjektivität mitkonstituiert. Wenn es Kant also gelingt, im Rahmen seiner Transzendentalphilosophie ein Wahrheitskriterium aufzustellen, dann ist damit kein Kriterium für die Wahrheit von Aussagen gesetzt, etwa in dem Sinne, daß ein Satz von jedem Menschen als wahr anerkannt würde oder wir eine innere Notwendigkeit empfänden, in einer spezifischen Weise zu urteilen bzw. urteilen zu müssen. Vielmehr sucht Kant auf ‘einer höheren Ebene’ nach der Möglichkeit der Wahrheit generell. Er entwickelt eine Logik der Wahrheit, indem er aufzeigt, wie Wahrheit als allgemeine Verbindlichkeit frei von Widersprüchen und Aporien als möglich gedacht werden kann.

Wenn wir nun im folgenden den systhemtheoretischen Begriff der Wahrheit näher untersuchen, befinden wir uns im Zentrum der Luhmannschen Theorie. Alle Begriffe, die uns bisher begegnet sind, tauchen hier zusammen wieder auf: Operationen, System, Kommunikation, Beobachtung 2. Ordnung, Medium, Form, Code, um nur einige zu nennen. Da die Erläuterung des Wahrheitsbegriffs von jedem dieser einzelnen Begriffe her aufgenommen werden kann, besteht für uns das Problem der begründeten Auswahl unseres Ausgangsbegriffs. Wir entscheiden uns für den Begriff der Kommunikation und beginnen mit einem entsprechenden Zitat, um damit die Erläuterung des formalen und symbolischen Charakters des Wahrheitsbegriffs vorzubereiten. "Wahrheit," so Luhmann in seinem Werk ‘Die Wissenschaft der Gesellschaft’, "ist eine in der Kommunikation für Zwecke der Kommunikation entwickelte Bezeichnung" (Hervorhebungen von mir, S.F.). Was ist damit gemeint? Wahrheit, so müssen wir zunächst festhalten, läßt sich nicht beobachten, d.h. der Begriff verweist nicht auf in sich wahre Gegenstände oder Einzelsätze. Wenn wir statt dessen sagen, daß sich Wahrheit nur durch die Beobachtung von Formen erschließen läßt, dann sehen wir uns auf den Begriff des Mediums verwiesen, den wir oben bereits kennengelernt haben. Auf der Ebene der Kommunikation, so hatten wir gesehen, bringt selbstreferentielles Prozessieren von Sinn eine sozusagen demonstrativ angelegte Generalisierung hervor. Im systemtheoretischen Verständnis ist Wahrheit ebenso wie die Macht oder das Recht ein solch generalisiertes Medium, mit dessen Hilfe die Kommunikation über sich selbst (bzw. über ihre Umwelt) in spezifischer Weise abgesichert wird. D.h. es verdichtet sich, einfach gesagt, eine spezifische kommunikative Formung unter der Thematik ‘Wahrheit’. In reflexiver, d.h. auf sich selbst zurückbezogener Kommunikation wird unter dieser Thematik eine strengere Kopplung von Sinnmomenten ausprobiert, es werden Bindungen erzeugt und schließlich auch wieder freigegeben, so daß das Medium in Differenz zur Form wiederhergestellt wird und damit die Bildung neuer Formen eröffnet. In Anküpfung an unsere Eingangsaussage dieses Abschnitts ‘Wahrheit an sich’ sei nicht beobachtbar, halten wir also als unser erstes Fazit mit Luhmann fest: "Das Medium Wahrheit existiert in Festlegungen, aber nicht durch sie" (z.B. als religiös offenbarte Wahrheit o.ä.).

Da bisher etwas unbeholfen von der ‘Thematik der Wahrheit’ gesprochen wurde, ist es nun an der Zeit, die Frage der Codierung aufzunehmen. Das Medium Wahrheit ist ein codiertes Medium. D.h. die Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung ‘wahrheitsspezifischer’ Kommunikation wird durch eine Differenzmarkierung bzw. die Unterscheidung wahr/ unwahr gesteuert und strukturiert. Dadurch, daß sich Operationen an dieser Unterscheidung orientieren, sich dadurch sozusagen selbst zum "Prozessieren von Selbstreferenz" (Luhmann) zwingen, wird mit jeder Operation, die unter dieser Leitdifferenz stattfindet, auch immer die Operation von Annehmen und Ablehnen reproduziert und damit ein spezifisches Funktionssystem begründet: das Wissenschaftssystem.

Nun ist bei der Funktionsweise des Codes Vorsicht geboten! Von der alltäglichen Sicht her könnte man annehmen, alleine die positive Seite des Codes sei ausschlaggebend, die andere nicht. Zum tieferen Verständnis dieses Zusammenhangs müssen wir an die ‘wertneutrale’ Verfasstheit beider Pole erinnern, die wir oben bereits kurz erwähnt hatten. Der binäre Code Wahrheit funktioniert, wie Luhmann sagt, als Einheit einer Differenz; aber "er lenkt den Blick nicht auf die Einheit dieser Differenz zurück, sondern läßt ihn zwischen beiden Seiten oszillieren. Jeder Wert vertritt, insofern, als er selbst und nicht der Gegenwert ist, mit Hilfe dieser eingebauten Negation das Ganze." Luhmann will damit sagen, daß der positive Wert zunächst einmal die Anschlußfähigkeit der Operationen des Wissenschaftssystems repräsentiert. D.h. hier wird erkennbar, daß sich die bereits etablierte ‘wahrheitsspezifische’ Kommunikation mit einer bestimmten Aussage verbinden kann und damit sozusagen markiert, was ‘der Fall ist’ . Hier kann man praktisch die Weiterführung der Kommunikation auf der Suche nach neuen Anschlüssen beobachten, denn alles, was die Wissenschaft als neue ‘Errungenschaft’ hervorbringt, landet letztlich auf dieser Ebene der Anschlußfähigkeit. Luhmann weist darauf hin, daß das wissenschaftlich entdeckte Neue ja nicht um seiner selbst produziert wird, sondern um es in Erwartbares zu transformieren; "mit dem Symbol Wahrheit wird kommuniziert, daß dies gelungen ist. Man präsentiert Überraschungen mit dem Zusatzsymbol ‘für alle gültig!’" Wenn wir also feststellen, daß der generierte Erkenntniserwerb immer den Weg der Wahrheit nimmt, dann müssen wir auch sehen, daß Wahrheit zugleich immer als "diabolisch generalisiertes Medium" fungiert, indem es wachsende Bestände an Unwahrheiten hinterläßt. Da diese Formulierung zwangsläufig Mißverständnisse hinsichtlich der Wertigkeit der Unwahrheit hervorbringt, wenden wir uns dem negativen Wert des Codes zu. Auch wenn dieser zweite Wert ‘nur’ als Reflexionswert dient, ist er für die Einheit des Codes dennoch ebenso konstitutiv wie der erste Wert. Der zweite Wert bringt, wie Luhmann sagt, "an der Unwahrheit die Einheit der Differenz von wahr und unwahr, also die Paradoxie des Codes zur Reflexion und leitet [dadurch] die Operationen ins Anschlußfähige zurück." D.h. auch wenn der negative Wert den Punkt markiert, an dem Erwartungen enttäuscht werden (wie z.B. in einem gescheiterten Experiment), zwingt der zweite Wert die wissenschaftliche Kommunikation gleichsam ‘wie von selbst’ zur Reflexion der Bedingungen, die möglicherweise zu einem Fehler geführt haben und dieselbe Reflexion wiederum ermöglicht die autopoietische Reproduktion des Wissenschaftssystems. Ist von Wahrheit die Rede, so Luhmann, "braucht man nur zu fragen, unter welchen Bedingungen die betreffende Aussage unwahr sein würde – und schon findet die Kommunikation im Wissenschaftssystem statt."

In seinem frühen Werk ‘Soziale Systeme’ weist Luhmann ausdrücklich darauf hin, daß im Falle der Wahrheit jede Kommunikation auf Kritik, Ablehnung und Konflikt angewiesen ist, da sich die Wissenschaftler andernfalls nur noch zur Verherrlichung des bereits Erkannten zusammenfinden könnten. Wir müssen also sehen, daß salopp gesagt, beide Seiten des Codes zu ihrem vollen Recht kommen. Das Wahrheitsmedium wird also in Anspruch genommen, um neues Wissen auf der Ebene kommunikativer Formung durchzusetzen oder es wird in der Hinsicht relevant, wenn man von vorgefundenem Wissen abweichen will oder es kritisieren will. D.h., die Wissenschaft kommuniziert nicht nur das, was wahr ist, sondern auch das, was unwahr ist (im entweder/ oder). Indem die Kommunikation in dieser Weise ‘hin- und herschalten’ kann, ist es ihr möglich, sich aus jeder Lage heraus auf das Ganze eines spezifischen Themas zu beziehen und die in diesem Punkt spezifische Geschichte des Wissenschaftssystems aufzugreifen und weiterzuführen.

An dieser Stelle ist es hilfreich, von der Betrachtung des Codes auf die konkrete Wirkungsweise des Kommunikationsmediums im Rahmen des Systembildungsprozesses zurückzuschalten. Wissenschaftliche Kommunikation orientiert sich also nicht, wie wir oben unbeholfen gesagt haben, an der ‘Thematik der Wahrheit’, sondern sortiert das Wissen von Beobachtern als wahr oder unwahr. Der Code als alleiniges Kriterium reicht allerdings nicht aus, denn es muß ja auch inhaltlich etwas als wahr oder unwahr spezifiziert werden können. Wie wir oben angedeutet haben, werden durch die Codierung im Medium Wahrheit Formen gekoppelt und entkoppelt, sozusagen als Voraussetzung dafür, daß Wahrheit überhaupt beobachtbar ist. Die Formung ist abhängig von den Programmen des Mediums, die sich konkret in der spezifischen Ausrichtung verschiedener wissenschaftlicher Theorien und Methoden darstellen. Mit ihnen ist es möglich, auf einer qualitativen Ebene wissenschaftlicher Kommunikation Vergleiche verschiedener Problemlösungsstragien vorzunehmen. Unterstellen wir jetzt die Reproduktionsweise des Wissenschaftssystems entlang eines spezifischen Programms X, dann hat das Medium Wahrheit die Funktion, die Selektion der Kommunikation so zu gestalten, daß die Motivation gestärkt wird, eben diese programmgebundene Kommunikation auch fortzusetzen. Allerdings müssen wir in diesem Zusammenhang sehen, daß unser Medium Wahrheit selbst die Annahme von Kommunikationen mit hohem Zumutungsgehalt noch sicherstellen kann, nämlich dadurch, daß, wie Luhmann sagt, "Annahmemotive konditioniert und über diese Konditionieren erwartbar gemacht werden." Damit ist gemeint, daß das Medium Wahrheit prinzipiell und grundsätzlich für alle Aussagen zur Verfügung steht. D.h. in jeder Situation, das haben wir bereits in anderen Zusammenhängen gesehen, ergibt sich die Chance zur Formulierung völlig neuer Selektionskriterien.

An dieser Stelle tritt der formale Charakter des systemtheoretischen Wahrheitsverständnisses hervor. Wahrheit ist nicht, wie wir bereits oben sagten, als in sich ruhende ‘Qualität’ beobachtbar, sondern ist immer, wie Luhmann hervorhebt, "als Moment von Operationen gegeben." D.h. mit jeder codespezifischen Operation wird immer wieder aufs Neue auch die Option von Annehmen und Ablehnen reproduziert, so daß durch das Medium Wahrheit im laufenden autopoietischen Prozeß eine spezifische Selbstprägung und Selbststrukturierung des Wissenschaftssystems markiert wird. "An Stelle der Frage, was Sätze bezeichnen, tritt die Frage, durch welche Formen sich etwas als Medium der Realisierung von Form konstituieren läßt." In jeder Situation, das werden wir noch in anderen Zusammenhängen sehen (Reflexion), ergibt sich die Chance zur Realisierung neuer Selektionen, sie variieren dynamisch und werden durch Umweltimpulse lebendig gehalten, so daß bei Auflösung fester Vorgaben Neukombinationen von Elementen auftreten. Gerade die Tatsache, daß Wahrheit im Forschungsbetrieb nicht bezeichnet wird, so Luhmann, belegt die Funktion als symbolisch generalisiertes Medium. D.h. hier geht es nicht um eine inhaltliche Festlegung der Kommunikation bzw. um die Festschreibung privilegierter Wahrheitspositionen, sondern um die Wirksamkeit eines ‘formalen Kriteriums’, mit dem sich die Kommunikation sozusagen selbst einverstanden erklärt hat. Dieses ‘Einverständnis’ zeigt sich daran, daß das zirkulierende Medium eine Referenz auf besondere Erfolgsbedingungen der Kommunikation ist. Vor dem Hintergrund dessen, was wir oben zum Code ausgeführt haben, ist hierbei sowohl die Behauptung von Wahrheit als auch die Behauptung von Unwahrheit in gleicher Weise ausschlaggebend. Einst wahre Aussagen können nach einem spezifischen Zeitraum als unwahr deklariert werden. Da diese Prüfung strukturell nie abgeschlossen werden kann, weist Luhmann auf den stets hypothetischen Sinn des Wahrheitssymbols hin. Die hypothetische Geltung aller Wahrheiten zeigt sich in dem prinzipiell offenen Vorgang des Auswechselns von Wahrheiten und Theorien im Gang der Forschung. In der wissenschaftlichen Kommunikation wird also eine Welt entworfen, die stets andere Kombinationen zuläßt, hier wird eine prinzipiell unabschließbare Bewegung konditioniert, ohne dabei zwangsläufig eine bestimmte Richtung festzulegen. Der einzige Steuerungsfaktor, so kann man sagen, ist der Aspekt der operativen Bewährung, wobei jede Bewährung prinzipiell wieder in sich zusammenfallen kann. Wahrheit ist also in ihrem medialen Substrat eine, wie Luhmann sagt, unfestgelegte gesellschaftliche Kommunikation, sie ist Ausdruck der Autopoiesis eines nicht teleologischen Systems, das keinen Abschluß kennt. Wenn Wahrheit also ein beobachtbar funktionierendes, formales Symbol für die Anschlußfähigkeit wissenschaftlicher Kommunikation ist, dh. lediglich ein Symbol dafür ist , daß sich die Kommunikation mit einer bestimmten (wahren oder unwahren) Aussage verbinden kann, dann macht gerade, wie Giancarlo Corsi hervorhebt, "diese Verbindungsmöglichkeit jene Aussage kontingent."

Als mediales Substrat, so Luhmann, "bleibt die Welt der Wissenschaft lose gekoppelt, sofern das Substrat die Kontingenz aller Bindungen anzeigt. Das Substrat wird verbraucht, indem die Theorien es vorläufig festlegen und zugleich wieder freigeben, indem alle Theorieformen nur als hypothetisch geltend vorgestellt werden." In welcher Geschwindigkeit dies geschieht, d.h. in welchem Tempo Konstellationen verworfen und neugeschaffen werden, bestimmt das System selbst. Hier zeigt sich strukturell dieselbe Autonomie wie in der Festlegung der Richtungen, in denen sich das System fortentwickeln will, d.h. mit welchen Selektionen, entlang welcher Programme und Strukturen die Autopoiesis gesichert werden soll. Für uns ist jetzt bedeutsam, daß hier eine bis an die Grenze des Beliebens gehende thematische Offenheit erkennbar wird. Mit dem Medium Wahrheit, so Luhmann, ist "ein Moment der Willkür festgehalten." Wahrheit "dient dem Blindflug der Gesellschaft. Sie gibt keinen Segen mit auf den Weg, ja sie läßt es eher unwahrscheinlich erscheinen, daß es gut geht."

Die ‘Bodenlosigkeit’ des Wahrheitsbegriffs zeigt sich noch in einem anderen Zusammenhang, den wir noch kurz betrachten wollen: Wenn die wissenschaftsspezifische Unterscheidung wahr/ unwahr operativ funktioniert, dann bedeutet das nicht, daß sie auf die Welt projiziert werden kann. Was immer in der wissenschaftlichen Kommunikation als Welt entsteht, d.h. sich als rigide Kopplung gegenüber dem medialen Substrat durchsetzt, ist niemals eine Referenz auf Weltsachverhalte bzw. fixiert damit nicht die Welt, über die kommuniziert wird.

Dieser Sachverhalt ist uns bereits in den vorangegangenen Kapiteln mehrfach begegnet und braucht hier nicht in seiner ganzen Tiefe ausgeleuchtet zu werden. Wahrheit ist eine im autopoietischen Prozeß wissenschaftlicher Kommunikation intern hergestelltes Konstrukt, das gleichsam eine systemeigene ‘Ordnungsleistung’ erbringt. "Die Welt," so Luhmann, "ist für die Wissenschaft ein Code-Korrelat und im weiteren dann ein Theorie-Korrelat. Nie stellt sich der Wissenschaft die Frage, ob es die Welt gibt oder nicht." D.h. wissenschaftliche Kommunikation ist niemals in der Lage, dasjenige zu repräsentieren, was in der realen Welt alles auf einmal wahrnehmbar ist. Wenn Wissenschaft nicht dazu befähigt ist, "Kompakteindrücke zu simultaneisieren" so ist sie allerdings doch dazu in der Lage, in gleichsam auseinandergezogener Sequenzierung eine immense Komplexität von Realitätsäquivalenten mit jeweils begrenzter Reichweite herzustellen, sie erreicht eine Temporalisierung von Komplexität "im Nacheinander des Verschiedenen." Durch das Auswechseln von Theorien und Wahrheiten im Gang der Forschung wird die Eigenzeit des Wissenschaftssystems eigenwillig fortgeschrieben, wobei die Geltungsdauer von Wahrheiten niemals in irgendeiner Weise synchron geschaltet ist zu den Abläufen in der Umwelt der Wissenschaft. Auch hier zeigt sich also die ‘bodenlose’ Struktur der Wahrheit; man hat den Eindruck, der Wissenschaft ist es selbst egal, welche Wahrheit sie produziert, einen ‘Halt’ in der realen Welt hat die so konstruierte Wahrheit erst recht nicht. Dadurch, daß sie reine systeminterne Konstruktion ist und bleibt, stellt sie sich im autopoietischen Prozeß der Wissenschaft immer wieder selbst zur Disposition.

IV Strukturelle Kopplung als ‘Schlüsselbegriff’ der Erklärung der Parallelität von Kognition und Sozialität

Der Begriff der strukturellen Kopplung markiert in der Systemtheorie Luhmanns einen ‘Mechanismus’, der weder in den internen Operationen des Bewußtseins, noch in denen der Kommunikation je für sich vorkommt. Strukturelle Kopplung liegt sozusagen zwischen den jeweils internen Operationen dieser Systeme und hat darin eine eigene, je spezifische und autonome Realitätsbasis für sich.

Der Begriff der Kopplung wird von uns als systemtheoretisches Instrumentarium bzw. als Erklärungsmodell zur Begründung der Parallelität von Kognition und Sozialität eingebracht. Da die bisherigen Ausführungen zum Schlüsselbegriff der Interpenetration bzw. strukturellen Kopplung recht vage geblieben sind, wollen wir nun eine tiefere Ausleuchtung dieses Begriffs vornehmen. Im vorangegangenen Kapitel war von der spezifischen Operationsweise des Bewußtseins hinreichend die Rede. Jetzt wollen wir zuerst den systemtheoretischen Begriff der Kommunikation etwas klarer herausstellen, um hierauf aufbauend den Mechanismus der Kopplung unter dem Aspekt des Luhmannschen "Sinn"-Begriffs sowie des systemtheoretischen Sprachverständnisses betrachten zu können. In einem dritten und vierten Schritt wollen wir versuchen, einen ‘Transfer’ zu leisten, d.h. den von uns eingebrachten ‘Schlüsselbegriff’ der Kopplung auf die uns interessierende Frage der Parallelität von Kognition und Sozialität (sowie umgekehrt: von Sozialität und Kognition) konkret zu ‘übertragen’. In unseren bisherigen Ausführungen ist an mehreren Stellen bereits angeklungen, daß der Begriff der Kommunikation jede Bezugnahme auf das Bewußtsein vermeidet. Wir sprachen auch davon, daß es keinen direkten Zugriff physikalischer, chemischer oder biologischer Vorgänge auf die Kommunikation gibt. Das Bewußtsein also ist weder das Subjekt noch in irgendeinem Sinne Träger, weder, wie Luhmann sagt, "Ursache, noch Substanz der Kommunikation." Nicht umsonst haben wir oben die Wahrnehmung als Ereignis des psychischen Systems in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt. Auf das Kommunikationssystem bezogen wird deutlich, daß Kommunikation wahrnehmungsunspezifisch operieren muß. Sie kann nur aus Kommunikation weitere Kommunikation generieren, sie ist also an ihre je spezifische Operationsweise gebunden und z.B. bei Wahrnehmungsberichten (die keine Wahrnehmung sind) gleichsam gezwungen, "blind" zu operieren. Kommunikation, so Peter Fuchs, "nimmt nicht wahr, empfindet nichts, verzeiht nichts, denkt nichts." Wenn Luhmann sagt, das Soziale realisiere hier selbst eine emergente Einheit außerhalb der Bewußtseine, dann meint er damit, daß hier die Eigengesetzlichkeit autonomer kommunikativer Formung nach Maßgabe ausschließlich sozialer Operationen entsteht, mit der sich die Kommunikation ihr eigenes Verstehen (oder Mißverstehen) erarbeitet, und zwar unabhängig davon, was einzelne Bewußtseine davon halten mögen.

Werfen wir einen Blick auf die Grundstruktur der Kommunikation. Für Luhmann handelt es sich hierbei um ein "Prozessieren von Selektion." D.h. er trifft die Unterscheidung von Information, Mitteilung und Verstehen und geht davon aus, daß hierbei je für sich unterschiedliche Selektionen zum Tragen kommen. Vorweg gesagt sind damit keine ‘Bausteine’ der Kommunikation gemeint, die unabhängig voneinander existieren könnten und lediglich nur irgendwie ‘addiert’ werden müßten. Obwohl Information, Mitteilung und Verstehen in der Beobachtung der Kommunikation voneinander unterschieden werden können, müssen diese drei ‘Komponenten’ sozusagen in einem Akt als Ereignis der Einheit zusammenkommen, d.h. "synthetisiert" werden, wenn es Kommunikation geben soll. Betrachten wir dies genauer: Zunächst wird mit Hilfe einer ersten Unterscheidung eine Information als Information konstituiert, also, wie Helga Gripp-Hagelstange anschaulich sagt, "aus der Gesamtheit des latent verfügbaren Sinns gleichsam ein Teil herausgeschnitten und aktualisiert." Die Information selegiert also aus unterschiedlichen Sachverhalten; sie wird sozusagen als eine autonome Selektion für sich produziert. Der zweite Selektionsschritt bezieht sich auf die Auswahl dessen, was mitgeteilt wird und was nicht. D.h. die Mitteilung selegiert aus unterschiedlichen Verhaltensmöglichkeiten. Wenn wir sagen, daß die Mitteilung als Zeichen für eine Information genommen wird, dann müssen wir sofort hinzufügen, daß es sich bei Information und Mitteilung dennoch um autonome Selektionen je für sich handelt. Hier ist das Beispiel von Claudio Baraldi hilfreich: "Wenn z.B. alter sagt ‘es regnet’, dann kann man den Regenschirm mitnehmen, weil es regnet und nicht, weil Alter die Verantwortung trägt, es gesagt zu haben."

Der dritte Selektionsschritt bezieht sich auf das Verstehen. Um diesen Begriff zu erklären, wollen wir nun alle drei Komponenten zusammenziehen und verfügen damit dann über den Begriff der Kommunikation: Ego, der Adressat des Informanten alter, trifft eine Unterscheidung von Information und Mitteilung. Dies erfolgt natürlich nicht irgendwie abstrakt oder theoretisch, sondern konkret dadurch, daß die von ego verwendete Unterscheidung in sich noch einmal im Hinblick auf die zu bezeichnende Seite unterschieden wird; denn alter benutzt ja eine Mitteilung als Zeichen für eine bestimmte Information. Erst über dieses Bezeichnen entsteht dann ein im eigentlichen Sinne identifizierbares und brauchbares Moment, aus dem heraus ein Selektionsdruck geboren wird. D.h. irgendwie muß es jetzt weitergehen und ego muß dieser Situation in irgendeiner Form entsprechen. Wie er das macht, ist völlig egal. Er muß allerdings reagieren, damit an das kommunikative Beobachten angeschlossen werden kann. Erst wenn eine Interpretation stattgefunden hat, erst wenn ego reagiert, so Helga Gripp-Hagelstange, "wird sichtbar, was von der Information aufgenommen worden ist und von welchem Punkt es weitergehen wird." Die Vernetzung der Operationen wird in der Kommunikation also ‘von hinten’ her aufgerollt, d.h. von der Beschaffenheit der Reaktion egos her läßt sich zurückverfolgen, daß zwischen drei Selektionen etwas Koordiniertes stattgefunden hat. Wenn Information, Mitteilung und Verstehen in dieser Weise zusammenfallen, spricht Luhmann von Kommunikation. In diesem Zusammenhang erinnern wir an das, was wir bereits oben ausgeführt haben. Wenn Mitteilung und Verstehen auf Personen zugerechnet werden, dann zeigt sich hier lediglich eine (anthropologisch begründete) ‘Stützkonstruktion’, die verdeckt, daß sich die Kommunikation ihr eigenes Verstehen erarbeitet, d.h. sie bedient sich der Bewußtseine, um sich in eigenwilliger Weise fortsetzen zu können.

Unsere Betrachtungen haben gezeigt, daß wir auf der Ebene der Kommunikation auf dieselbe Grundstruktur des Beobachtens stoßen wie bei den Bewußtseinssystemen, wenngleich die je spezifischen Operationen dieser Systeme nie zusammenkommen können. Sowohl die Zeichenhaftigkeit der Mitteilung als auch die Information selbst sind rein systeminterne Konstrukte der Kommunikation. "Sie werden", wie Luhmann sagt, "in der Kommunikation aufgebaut und abgebaut, aktualisiert, eventuell aufgezeichnet, eventuell neu thematisiert", d.h. sie verweisen nicht auf etwas substantiell Gegebenes, sondern verdanken sich je ereignishaft auftretend kommunikativer Produktion.

Unter Einbeziehung des systemtheoretisch gefaßten Sinn-Begriffs wollen wir jetzt noch anschaulicher belegen, daß das Kommunikationssystem als soziales System das Korrelat der Geschlossenheit psychischer Systeme ist. Während das psychische System, wie oben bereits dargelegt, "Sinn" in Form von Vorstellungen und Gedanken verarbeitet, prozessieren soziale Systeme "Sinn" in Form sprachlich-symbolisch vermittelter Kommunikation. Kommunikation, so Peter Fuchs in seinem Band "Die Umschrift", "ist sozusagen das ‘Gerät’, mit dem bestimmter Sinn zubereitet wird, sich offerieren läßt, aber dieses Offerieren hat nicht die Form von Beliebigkeit. Es hängt ab von dem gewählten Operationstyp, von der ‘Schere’, die den Sinn schneidet."

Peter Fuchs spricht damit die gesellschaftlichen Funktionssysteme an, die, wie wir bereits gesehen haben, harte Sinngrenzen gegeneinander aufrichten. Für uns ist an dieser Stelle lediglich von Bedeutung, daß die Kommunikation gerade nicht psychischen Sinn realisiert oder widerspiegelt. Vielmehr wird gerade durch den eigengesetzlich verfaßten Vollzug sozialer Operationsweisen (und damit sprachlich-symbolisch vermittelter Kommunikation) psychischer Sinn unentwegt gebrochen.

Und umgekehrt bilden sich die kommunikativ hergestellten Sinngrenzen nicht etwa in der Autopoiesis der Bewußtseine ab. Sinn ist für Luhmann also in diesem Sinne eine universale Kategorie, die im Hinblick auf die je verschiedenen Operationsweisen der Systeme den aktuell verfügbaren Verweisungsüberschuß bezeichnet, der stets zur Selektion, zur Auswahl zwingt.

1. Strukturelle Kopplung von Bewußtseinssystemen mit dem Kommunikationssystem Gesellschaft

Wie bisher dargelegt, sind mit der geschlossenen Autopoiesis der Bewußtseine und der Kommunikation zunächst einmal jeweils nur parallel laufende Verhältnisse gegeben. Sie müssen, wie Luhmann ausführt, in "digitale Verhältnisse" umgewandelt, d.h. synchron gesetzt werden, ohne eine Verschmelzung zu bewirken. Sofern das gelingt, kann trotz wechselseitiger Intransparenz der Systeme das eine System auf das andere Einfluß gewinnen. Dies geschieht durch die faktisch vollzogene Irritation eines Systems. Wir können uns diesen Zusammenhang so vorstellen, daß durch die Operationsweise eines Systems Sinnstrukturen entstehen, die geordnet sind und auch Erwartungshorizonte ausbilden. Sofern diese Erwartungen durch das Aufkommen anderer Ereignisse plötzlich enttäuscht werden und diese Störquellen von unserem Bezugssystem zugleich identifiziert und als irgendwie relevant eingestuft werden, entsteht die Irritation unseres Systems als interner Vorgang, als Selbstirritation. Irritation ergibt sich also aus einem internen Vergleich von irgendwelchen Ereignissen mit den eigenetablierten Möglichkeiten und Strukturen unseres Bezugssystems. Der Begriff, so Luhmann, "setzt eine Differenz voraus, die es nur in einem System geben kann, nämlich die Differenz von normaler, strukturell vorgegebener Operationsfolge und einem Zustand, dessen Konsequenzen unklar, dessen Überleitung in Anschlußoperationen unentschieden ist." Wir halten also fest: Durch Irritation werden einem System handfeste Möglichkeiten für die Auflösung von Unbestimmtheit an die Hand gegeben. Das, was der Umwelt an Ereignissen aktuell abgerungen wird, wird, wie Peter Fuchs sagt, vom maßgeblichen System "ins eigene Vokabular übersetzt", anders, in Anlehnung an Helga Gripp-Hagelstange ausgedrückt: ein System hat einen Außenreiz nicht nur als Differenzerfahrung wahrgenommen, sondern sich zugleich dazu entschlossen, diesen externen Anstoß in sich selbst mit eigenen Operationen zur Wirkung zu bringen. Beide Systeme (die im Moment miteinander zu tun haben) benutzen einander zu einer gegenseitigen Auslösung von Strukturveränderungen, die sie wiederum nur durch interne Operationen vollziehen. Ist das der Fall, sind Systeme strukturell aneinandergekoppelt. Wenngleich die Systeme getrennt operieren und damit in einem Verhältnis wechselseitiger Unkontrollierbarkeit stehen, so begründen sie in der Kopplung ein Wirkungsverhältnis der Gleichzeitigkeit. Wir müssen sofort ergänzen, daß damit keine "Dauersynchronisation" gemeint ist. Zunächst einmal geht es immer um eine grundsätzlich variable Kopplung, die in einem situativen Augenblick vorliegt und wieder zerfällt. In der Kopplung, so Luhmann, "wird die Freiheit der getrennt existierenden Systeme zur Eigenbewegung mit dem Ablauf jedes Einzelereignisses immer wieder erneuert." Oben wurde bereits deutlich (vgl. S. 208), daß es, gesamtgesellschaftlich betrachtet, eine enorm angewachsene, unübersehbare Fülle struktureller Kopplungen gibt. Obwohl sie in dieser Fülle gleichsam ‘geräuschlos’ und unbemerkt funktionieren, so erfassen sie dennoch je für sich immer nur einen extrem beschränkten Ausschnitt der entsprechenden Umwelt. Strukturelle Kopplung ist also eine Form, die einschließt und ausschließt; "die in ihrem Kanal Möglichkeiten wechselseitiger Irritation steigert, aber dies nur unter der Bedingung tun kann, daß alle damit nicht erfaßten Einflüsse ausgeschlossen bzw. auf destruktive Wirkungen beschränkt bleiben." Auch wenn die Operationen des einen Systems immer zeitschnell in Relationen zu den Operationen des anderen verlaufen, also ein Verhältnis der Gleichzeitigkeit begründen, dürfte nun deutlich geworden sein, daß mit dem gleichzeitigen Ein- und Ausschlußmechanismus sowie der stets internen Operationsweise keine Verschmelzung von Systemen gemeint sein kann. Im Hinblick auf die hier anstehende Fragestellung der Parallelität von Denken und Gesellschaft bzw. von Gesellschaft und Denken ist es gerade wichtig herauszustellen, daß mit der strukturellen Kopplung eine eigene Realitätsbasis für sich entstanden ist, die von den gekoppelten autopoietischen Systemen unabhängig ist. Strukturelle Kopplungen, so Luhmann, setzen, "ein Materialitäts- (oder Energie) Kontinuum voraus, in das die Grenzen der Systeme sich nicht einzeichnen."

Wir können diesen Sachverhalt anschaulich am Begriff des Experten klären: Experten sind, wie die alltägliche Praxis bestätigt, weder als Wissenschaftler, noch als Politiker anzusehen. Luhmann bezeichnet sie als "Schnellstraße für wechselseitige Irritation, als Mechanismen struktureller Kopplung". Anders gesagt: Sie existieren als eigene Realitätsbasis ‘zwischen’ den Systemen und werden darin von beiden in Anspruch genommen. Weiter unten kommen wir auf diesen Punkt noch einmal ausdrücklich zurück, wollen an dieser Stelle nur festhalten, daß wir die Parallelität zwischen Denken und Gesellschaft bzw. Gesellschaft und Denken im Mechanismus der Kopplung begründet sehen: Der selbstreferentielle Prozeß der Herstellung von Gedanken aus Gedanken sowie die selbstreferentielle Operationslogik des Kommunikationssystems werden im Moment der Kopplung aus ihrer Verurteilung zur je internen Reproduktion des Immergleichen befreit. Bewußtseinssysteme und Kommunikationssysteme befinden sich mit der Kopplung in einem Verhältnis befruchtender Gleichzeitigkeit oder "struktureller Komplementarität", die darin besteht (wie oben dargelegt), daß im Bezugssystem "die Einheit und Komplexität des jeweils anderen eine Funktion erhält."

Wir wollen den Mechanismus der Kopplung zunächst noch deutlicher am Beispiel des Sprachbegriffs herausstellen, um dann auf dieser mehr konkretisierten Ebene aufbauend den Transfer auf die Frage der Parallelität von Denken und Gesellschaft bzw. Gesellschaft und Denken leisten zu können.

2. Strukturelle Kopplung im Medium Sprache

Sprache ist für Luhmann ein Medium, in dem durch entsprechende Formung die Generierung von Sinn stattfindet und zwar ein Medium für kommunikative und bewußtseinsinterne Operationen. Sprache ist auf jeder dieser Ebenen sozusagen ein ‘Submedium’ im Medium Sinn. Sie verfügt dabei über keine eigenen Operationen, d.h. sie ist kein selbstproduzierendes System. Auf der Ebene der unterschiedlichen Operationsformen sowie im Kontext je spezifischer Sinngrenzen läßt Sprache gleichsam ‘alles mit sich machen’, ohne daß sie sich durch eigene Instrumentarien oder Mechanismen dagegen wehren könnte; Sprache, so Peter Fuchs, "ist die Materialität, in der sich die Operation bricht." Die autopoietische Reproduktion von Bewußtseins- und Kommunikationssystemen wird durch die Sprache, näherhin durch ihre hohe Unterscheidungs- und Anschlußfähigkeit sichergestellt: Ob sie will oder nicht, erzwingt Sprache praktisch immer eine Unterscheidung, denn für alles, was gesagt wird, stellt sie eine positive und negative Fassung zur Verfügung, d.h. sie hat eine grundsätzliche Doppelung aller Zeichen. Wie wir oben gesehen haben, brauchen Kommunikations- wie Bewußtseinssysteme solche Codes, um die eigene Selbstreferenz zu symbolisieren und die Unterbrechung der für sie konstitutiven Zirkularität zu ermöglichen.

Der bisher nur sehr formal skizzierte Prozeß erfolgt konkret durch die bereits angesprochene Formung des Mediums Sprache. Hierunter haben wir uns einen mehrstufigen Prozeß vorzustellen: Dadurch, daß artikulierte Laute in eine sinnhafte Ordnung gebracht werden, entsteht aus der Rohform Sprache das Medium Sprache, das wiederum spezifischen Formungen unterliegt. Ohne diesen Zusammenhang bis ins Detail ausbreiten zu wollen, möchten wir in Anlehnung an Helga Gripp-Hagelstange den hier zugrundeliegenden Mechanismus in geraffter Form skizzieren: Sprache stellt auf das Bewußtsein bezogen eine Form dar, sofern akkustische Wahrnehmungen zu Worten geformt werden. Bezogen auf Kommunikation ist Sprache (zunächst einmal nur) ein Medium, das Satzbildung, also eine Formung zweiter Ordnung erlaubt; und zwar eine solche, die von der Kommunikation in eigenwilliger Selbständigkeit betrieben wird, bzw. genauer: die Kommunikation als Kommunikation erst konstituiert. Wenn Gripp-Hagelstange feststellt, die Kommunikation bediene sich eines in bezug auf das Bewußtsein bereits geformten Mediums, um es derart selbständig erneut zu formen, dann lautet dieser Zusammenhang in Luhmanns Worten: "Kommunikation ist so angelegt, daß sie das Bewußtsein fasziniert durch den Gebrauch der Formen erster Stufe und mitreißt durch den Gebrauch der Formen zweiter Stufe." "Mitreißen" soll hier heißen, daß Bewußtseine entlang der kommunikativ entstandenen Formung (und zwar nur hier) brisante Anhaltspunkte zur internen Neuorganisation ihrer operativen Konstellationen finden können,- wir kommen weiter unten auf diesen Sachverhalt zurück. In seinem jüngsten Werk "Die Gesellschaft der Gesellschaft" legt Luhmann dar, daß sich zwar einerseits rigidere sprachliche Formen im weicheren Medium der Sprache durchsetzen, daß andererseits aber auch die Form "Sprache" erneut wieder zum Medium werden kann, so daß sich immer immense Vielfalt der Bindungen eröffnet. D.h. auch wenn aktuelle Formen entstehen und wieder zerfallen bzw. Wertbestände gekoppelt und entkoppelt werden, wird das Medium Sprache niemals verbraucht. Es ist die besondere Eigenart der Sprache, daß sie der Kommunikation wie dem Bewußtsein Irritationen vermitteln kann, ohne, wie Luhmann sagt, "daran zu zerbrechen." Auf beiden Seiten dient die Sprache dem ständigen ‘Freimachen’ von Kapazität für neue autopoietische Reproduktion.

Nach diesen mehr formalen Betrachtungen wenden wir uns nun einem Zitat zu, das uns den Mechanismus der strukturellen Kopplung nahebringen kann: Sprache, so Luhmann, "wird von Bewußtsein und Kommunikation gemeinsam verwendet, ohne daß beide Systeme eine gemeinsame Sprache sprechen."

Da sich in der Erläuterung dieses Satzes sehr schnell Mißverständnisse einschleichen, werden im folgenden drei Einzelbetrachtungen vorgenommen.

Zunächst ist leicht nachvollziehbar, daß Sprache das Bewußtsein fasziniert und zwar deshalb, weil das in ihr Wahrnehmbare Imagination freisetzen kann. Wir sprachen bereits davon, daß psychische Systeme Sinn in Form von Gedanken und Vorstellungen verarbeiten und dieser selbstreferentielle Vorgang ist selbstverständlich sprachlich strukturiert. Es handelt sich hier um den nichtkommunikativen, rein internen Gebrauch der Sprachsymbole innerhalb des geschlossenen Bewußtseinssystems. Unter dieser Voraussetzung können wir festhalten, daß die Sprache das Denken steuert. Sprache ist zugleich, und dies zeigt der zweite Untersuchungsschritt, das tragende Medium, das im selbstreferientiellen Prozeß der Erzeugung von Kommunikation durch Kommunikation die Strukturbildung, den Komplexitätsaufbau des Systems ermöglicht und damit die Autopoiesis der Kommunikation garantiert. "Sprachliche Kommunikation", so Luhmann, "ist ein Prozessieren von Sinn im Medium der Lautlichkeit." Wie bereits erwähnt, besteht die Realität der Sprache nicht darin, daß sie als Zeichen für etwas anderes, wirklich Reales dient. Ihre eigene Realität besteht lediglich darin, daß "ihr Gebrauch beobachtet werden kann." D.h. wenn wir oben gesagt haben, daß durch Sprache die Selbstreferenz von Sinn generalisiert wird und dies mit Hilfe von Zeichen geschieht, dann müssen wir jetzt erklärend hinzufügen, daß, wie Luhmann sagt, diese Zeichen "selbst diese Generalisierungen sind."

Beide Aspekte, die Sprache auf der Ebene des Bewußtseins und die Sprache auf der Ebene der Kommunikation (die in der linearen Beschreibung zwangsläufig nur nachgesetzt werden können), hängen strukturell wie folgt miteinander zusammen: Aufgrund der operativ eigenständig-geschlossenen Autopoiesis beider hier vorgestellter Systeme gibt es entweder die Sprache des Bewußtseins- oder die Sprache des Kommunikationssystems. Eine gemeinsame, sozusagen ‘dritte’ Sprache als vermittelndes Medium oder "autopoietisches Supersystem" (Luhmann) mit einer eventuell denkbaren ‘Integrationsfunktion’ gibt es nicht. Wir müssen an unsere o.g. Aussage erinnern, daß die Sprache keine eigene Operationsweise hat. Sie muß entweder als Denken oder als Kommunikation vollzogen werden, in beiden Systemen wird Sprache auf jeweils interne Weise reproduziert. Sprache, so wollen wir mit Peter Fuchs festhalten, ist "der nichtsubjektive Unterscheidungslieferant für Kommunikation und Bewußtsein, der damit über mögliche Konstruktionen von Realität auf beiden Seiten entscheidet." Bei dieser zentralen Aussage müssen wir beachten, daß die Sprache des einen Systems für die Sprache des anderen Bedeutung hat (und umgekehrt). Denn trotz der bleibenden Differenz beider Systeme (und beider Sprachen) kann diese Differenz selbst in einem spezifischen Moment von beiden Seiten aus gesehen als dasselbe behandelt werden, so daß das eine dem jeweils anderen System nützen kann (und umgekehrt). In diesem Fall sind Bewußtseine und Kommunikation über die Sprache aneinandergekoppelt.

 

3. Die kommunikative Formung des Gedachten als sozialer Prozeß

Oben wurde gezeigt, daß Kommunikation nur aus Kommunikation geschlossen reproduziert wird, d.h., das Kommunikationssystem ist ‘auf sich selbst gestellt’, kann sich nur selbst dirigieren. An den Funktionssystemen konnten wir beobachten, mit welcher Autonomie sie sich gegen das ‘Rauschen’ ihrer jeweiligen Umwelt abschirmen. Oben wurde auch bereits dargelegt, daß die Kommunikation auf die eigenwilligen Wahrnehmungsleistungen psychischer Systeme angewiesen ist. Kommunikation ist durch Bewußtseine "affizierbar" (Luhmann), d.h. sie läßt Irritationen oder Störungen, die vom Bewußtsein ausgehen, zu, weil sie mit diesen Störungen eigensprachlich umgehen kann. Man kann sogar soweit gehen, zu sagen, daß das Bewußtsein gerade durch seine Fähigkeit zur selbsterzeugten Wahrnehmung gewissermaßen den Zugang der Außenwelt zur Kommunikation kontrolliert. Anders herum betrachtet, und diese Perspektive wollen wir jetzt einnehmen, haben wir uns das so vorzustellen, daß die Kommunikation den Bewußtseinen digitale Portionen abgewinnt, die dann aber in der Kommunikation (die diese Digitalisierung vornimmt), nicht, wie Peter Fuchs sagt, "an der Analogizität des Ausgangskontextes (d.h. der Bewußtseine, S. F.) kleben, sondern eigene und nur eigene Anschlüsse freisetzen, dem internen Spiel von Sinnverweisungen folgend." Luhmann erläutert diesen Sachverhalt mit dem Hinweis, die Kommunikation könne von der Selektivität der Bewußtseinssysteme profitieren, ohne durch sie spezifiziert zu sein, und gerade dies wirke wie ein Panzer, der verhindere, daß die Gesamtrealität der Welt auf die Kommunikation einwirke. Wir wollen an dieser Stelle zunächst einmal festhalten, daß die Irritation vom Kommunikationssystem selbst zustandekommt, d.h. kommmunikationsintern wird festgelegt, was wofür in welcher Konstellation ‘gebraucht’ werden kann.

Wenn wir nun feststellen, daß es die Bewußtseine sind, die den weiteren Verlauf der Kommunikation unterstützen oder blockieren können, dann müssen wir in unserem Argumentationsgang wieder etwas zurückspringen, um eventuelle Mißverständnisse dieses Satzes im Vorfeld auszuräumen: Der spezifische Operationsmodus psychischer Systeme, die Herstellung von Vorstellungen aus Vorstellungen, von Gedanken aus Gedanken, zeigt, das wurde oben hinreichend dargelegt, daß das Bewußtsein in jedem seiner Zustände durch stets interne Strukturen bestimmt ist. Alles Denken bleibt im Kopf verschlossen und zwar so sehr, daß selbst der nichtkommunikative, bewußtseinsinterne Gebrauch der Sprachsymbole, wie oben dargelegt, in merkwürdiger Distanz zum selbstreferentiellen Operieren des psychischen Systems verläuft. Diese Aussage hat weiterhin unverkürzte Geltung. In dem Moment, und diesen Aspekt wollen wir jetzt genauer betrachten, wenn etwas aus der geschlossenen Autopoiesis des Bewußtseins heraustritt (als Mitteilung einer Information), ist es nicht mehr es selbst. D.h. augenblicklich wird es Gesetzmäßigkeiten unterworfen, die mit der Operationsweise psychischer Systeme nichts zu tun haben. Das, was heraustritt, gelangt konstitutiv in die schneidenden Mühlen sozialer Systeme, d.h. in die ‘harte’ Eigengesetzlichkeit des Kommunikationsprozesses, ‘es gelangt konstitutiv unter das Diktat kommunikativer Formung’, d.h. findet sich wieder als sinnhaft umgeformtes ‘Teilchen’ in einem riesigen Netzwerk eigenwilliger ‘fremder’ Verknüpfungen. Wenn wir also unsere o.g. Aussage wieder aufnehmen, Bewußtseine seien in der Lage, den weiteren Verlauf der Kommunikation zu unterstützen oder zu blockieren, dann müssen wir sehen, daß der Beitrag des Bewußtseins als Anstoß zwar wirksam vorhanden, als authentischer Beitrag in der Kommunikation aber nicht gegeben ist, denn die Irritation ist immer Selbstirritation der Kommunikation nach Maßgabe eigenwilliger Motivation, mit Blick auf die Verfolgung eigenwilliger Zwecke. "Es ist die Kommunikation", so Helga Gripp-Hagelstange, "der die Potenz zugedacht ist, gleichsam in Eigenregie zu entscheiden, was in einem spezifischen Kontext akzeptiert, abgelehnt oder weitergegeben wird." An keiner Stelle also gibt die Kommunikation ‘das Heft aus der Hand’. Sie selbst legt fest, in welcher Richtung externe Impulse wirksam werden dürfen, anders gesagt: Sie selbst erarbeitet sich ihr eigenes Verstehen oder Mißverstehen. Genau dies war gemeint, als wir oben davon sprachen, die Kommunikation werde gleichsam ‘von hinten her’ aufgerollt. D.h., sie wird dadurch erst ermöglicht, daß die Mitteilung einer Information von ego, dem Adressaten her verstanden wird und somit nach kommunikationsinterner Logik Anschlußfähigkeit entstanden ist. Unser erstes Zwischenergebnis lautet also, daß alles, was als Gedachtes in die Welt tritt, immer schon als das gesellschaftlich Geformte vorliegt, und nur in dieser Weise ‘da’ sein kann. Im Zentrum dieses Geschehens steht die strukturelle Kopplung von Bewußtseinssystemen mit dem Kommunikationssystem Gesellschaft.

Jedes Beispiel, das zur Erläuterung herangezogen wird, muß zu kurz greifen, weil die dynamischen Bewegungsprozesse autopoietischer Reproduktionen schwer darstellbar sind. Wagen wir dennoch ein Beispiel zu konstruieren, dann können wir, bezogen auf einen momenthaften Ausschnitt X vielleicht folgende Situation heranziehen: Im Einzelhandel sind die Waren und Artikel mit der Identität eines jeweils spezifischen Balkencodes versehen. In dem Moment, wenn sie von einem Scanner-Lesegerät abgetastet werden, werden sie im Moment des akustischen Signaltons mit je spezifischen externen Datenlisten (Bestandlisten, Absatzlisten u.ä.) strukturell gekoppelt. D.h. die Identität eines spezifischen Codes taucht im gekoppelten Medium nicht mehr authentisch auf, sondern wird umgewandelt in einen Beitrag zur Erfüllung des jeweils spezifischen Anliegens einer externen Liste, d.h. wird zu einem Element einer anderen externen Sinn-Struktur umgeformt, denn unter dieser ‘neuen’ Maßgabe zählen keine Einzelelemente für sich, sondern nur die Gesamtrichtung der im Vorfeld motivierten Fragestellung einer betriebswirtschaftlichen Analyse. So, wie das Scanner-Gerät die Balken und sonst nichts ablesen kann, ist auf unseren Fall bezogen die Kommunikation jener Mechanismus, der die Eigenart bewußtseinsspezifischer Impulse im wahrsten Sinne des Wortes abtastet (weil Kommunikation sonst nichts abtasten kann) und dieses profiliert ‘Wahrgenommene’ in eigene Gesetzmäßigkeiten umwandelt. Strukturelle Kopplung ist weder mit dem Balkencode noch mit der neu entstandenen Sinnstruktur einer Liste identisch. Ihre autonome Realitätsbasis wird durch den aktuell vernehmbaren akustischen Signalton markiert.

Die bisherigen Ausführungen dieses Kapitels, mit denen wir die Parallelität von Kognition und Sozialität zu erklären versuchen, führen wie von selbst zum systemtheoretisch gefaßten Begriff des Wissens. In ihm tauchen alle hier besprochenen Elemente wieder auf. Wissen, davon war oben bereits die Rede, ist nicht das Ergebnis einer bewußtseinsintern erzeugten Imagination. Die herkömmliche Vorstellung, Wissen sei eine Art Anhäufung von ‘Substanzen’, die von den Bewußtseinen in einen Behälter gegossen werden, ist dem systemtheoretischen Denken fremd. Statt dessen blickt Luhmann auf die Kommunikation: Nur das gilt als Wissen, was kommunikativ reproduziert wird. Damit überhaupt neues Wissen entstehen kann, ist die Kommunikation auf die eigenwilligen Gedächtnisleistungen der Bewußtseine angewiesen, umgekehrt können Bewußtseinsprozesse aber nur dann zur Erweiterung von Wissen führen, wenn sie in Kommunikation umgesetzt werden bzw. als Kommunikation überhaupt erst einmal ‘greifbar’ geworden sind, d.h. als Kommunikation verstanden oder mißverstanden werden. Luhmann: "Nicht das Gedächtnis selegiert, sondern das Gelingen der Kommunikation." Wenn das Bewußtsein in seiner spezifischen Autonomie operative Freiheitsgrade verwirklicht, so müssen Bewußtseinsvollzüge, wie Luhmann in "Gesellschaftsstruktur und Semantik" sagt, immer sozialisiert sein, um über eine dumpfe, nur durch das jeweilige Wahrnehmen bestimmte Bewußtheit hinausgelangen zu können. Wir sehen also auch am Begriff des Wissens bestätigt, daß das Gedachte als genuine Leistung des Bewußtseins konstitutiv im sozialen Kontext, d.h. im Gewand der Kommunikation auftreten muß, um überhaupt als Wissen ‘da’ sein zu können.

Bisher haben wir immer in recht abstrakter Weise vom Kommunikationssystem der Gesellschaft gesprochen. Nun müssen wir daran erinnern, daß gesellschaftliche Kommunikation immer in Form funktionaler Differenzierung vorliegt. Das bedeutet, daß die zerstreut-atomisierten und zaghaften Anstöße und Impulse der Bewußtseine auf eine gleichsam unerbittlich ‘gewaltsame’ Art in die harte Eigenlogik der Funktionssysteme hineingezogen werden (sofern sie passend sind); d.h., sie werden auf verschiedene Kontexte verteilt und damit jeweils ‘kanalisiert’ auseinandergetrieben. Die Einzelbewußtseine erleben gewissermaßen an sich selbst, daß sie von den opportunistischen Interessen heterogener Sinnkosmen in Anspruch genommen, d.h. für die Reproduktion völlig verschiedener Sprachen ‘funktionalisiert’ werden, um letztlich die Strukturen jeweils eigensinnig-autonomer Strukturen zu verfestigen. Nochmals anders gesagt: Die Funktionssysteme benutzen das eine Bewußtsein entsprechend ihrer je spezifischen Logik in verschiedener Weise und führen dem Bewußtsein dabei diese ihre Opportunismen vor Augen. Betrachten wir im nun folgenden Abschnitt die umgekehrte ‘Beeinflussungsrelation’, nämlich von den Funktionssystemen auf Bewußtseine.

4. Die Zersplitterung kommunikativer Formung als Umwelt der Autopoiesis der Bewußtseinssysteme

Wie ist nun der umgekehrte Weg vorstellbar, d.h. die ‘Rückwirkung’ des gesellschaftlichen Kommunikationsprozesses auf das Denken? Wir gehen von dem aus, was wir im vergangenen Abschnitt betrachtet haben: Die Kommunikation steuert sich selbst. Die aktuell gegebene Struktur des kommunikativ Geformten, so können wir etwas salopp formulieren, ist die momenthaft gegebene ‘de facto’- Substanz, die die Kopplung mit den Bewußtseinssystemen ermöglicht. D.h., Bewußtseine können an Kommunikation partizipieren, sofern sie sich in die Zeitbewandtnisse der Kommunikation einreihen, sich, wie Luhmann sagt, "in der Form ihrer Irritabilität in die Enge kommunikativer Sequenzen schmiegen." Wenn Peter Fuchs feststellt, die Kommunikation könne den Bewußtseinen eine "Matrix der Wahrnehmung" unterschieben, dann ist damit gemeint, daß Kommunikation in jedem Augenblick eine Komplexität zur Verfügung stellt, die von den Bewußtseinssystemen auf je verschiedene Weise für den Aufbau eigener Strukturen in Anspruch genommen werden kann.

Umgekehrt betrachtet, bildet die Riesenmenge isolierter Mentalsysteme gleichsam das Medium, in das, wie Luhmann sagt, die Kommunikation "sporadisch rigide Spuren einzeichnet, um sich selbst fortsetzen zu können." Um diesen Gedankengang abzuschließen, halten wir also fest, daß die Ausrichtung und Komplexität möglicher Wahrnehmung der Bewußtseine immer von den Sinnmustern der Kommunikation abhängig sind; Kommunikation ist also jener ‘Stoff’, der die Wahrnehmungsleistungen der Einzelbewußtseine raffinieren bzw. ‘filigraner’ gestalten kann. So kann man z.B. leicht erkennen, daß der Name "Brent Spar" nach dem Jahre 1995 und z.B. der Name Scharping nach dem SPD-Parteitag des Jahres 1996 jeweils anders wahrgenommen werden als vorher. An diesem Beispiel kann man gleichzeitig erkennen, daß für die psychischen Systeme irgendwann der Grenznutzen der Kommunikation erreicht oder ihre Geduld (d.h. ihre Belastbarkeit) erschöpft ist, so daß neue Konstellationen an anderen Zeitstellen bedeutsamer werden.

Wenn wir uns nun der Frage zuwenden, was in den Einzelbewußtseinen konkret geschieht, sofern die strukturelle Kopplung mit dem Kommunikationssystem Gesellschaft vorliegt, sehen wir uns auf den Begriff der Reflexion verwiesen. Bei der Darlegung des Begriffs stoßen wir auf interne Vorgänge, die den Bewußtseinsablauf im eigensprachlichen Durchdenken von Zusammenhängen strukturieren und zwar bei durchaus sprunghaften Übergängen der Autopoiesis zu immer wechselnden Inhalten. Dadurch, daß dies geschieht, wird zugleich gewissermaßen der ‘Schlüssel’ zur Öffnung der Bewußtseinssysteme modelliert. D.h. in jedem Bewußtseinssystem gibt es Mechanismen, die dafür verantwortlich sind, daß Bewußtseine immer wieder aufs neue sensiblisiert und motiviert werden, neue Kopplung einzugehen. Werden diese Mechanismen sehr lebendig gehalten, kommt es zu einer enormen Dichte des internen Strukturaufbaus, erlahmen sie in ihrer Aktivität, bleibt die Autopoiesis der Einzelbewußtseine auf die Reproduktion marginaler Basisstrukturen begrenzt. Nähern wir uns diesem Sachverhalt Schritt für Schritt: Übertragen auf den hier gegebenen Zusammenhang versteht Luhmann unter Reflexion zunächst einmal die Fähigkeit des Bewußtseins, sich selbst zu thematisieren. In der Reproduktion bewußtseinsinterner Operationen, d.h. in der Anknüpfung von Gedanken an Gedanken kommt es zu einer mitlaufenden Beobachtung (als Vorstellung des soeben Gedachten). Bewußtseinssysteme fertigen also eine partielle (auf einen kleinen Ausschnitt bezogene) Selbstbeschreibung an, mit der die interne autopoietische Reproduktion zugleich fortgesetzt wird. Wenn das Bewußtsein in dieser Weise also die eigenen Operationen an der eigenen Einheit orientiert, dann kommt als Leitdifferenz immer (nur) die Differenz von System und Umwelt in Betracht. Damit wird der Blick der Bewußtseine erweitert, denn wir setzen nicht mehr nur eine selbstorganisierte Einheit voraus, sondern eine, wie Helmut Willke formuliert, "selbsttransformative Einheit", in der Bewußtseine die Fähigkeit besitzen, sich selbst als geeignete Umwelt des sozialen Systems zu begreifen und eben auch darauf reagieren können, welche Wirkungen sie in der Umwelt erzeugen. Die Komplexitätssteigerung der Bewußtseine, so sagten wir oben, ist abhängig von der Kontingenz ihrer Umweltbeziehungen. Wenn wir von Umweltbeziehungen sprechen, sprechen wir immer auch von Selektionsdruck (in unserer jetzigen Perspektive) der Bewußtseine. Das Kriterium, nach dem das ‘Problem’ der Selektion gelöst wird, besteht nun darin, daß Bewußtseine in ihrer Selbstthematisierung gewissermaßen ihre eigene Qualität zur Debatte stellen, und zwar, wie Helmut Willke betont, nicht die Qualität als solche, sondern jene, die sie für sich im Verhältnis zu anderen Systemen in Anspruch nehmen wollen. Bewußtseine befähigen sich also selbst dazu, jene Bedingungen zu konkretisieren, nach denen sie im Hinblick auf die Gesellschaft umweltempfindlich reagieren können bzw. wollen. Wir sehen also, daß durch Reflexion aktuell gegebene Verknüpfungskonstellationen immer wieder neu ‘aus den Angeln gehoben werden’ können, anders gesagt: ständig zur Disposition gestellt werden. Der Prozeß dieser dynamischen Selbstveränderung wird von der prinzipiellen Freiheit der Verknüpfungen getragen: Luhmann spricht in "Die Wissenschaft der Gesellschaft" von der "prinzipiellen Auswechselbarkeit aller Konditionierungen," sofern sie nur dazu dienen, die Autopoiesis der Systeme fortzusetzen. Die Konsequenz dessen liegt darin, daß Reflexion nie zu ‘Anweisungen für richtiges Verhalten’ führt, sondern gerade umgekehrt darauf spezialisiert ist, Verunsicherungen der Bewußtseine herbeizuführen. Wenn Bewußtseine in dieser prinzipiell offenen Weise ständig damit befaßt sind, die Differenz von eigenem System und Umwelt ‘einzuüben’ und sich damit selbst einem rascheren strukturellen Wandel aussetzen, dann ist das nicht zwangsläufig immer eine Veränderung ‘ins Blaue hinein’. Denn Bewußtseine sehen sich der Bewährung in der Umwelt ausgesetzt, d.h. sie sehen sich selbst dazu genötigt, dem Kommunikationssystem Gesellschaft Rechnung zu tragen. Jede Veränderung kann also durchaus als vorausschauende Veränderung der Bewußtseine erfolgen, d.h. als eben solche, die ein ‘Verstehen’ der spezifischen Funktionsbeidingungen der Kommunikationssysteme beinhalten und damit insofern eine Form des Lernens begründen, als Einzelbewußtseine ihre systemeigenen Prozesse im Hinblick auf zukünftige Wirklichkeiten verändern. D.h. Bewußtseine können die aus der Umwelt resultierenden Abstimmungszwänge in ihr eigenes Entscheidungskalkül einbauen und dabei das, wie Luhmann sagt, "selektive Akkodieren ihrer Eigenselektivität unter Einbeziehung der jeweils anderen Systeme lernen."

Mit Reflexion, so können wir abschließend festhalten, entsteht gewissermaßen ein ‘Options-Pool’ möglicher Selektionen, mit denen, wie Helmut Willke sagt, das "Durchspielen virtueller Konstellationen" ermöglicht wird, so daß über bloße Anpassungen hinaus auch spezifische Richtungen der Entwicklung und damit "Strategien der Evolution" realisierbar erscheinen. Im Zusammenhang mit der hier vorliegenden Thematik der Parallelität von Gesellschaft und Denken befinden wir uns mit dem Begriff der Reflexion an einer entscheidenden Nahtstelle: Das, was die Kommunikation durch strukturelle Kopplung für Bewußtseine zur Verfügung stellt, ist für die Einzelbewußtseine sozusagen der Anlaß, im Anschluß an die individuelle Geschichte bewußtseinsinterner Verknüpfungen Konstellationen zu verändern, diese Veränderungen selbst zu beobachten, d.h. mit bewußtseinsinternen Reflexionen gewissermaßen zu ‘umspülen’, um dadurch dasjenige zu profilieren, das (wiederum) im Zuge struktureller Kopplung aus dem Bewußtsein heraustreten, d.h. nur als Kommunikation ‘da’ sein kann.

Wie oben, so müsen wir auch hier daran erinnern, daß das Kommunikationssystem Gesellschaft immer in Form verschiedener funktional ausdifferenzierter Teilsysteme vorliegt. Durch die hiermit gegebene Autonomisierung und gegenseitige Abschottung verschiedener Binnenstrukturen zeigt sich auf den Ebenen Sinn, Sprache und Wissen höchste Heterogenität. In der Sprache des Sozialsystems Gesellschaft zeigt sich also nie eine universelle Sprache gesellschaftlicher Kommunikation, sondern die Mächtigkeit eigengesetzlich verfasster pluralistischer Strukturen in ihrer jeweiligen Autonomie und Grenze. Funktionale Differenzierung hat der Sprache gesellschaftlicher Kommunikation ihren unverwechselbaren Stempel aufgesetzt.

Ebenso auf der Ebene des Wissens: Wenn Wissen, wie Luhmann sagt, als Eigenleisung des Gesellschaftssystems nichts anders ist als eine Globalbezeichnung für das, was als Gesamtresultat struktureller Kopplungen des Gesellschaftssystems anfällt, dann läßt sich vor dem Hintergrund funktionaler Differenzierung die Mehrstufigkeit dieser Kopplungen und damit die Heterogenität aktivierter Ressourcen erahnen.

Wenn wir oben versucht haben zu zeigen, daß mit der Reflexion Beiträge zur Variation und Evolutionsfähigkeit der Einzelbewußtseine im Hinblick auf die Optimierung ihrer Umweltkontakte geleistet werden, dann müssen wir jetzt präzisierend hinzufügen, daß diese Optimierung (falls sie erreicht wird) nie "durchgängig", sondern immer nur sequentiell, punktuell oder ‘atomisiert’ erfolgen kann. Wir werden erinnert an das Stück "Insalata Mista" von Wolfgang Bauer:

Die Zersplitterung der kommunikativen Formung, die sich im Sozialsystem Gesellschaft auf den Ebenen Sinn, Sprache und Wissen zeigt, teilt sich dadurch den Bewußtseinen mit, daß sie mit diesen spezifischen gesellschaftlichen Strukturen als Umwelt gekoppelt sind und nur entlang dieser gesellschaftlich entstandenen Heterogenität Impulse zu Reorganisation ihrer internen autopoietischen Prozesse nutzen können.

V. Das Darstellungssystem "Wir sind, wenn wir tun" als Erklärungsmodell der Parallelität von Subjektivität und Sozialität

Im Rückblick auf die bisherigen Ausführungen dieser Arbeit stoßen wir auf einen eklatanten Widerspruch: Im phänomenologischen Teil wurde herausgestellt, daß das Subjekt insofern eine zentrale Rolle in der Gesellschaft einnimmt, als es in vermehrt exzentrischer Weise seinen Stellenwert hervorzuheben sucht und in zunehmend hektischer Form und Dichte um sich selbst kreist. In der systemtheoretischen Betrachtung wurde dagegen deutlich, daß das Subjekt als Einheit verschwindet. Da der Mensch, die Person, das Bewußtsein jeweils Unterschiedliches im Hinblick auf die Kommunikation bewirken, begegnen uns nur noch Teilaspekte, die nicht mehr als Einheit bearbeitbar sind. Ist die im phänomenologischen Teil dargestellte gesellschaftliche ‘Selbstinzenierung’ des Subjekts mit der Exkludierung und Entmachtung des Subjekts in der Systemtheorie Luhmanns vereinbar?

Wir können diese Frage ohne Umstände bejahen. In diesem Kapitel werden wir aufzeigen und zu begründen versuchen, daß das im phänomenologischen Teil entworfene Modell "Wir sind, wenn wir tun" im systemtheoretischen Bezugsrahmen als die Geschlossenheit eines sozialen autopoietischen Prozesses aufgewiesen werden kann. D.h., nicht das Subjekt selbst, sondern der Mechanismus, mit dem es sich in der Gesellschaft explizit zur Geltung bringt und mit dem es sich dort behaupten will, kann gleichsam additiv zu anderen gesellschaftlichen Teilsystemen als eigenes Funktionssystem verstanden werden.

Wir vertreten die These, daß die für spezialisierte Kommunikation auszumachende Steigerung der Kommunikationsdichte nicht nur im Bereich des Wissens, der Politik oder des Rechts gegeben ist, sondern auch auf der Ebene der Darstellung sozialer Geltung von Personen. In den hier postulierten Strukturen eigensinniger Systemrationalität wird die exklusive Zuständigkeit für eine spezifische Leistung unterstellt: Gemeint ist ein Darstellungssystem als die Autopoiesis der Inszenierung sozialer Geltung von Personen. Nochmals: Das von uns entworfene Modell "Wir sind, wenn wir tun" wird gleichsam in die Systemtheorie (begründet) hineingetragen, - aber nicht unter der Maßgabe von Einzelsubjekten, sondern als ‘sozialer Mechanismus’. Das heißt: Wir schlagen vor, ein eigenes gesellschaftliches Teilsystem anzusetzen, mit dem eine spezifische Funktion exklusiv bedient wird. Sofern es uns gelingt, im Rahmen der Systemtheorie Luhmanns (und ohne sein Denken zu verbiegen) die Schlüssigkeit und innere Plausibilität eines solchen Darstellungssystems aufzuweisen, könnte sowohl der o.g. Widerspruch aufgelöst als auch eine überzeugende Erklärung für die Parallelität von Subjektivität und Sozialität geleistet werden. Gleich zu Anfang sei zugestanden, daß wir zu einem paradoxen Ergebnis kommen werden: Einerseits können wir das Modell "Wir sind, wenn wir tun" als die Geschlossenheit eines sozialen autopoietischen Reproduktionszusammenhangs aufweisen und hierbei eine beispiellose Verdichtung und expansive Dynamik dieses Prozesses belegen; wir werden nachweisen, daß der Mechanismus, der die ‘Präsenz’ des Subjekts in der Gesellschaft herstellen und festigen soll, offensichtlich, vehement und gewaltig ist wie nie zuvor. Andererseits wird uns dabei kein Subjekt im herkömmlichen Sinne begegnen.

1. Die Autopoiesis der Inszenierung sozialer Geltung von "Personen" als gesellschaftliches Funktionssystem

Entwickeln wir die Untersuchung Schritt für Schritt: Für ein gesamtgesellschaftlich betrachtet ausgrenzbares Problemfeld, das ‘Sich-geben’, ‘Sich-Darstellen’ in der Gesellschaft, entwickelt sich eine spezialisierte Steuerungssprache als symbolisch generalisiertes Medium ‘soziale Geltung’. Das bedeutet zunächst ganz allgemein: Mit den Formen, die eine strengere Kopplung von Sinnmomenten im oben spezifizierten Rahmen ausprobieren, entsteht im rein kommunikativen Gebrauch das Medium ‘soziale Geltung’ sozusagen als Effekt (nicht als Ursache) erfolgreicher Kommunikation. D.h., die sich unter dem Medium ‘soziale Geltung’ einspielende Kommunikation motiviert sich gleichsam selbst dazu, immer wieder aufs Neue Selektionen zu konditionieren und zwar so, daß Kommunikationen angenommen werden. Die Leistung des Mediums besteht also darin, eine, wie Luhmann sagen würde, "hochunwahrscheinliche Kombination von Selektion und Motivation" zustandezubringen. Die damit generierte Dichte im Strukturaufbau führt zwangsläufig zu einer stärkeren ‘inneren Profilierung’ der Kommunikation und damit zu einer internen Abschließung nach außen.

Damit die kommunikativen Selektionen überhaupt schematisiert werden können, anders gesagt: damit die Zurechenbarkeit der Kommunikation zu der einen oder anderen externen Struktur überhaupt entscheidbar sein kann, ist das Medium ‘soziale Geltung’ sozusagen als Kernstück mit zwei gegensätzlichen Werten ausgestattet, mit denen die Autopoiesis der Kommunikation gesteuert wird. D.h., die Kommunikation arbeitet unter einem Code, unter dem kein anderes System arbeitet; er lautet: soziale Geltung inszenierend/ nicht inszenierend. Der Positivwert dieses Codes funktioniert als Präferenz, also als Symbol für Anschlußfähigkeit und funktioniert zugleich, wie Luhmann (in einem anderen Zusammenhang) feststellt, "als Legitimation für den Gebrauch des Codes selbst." Hierbei müssen wir allerdings daran erinnern, daß auch mit dem negativen Pol des Codes die Autopoiesis unserer mediengesteuerten Kommunikation fortgesetzt werden kann: In ihrer Fähigkeit ‘hin und herzuschalten’, ist die Kommunikation eben auch in der Lage, die Frage zu thematisieren, warum etwas der Inszenierung ‚sozialer Geltung von Personen‘ abträglich ist, und unter welchen Bedingungen sich dies zum Positiven wenden könnte.

Da der Code recht abstrakt formuliert ist, ist auf den ersten Blick eine nur sehr breite Streuung von Bindungseffekten anzunehmen. Die weiter unten aufzunehmenden Untersuchungen zur Evolution des Darstellungssystems werden jedoch zeigen, daß bei näherer Betrachtung qualitative Spezifizierungen auszumachen sind, die klare Präferenzen fixieren. Auch wenn diese selbstverständlich variablen Konditionierungen ausgesetzt werden, so dient das Medium ‘soziale Geltung’ insofern eindeutig als Steuerungsmedium, als in Teilbereichen nur noch ganz bestimmte Formen strikter Kopplung zugelassen werden.

An dieser Stelle ist zunächst festzuhalten, daß die Konturen eines eigenständigen Systems entstehen, des Darstellungsssystems. Durch den Code wird eine rekursive Beziehung ‘themenspezifischer’ Kommunikation (aufeinander) ermöglicht und von Operation zu Operation festgeschrieben, so daß sich eine unter diesem Code formulierte, spezifische Handlungslogik (im nichtanthropologischen Sinne) einstellt, stabilisiert und in trennscharfer Differenzierung von außen abgrenzt. Mit diesem Prozeß der Verkettung der Kommunikation ist automatisch die Geschlossenheit eines eigenständigen autopoietischen Reproduktionszusammenhangs entstanden, der sich von seiner Umwelt abgegrenzt hat. Wie bei jedem System sind die spezifischen Formen des selbstreferentiell strukturierten Gebildes auf drei Ebenen identifizierbar: auf den Ebenen der Sach-, Sozial- und Zeitdimension. In der Sachdimension geht es insofern um Systemdifferenzierung, als die Kommunikationen auf der Ebene z.B. der Politik, des Rechts wie auch der Darstellung sozialer Geltung von Personen je unterschiedliche Formungen im Medium Sinn generieren. In der Sozialdimension geht es um die Inklusion und Exklusion von Personen sowie um die Zuweisung spezifischer Rollen, die im Kommunikationsprozeß Relevanz haben. In der Zeitdimension geht es um die Herausbildung einer autonomen Systemzeit. Sie ist daran erkennbar, daß eine inhaltliche Fixierung der mediengesteuerten Kommunikation entlang eines spezifischen Programms über einen Zeitraum hinweg Geltung hat und danach in sich zusammenfällt (wir kommen weiter unten auf diesen Punkt zurück, vgl. "Evolution des Darstellungssystems", S. 310f.). Ebenso wie die anderen Funktionssysteme kann das Darstellungssystem nicht ‘für sich allein ‘ operieren. Seine Autopoiesis unter dem Code ‘soziale Geltung inszenierend/ nicht inszenierend’ ist auf die Kopplungen mit anderen Systemen angewiesen. So kann z.B. das Darstellungssystem irgendwelchen Ereignissen seiner Umwelt ausgeliefert sein, sobald sich diese unter dem maßgebenden Code ‘darstellungswirksam’ verwerten lassen. Während im politischen System z.B. eine Demonstration unter dem Gesichtspunkt der machtpolitischen Interessendurchsetzung relevant wird, sieht das Darstellungssystem dieses Ereignis unter dem Aspekt der Darstellung sozialer Geltung von Personen. Sofern dieses Ereignis den spezifischen Doppelfilter von Codierung und Programmierung durchläuft, d.h. vom Darstellungssystem ‘gelesen’ werden kann, gewinnt es systeminterne Relevanz. Bei einer positiven Selektion wird der Protest bzw. die Rolle des Demonstranten als neues Programm in die Autopoiesis des Darstellungssystems eingebaut. Das inkludierte Programm dient damit als ‘neue Variante’ zur Inszenierung sozialer Geltung von Personen, d.h. es verspricht Strukturaufbauwert bzw. evolutionäre Vorteilhaftigkeit für unser System. Nochmals: Das durch den Zufall ausgelöste Ereignis der Demonstration, das vom Darstellungssystem weder produziert, noch von ihm vorhergesehen werden konnte, kann von unserem System (als Ereignis) benutzt werden, um sich selbst zu verändern und diese Zustandsveränderung wäre dann zugleich die Basis für die Anregung zu neuen Selektionen.

Auf den Ebenen der Sprache, der Musik, der Aktivitätsformen, der Attribute und Symbole sind eine unendliche Anzahl von Schemata zugriffsbereit verfügbar, mit denen das Darstellungssystem ständig "neue Überraschungswerte" produzieren kann (bzw. muß), weil sich alte Konstellationen verschleißen. Der ständige Zerfall von Konstellationen ist also auch im Darstellungssystem der Normalfall und zwar als Voraussetzung für die Erhaltung der Autopoiesis des Systems. Der Spielraum des Möglichen ist niemals erschöpft; unendliche Möglichkeiten zur Kombination von Selektion und Motivation (im o.g. Sinne, vgl. S.290 ff.) liegen brach. Sie können benutzt werden, sobald ein Bedarf auftritt, sobald Bezugsprobleme akut werden, sobald man, wie Luhmann sagt, "die kombinatorischen Möglichkeiten entdeckt, die sich mit einer medienspezifischen Auflösung und Formgewinnung realisieren lassen."

Was Luhmann im Hinblick auf die sogenannte öffentliche Meinung feststellt, übertragen wir hier zumindest in einem Teilaspekt auf unser Darstellungssystem: Die Angebote ‘darstellungsrelevanter’ Aktivitätsformen, Attribute, Symbole und Ereignisse sehen im Medium konkurrenter Offerten sich selbst und andere Angebote und Optionen wie in einem Spiegel. Auf der Rückseite des Spiegels sehen sich die Personen in den verschiedensten Varianten ihrer darstellungsbezogenen Aktivität und lernen nach und nach, was man hochselektiv zur Kenntnis zu nehmen hat. Der Spiegel selbst ist intransparent. Das bedeutet: Auf der einen Seite wird eine enorme Angebotsdichte erzeugt und auf der anderen Seite entsteht eine enorme Redundanz, die sich als sozialer Mechanismus nach eigenen Gesetzmäßigkeiten ganz eigenwillig steuert. D.h. die verfügbaren Angebote werden von der harten Logik dieses sozialen mediengesteuerten Prozesses in sowohl hektischer wie opportunistischer Weise vereinnahmt, so daß man gar nicht anders kann, als die Inszenierung sozialer Geltung von Personen unterstellen zu müssen. Dabei erübrigt es sich nachzuforschen, was einzelne Beteiligte dabei denken, denn der Code markiert keine Disposition im Inneren psychischer Systeme. Hier werden nicht einzelne Meinungen codiert, sondern die Kommunikation selbst. Anders gesagt: Beim Medium ‘soziale Geltung’ kommt es nicht auf eine psychische, sondern auf eine soziale Ordnungsleistung an. Wir kommen weiter unten auf dieses Thema zurück (vgl. S. 302).

Als vorläufiges Ergebnis dieser ersten Betrachtungen zum Darstellungssystem halten wir fest: Auf der Ebene dessen, was unter dem Medium soziale Geltung kommuniziert wird, erscheint die Gesellschaft als eine sich über Personen darstellende, sich sozusagen selbst inszenierende Gesellschaft. Hier hat sich die Rationalität (und Realität) eines geschlossenen Teilsystems der Gesellschaft durchgesetzt, weil hier eine im spezifischen Sinne exklusiv-themenbezogene Kommunikation koordiniert, durch Wechselbezug legitimiert wird und Personen zugerechnet werden kann. Alle Aspekte, die gewöhnlich als Voraussetzung der Entstehung von Systemen angesehen werden, sind hier vertreten: So z.B. die funktionale Reduktion vorher multifunktionaler sozialer Gebilde oder Einrichtungen, der Anreiz für Wachstum und Ausbildung neuer Spezialisierungen, die Generalisierung der Nachfrage nach dieser spezifischen Leistung des Systems, die gesellschaftsweite Anerkennung des eigenen Leitwertes, Entlastung elementarer Handlungsvollzüge, Reduktion von Komplexität der Objektebene durch die Generalisierungsleistung der Code-Symbole, d.h. Produktion von Komplexität auf der Symbolebene durch neue Freiheitsgrade in den Verknüpfungsmöglichkeiten der Code-Elemente. Als eigenes Funktionssystem trägt das Darstellungssystem zur Autopoiesis der Gesamtgesellschaft bei, ist insofern also ohne weiteres eine Selbstbeschreibung der Gesellschaft, wenn auch eine solche, die sich eben (nur) besonderer Formen und Unterscheidungen bedient.

2. Zur expansiven Dynamik des Darstellungssystems: Die Love-Parade und Guildo Horn

Nachdem im vorangegagenen Abschnitt die Grundzüge des Darstellungssystems auf einer sehr allgemeinen Ebene vorgestellt wurden, sollen nun die aktuellen Ausdrucksformen seiner expansiven Dynamik betrachtet werden. Ein Spezifikum des Darstellungssystems besteht darin, daß es in seinen wesentlichen Grundzügen sozusagen als ‘Gegenprinzip’ zur Organisation gebaut ist. Hier findet man auf den ersten Blick kein engmaschiges Netz institutionalisierter Organisationen wie das z.B. im politischen System oder im System der Wissenschaft der Fall ist, obwohl Organisationen natürlich auch im Darstellungssystem als Formen rigider Kopplung vorhanden sein können (z.B. Verband der Body-Building-Institute, Messe "You 97" u.a.). Das, was Dirk Baecker im Hinblick auf die Märkte in modernen Gesellschaften festgestellt hat, kann analog auf das Darstellungssystem angewandt werden: Als Sonderfall eines operativ geschlossenen Kommunikationszusammenhangs "fungiert es als Strukturvorgabe des Strukturverzichts." Diese Feststellung steht nicht im Widerspruch zu der Beobachtung, daß es innerhalb des Darstellungssystems eine auffällige Zunahme an Volumen bzw. selbstgenerierter Dichte der Kommunikation gibt. Zur Erläuterung dieses Zusammenhangs beginnen wir zunächst mit einer abstrakten Feststellung Luhmanns, die wir auf das Darstellungssystem übertragen. Er sagt, daß sich die evolutionäre Unwahrscheinlichkeit und Riskiertheit eines Systems an der Art und Weise zeigt, "wie es mit der Differenz von Inklusion und Exklusion zurechtkommt und seine eigenen Formen zur Stabilisierung differenter, wenig integrierter Inklusion nutzen kann." Wir versuchen zu übersetzen: Die Dynamik und kommunikative Dichte des Darstellungssystems zeigt sich darin, daß es in der Lage ist, in einer sehr flexiblen Weise ‘Relevanzen’ aufzubauen und fallenzulassen, und in diesem prinzipiell offenen Wechselspiel keine ‘in sich ruhenden’ Verbindlichkeiten braucht. Das, was relevant wird, kann immer anders ausfallen und die ‘Kunst’ besteht gerade darin, trotz dieser ‘Sprünge’ eine dynamische mediengesteuerte Stabilisierung von Sinn zu erreichen.

In welche Richtung sich das Darstellungssystem auch immer entwickelt; zunächst einmal gilt es festzuhalten, daß die Mediensymbole im System zirkulieren und zwar so, daß jede Kopplung des medialen Substrats zu spezifischen Formen das Medium auch wieder freigibt für neue Formen. Wenn wir hier in abstrakter Sprache die durchweg dynamische Gestalt der Medien/ Form-Differenz betonen, dann erfolgt dies sozusagen als vorbereitende ‘Basis-Erläuterung’ für das, was wir auf der Ebene der aktuellen Programme des Mediums ausmachen können. Die Programme, die sozusagen am Code des Darstellungssystems hängen, steuern die inhaltliche Ausgestaltung personaler Inszenierungsleistung und werden dabei ständig mit Komplexität und Veränderung aufgeladen. Die Bedingungen für das, was unter dem Medium jeweils relevant sein soll, werden dabei vom Darstellungssystem selbst per Kommunikation geregelt (und verändert). So kann man verschiedenste Formen der Attributierung von Personen und Rollen beobachten. D.h. zur Spezifizierung der Leitdifferenz werden mit Programmen weitere Differenzierungen eingeführt, wie z.B. Fun-sport-aktiv/ nicht-aktiv; Kappe tragend/ nicht tragend; gepirct/ nicht gepirct usw. In seinem Werk ‘Ökologische Kommunikation’ stellt Luhmann anschaulich heraus, daß sich die in den Programmen enthaltenen Kriterien auf die binäre Codierung (hier: des Darstellungssystems) beziehen, aber selbst nicht ein Pol des Codes sind. Schaut man auf die aktuell realisierten Programme, so fällt der Blick auf die von den Bewußtseinssystemen bevorzugten Präferenzen, d.h. hier: Selektionen. Je differenzierter die gesellschaftlichen Erwartungsmuster sind, die kommunikativ produziert und quasi an die Bewußtseine herangeführt werden, desto reicher sind die Konstellationen, die sich durch strukturelle Kopplung mit den Bewußtseinen ergeben. Durch die fließenden Variationen bevorzugter Programme werden die Strukturen des Darstellungssystems also nicht nur (einmalig) festgelegt, sondern eigenwillig fortgeschrieben, so daß sich im Umgang mit diesen Möglichkeiten der Ausgestaltung auch geronnene Erfahrungen des Systems widerspiegeln und damit Lernfähigkeit im Hinblick auf künftige Optionen von Resonanz ermöglicht wird. Wir vertreten die These, daß sich die Konturen einer gewissermaßen ‘disbalancierten’ Evolution der Gesellschaft zeigen. Denn das Darstellungssystem, so unsere Behauptung, hat sich mit seiner enormen Dynamik der Selbsterneuerung als viel beweglicher erwiesen als z.B. das Funktionssystem der Politik oder des Rechts. Das Medium des Darstellungssystems hat ein hohes Tempo von Auflösung und Rekombination erreicht, ein, wie Luhmann sagen würde, "enormes Wachstum an internem Möglichkeitsüberschuß und struktureller Selektion" entwickelt. Mit anderen Worten: die Programmstrukturen des Systems haben sich sozusagen ‘hochspezifisch-filigran’ entwickelt, zerfallen schnell und entwickeln sich neu. Im Darstellungssystem haben sich immer weitere Systeme (Subsysteme) ausdifferenziert und damit die Binnenstruktur des Gesamtsystems gewaltig aufgebläht, so daß sich die Frage stellt, wieviel Expansion nach Innen die Gesellschaft mit diesem System überhaupt (noch) erzeugen kann. Stellenweise hat man den Eindruck, daß das Darstellungssystem an die Grenzen der Kontrolle seiner eigenen Potentialität gelangt ist. Wollen wir diese Aussage belegen, so blicken wir automatisch auf die organisierten Formen expressiver Selbstdarstellungen im Rahmen massenkultureller Großveranstaltungen, wie z.B. den "Christopher Street Day" in Köln, der "Love Parade" in Berlin und andere Events wie "Ballermann 6", "Mayday", "Rocky Horror Picture Show", um nur einige zu nennen (vgl. ANHANG 5).

Darüber hinaus zeigt sich die Inszenierung sozialer Geltung von Personen heute vermehrt in der ungehemmten Lust an verbaler Selbstentblößung und in der Zurschaustellung psychischer Deformationen in öffentlichen Arenen wie z.B. in den verschiedenen Talk-Shows des Fernsehens (in anderem Zusammenhang sprachen wir bereits davon). Medienvertreter beobachten eine immens wachsende Bereitschaft, mit freizügigen Bekenntnissen Intimes vor der Kamera auszubreiten. Aus Banalitäten des Alltags, Anormalitäten und Defekten jedweder Art wird ein Kult, der exhibitionistisch zelebriert wird. Die Menschen, so der Talk-Master-Pionier Hans Meiser (RTL), "entdecken den geilsten Medienkick: sich selbst!" Es hat sicher noch keine Gemeinschaft gegeben, so der Bremer Völkerkundler Hans-Peter Duerr, "in der die Tendenz zur Veröffentlichung von Privatem und Intimem so stark war wie in der heutigen." Nur wer redet, bleibt; d.h. wird wahrgenommen, kann Aufmerksamkeit und soziale Geltung erringen. "Im 19. Jahrhundert", so der Kulturphilosoph Michael Rutschky, "ist die Seele erfunden worden – nun will sie nach draußen." Die Inszenierung sozialer Geltung von Personen wird gestützt durch eine enorm anwachsende Zahl professioneller Anleitungen zur Ausgestaltung von Outfit, Lifestyle, Ich-Präsentation und Lebensart. Unzählige Zeitschriften, Fernsehsendungen und Castings haben sich dieser Themen angenommen und reproduzieren sie in unendlichen Variationen. Ein beispielloses Erfolgsprogramm dieser Trendarbeit lieferte die Europäische Jugendmesse YOU (vgl. Anhang 4) , die in den Jahren 1997 und 1998 mit großer Publikumsresonanz in Dortmund stattfand. Hier war das gesamte Spektrum an Aktivitäten und Assesoires zu finden, das der Selbstdarstellung von Personen gewidmet ist: die Erlebnisformen trendspezifischer Fun-Sportarten, die symbolischen Muster und Verhaltensrepertoires spezifischer Szenen und Milieus, die explizite Verwendung trend- und szenenspezifischer Sprache, der Konsum entsprechender Attribute und Symbole, um nur einiges zu nennen. Die Messe war sozusagen die passende Antwort des Handels und der Industrie auf den Bestseller-Song der Deutschen Charts im Jahre 1997: "Sei Dein eigener Held." Die Inszenierung sozialer Geltung von Personen wird auch sichtbar im perfektionierten Nachvollzug der synthetischen Verhaltensmuster der Werbung. Auf dieser Ebene liegen z.B. sämtliche Aktivitäten des Body-Styling. Durch die Integration vorgegebener Werbestandards wird das persönliche Image inszeniert und gepflegt. Die Botschaft lautet (auch hier): ‘Sieh mich an!’ "Jeder ist eine Diva", urteilt Deutschlands bekanntester Modedesigner Wolfgang Joop. Der andere Mensch taugt in erster Linie als Bewunderer. Der aktuelle Stellenwert der Inszenierung sozialer Geltung spiegelt sich im Kinofilm "Bin ich schön?!" von Doris Dörrie, der im September 1998 unter großer Publikumsresonanz in deutschen Kinos angelaufen ist. In schillernden Varianten drehen sich sämtliche Aktivitäten der hier vorgestellten ca. 20 Personen primär darum, das individuelle Selbst in der Gesellschaft profilstark zu inszenieren, darstellerisch zur Geltung zu bringen. Im Film kommt anschaulich zum Ausdruck, daß die Inszenierung sozialer Geltung für den einzelnen zu einem harten Geschäft geworden ist. Jede Person sieht sich in der Rolle des Avantgardisten seines eigenen Lifestyles und macht dabei zugleich die Erfahrung, an dieser Rolle unausweichlich scheitern zu müssen, denn jeder stellt fest: Die hektisch und aktivistisch aufgebaute Fassade ist imaginär – sie hält nur für den Augenblick, gilt nur im Hier und Jetzt und fällt danach unvermeidlich in sich zusammen. Jeder Versuch, über die aktuelle Situation ein verläßliches Moment der Stetigkeit hinüberzuretten, Kontinuität zu praktizieren, scheitert. Nur einer ist über den gesamten Verlauf der Handlung authentisch gegenüber sich selbst: Mit einer Urne unter dem Arm sucht ein alter Mann mit nackter Trauer und Hilflosigkeit ein Grab für seine verstorbene Frau.

Ein anderes Beispiel für die Aktualität der Inszenierung sozialer Geltung ist das wachsende Interesse an Selbstdarstellungen im Internet. Stellvertretend für die vielen Variationen auf diesem Gebiet stellen wir hier Rachel Olson vor, die sich in ihrer Wohnung von 15 Kameras beobachten läßt und die von sich aufgenommenen Bilder in Minutenabständen ins Internet einspeist:

Unter dem Namen Ana sehen wir sie lachen, weinen, essen und trinken, gähnen und schlafen. Wenn Ana einen neuen Liebhaber hat, bekommt es die ganze Welt mit und spätestens am nächsten Tag ist die Liaison Gesprächsthema der Online-Gemeinde. Anas Kommentar: "Voyeure sind wir doch alle, und ich selbst bin eben zudem noch Exhibitionistin."

 

 

Über sämtlichen Ausdrucksformen der Inszenierung sozialer Geltung, die wir nur kurz angedeutet haben, steht die allgemein geteilte Feststellung, daß Selbstdarstellungen in der Gesellschaft mit einer ungeheuren Dominanz und Vitalität hervorgetreten sind. "Wer hip ist", so Peter Petermann, strategischer Planer der Hamburger Werbeagentur DMB&B, "der will die Selbstinszenierung nicht nur spielen, er will sie leben!"

Was wir bisher zu diesem Thema ausgeführt haben, erinnert an die Botschaft eines Exponats im Rahmen der Ausstellung "Multiple Identity. Amerikanische Kunst 1975-1995 aus dem Whitney- Museum" in Bonn (August/ September 1997).

 

Der Künstler Charles Ray hat sich selbst in Gestalt eines Glasfasermodells in eine Glasflasche gesetzt. Der Mensch macht sich selbst zum Mittelpunkt völliger Transparenz, offeriert sich als Ausstellungsobjekt.

 

Charles Ray hat sich in Gestalt eines Glasfasermodells in eine Flasche projiziert. Repros: Katalog "Multiple Identity" RP v. 14.06.97.

Dazu gehört auch die bedrückende Erfahrung, daß es aus dem Imperativ zur Selbstdarstellung kein Entrinnen gibt: Die Glasflasche ist mit einem Korken verschlossen. Was zunächst gerne als Drang zur Selbstentäußerung zugelassen, liebevoll gepflegt und perfektioniert wird, wird schließlich zur dauerhaften, unvermeidlichen Pflicht.

Die Existenz ist unentrinnbar eingeschlossen in ein gläsernes Gefäß, verurteilt zur Darstellung sozialer Geltung.

Nachdem wir auf phänomenlogischer Ebene einige Ausdrucksformen der Inszenierung sozialer Geltung von Personen angedeutet haben, wollen wir nun zwei im Jahre 1997 und 1998 sehr populär gewordene Beispiele der Inszenierung sozialer Geltung genauer untersuchen, um sie gleichsam exemplarisch in den systemtheoretischen Begriffsrahmen einordnen zu können. Wir beschäftigen uns mit der Love-Parade in Berlin und mit den Ereignissen, die der Schlagersänger Guildo Horn ausgelöst hat. In beiden Fällen, so unsere Behauptung, begegnet uns ein jeweils aktuelles Programm des Darstellungssystems; das eine ist institutionalisiert, das andere (inzwischen) verschlissen. Zunächst zur Love-Parade:

Anfang der 90er Jahre dominierten in den Feuilletons die vorwiegend kulturkritischen und kulturpessimistischen Bewertungen, die die Love Parade als "stumpfes Partysanentum" und inhaltsleeren Seufzer der bedrängten Kultur abqualifizierten. Man warf, wie Uwe Schmitt resümierend feststellt, "mit giftigen Pfeilen höherer Bildung auf eine Dartscheibe, deren Zentrum leer war und nicht leer sein durfte."

Im Jahre 1996 und erst recht nach der Mega-Party mit ca. 1 Millionen Teilnehmern im Jahre 1997 ist ein deutlicher Wandel in der Bewertung dieser Veranstaltung eingetreten. Statt der Versuche, die "rätselhafte Magie" der Party mit Hilfe von Zivilisationsdeutern und Massenpsychologen zu entschlüsseln, ist in durchgängig allen Medien der Anspruch viel bescheidener ausgefallen, nämlich die Love Parade schlicht als das zu nehmen, was sie sein will: eine Bewegung, die nirgends hinwill, sondern auf der Stelle tritt (tanzt) und damit lediglich die kollektive Demonstration einer einzigen Botschaft zu sein beansprucht: "Seht’ her, ich bin schön", oder: "Wie man sich selbst das Liebste ein kann" (Kommentator des WDR-Fernsehens am 12.7.97).

Auf dem Symposium "Events - Produktion und Konstruktion von jugendkulturellen Erlebniswelten" am 20./ 30.4.1998 in Dortmund wurde die Love-Parade genauer unter die Lupe genommen. Eine Fülle von Forschungsbeiträgen belegt in unterschiedlicher Pointierung, daß die Inszenierung kollektiver Selbstdarstellung ins Zentrum dieser Massenveranstaltung gerückt ist. Die Love Parade ist, wie Ralf Regitz (Planetcom Berlin) ausführt, "ein Forum für den Ausdruck der Leute und zwar nach dem Grundsatz: ‘hier darf ich es sein’." In einem ungehemmten Spiel mit inszenierten Aktionismen, mit bunten Collagen von Stilen, Accessoires und Marken, in denen ästhetische Widersprüche und Disharmonien regelrecht zelebriert werden, artikuliert sich Selbstdarstellung als expressives Lebensgefühl. "Im Mittelpunkt", so Michael Corsten, steht "die Bühne – als Frontage, auf der das nach außen hin Sichtbare, das Explizite, die Performance geschieht – there the action is." Die Dramaturgie dieses Events zielt in erster Linie auf den Körper: Seine Betonung und Aufwertung (Arne Melzer spricht von der "Wiederaneignung der Körper") gipfelt in ekstatischen Tanzerfahrungen. Im Wechselspiel zwischen Sehen und Gesehenwerden geht es nicht allein um die schauspielreife Präsentation des eigenen gutaussehenden und gestylten Körpers, sondern zugleich um eine große Bandbreite von Ausdrucksmitteln zur Darstellung von Träumen, von Spaß, Lebensfreude, Energie, Emotion und Identität. Viele Beobachter der Love-Parade, so Mark Siemons in seinem Kommentar, "bewundern gerade das Illiterate, das Nichtdiskursive der Bewegung; ihnen flößt das Ekstatische, das Augenblickshafte, das Dionysische einen gewissermaßen höllischen Respekt ein." Der in der Szene bekannte Text "Glückloser Engel II" vermag eine anschauliche Beschreibung der Gefühlswelt der Raver zu vermitteln. "Der einzelne", so heißt es dort, "hat sich verabschiedet von der Idee des Angelus Novus, daß das Glück mit dem Messias erscheinen könnte, von der Idee, daß Glück in der Hand der Unglücklichen läge, vom Glück als Idee überhaupt. Er will sich das ganz Andere nicht mehr ausmalen, sich kein Bild von ihm machen. Daher verbündet er sich mit dem partiell Anderen. Er hebt die Füße, schlägt ein wenig mit den Flügeln, flattert, noch etwas ungeschickt. Und tanzt, er selber, denn die versteinerten Verhältnisse sind robuster, steinerner als gedacht; sie lassen sich nicht durch Vorspielen ihrer eigenen Melodie zum Tanzen bringen. Tanzend gewinnt er Haltung, ausweichend, vor- und zurückwankend, balancierend auf den Trümmern und in den hinterlassenen Steinwüsten ausgeträumter Träume und gescheiterter Glücksversprechen. Er tanzt, wach träumend, als Gespenst – seines Selbst. ‘Gespenster schlafen nicht. Ihre bevorzugte Nahrung sind unsere Träume’. Jeder wird sein eigener Messias; Utopie in treuhandverwalteten Tanzhallen privatisiert." Wenngleich die Motive der einzelnen Teilnehmer der Love Parade unterschiedlich und individuell sein mögen, so ist es doch nicht das Individuum, das da tanzt, sondern es ist die große Einheit der pumpenden Menge.

Wir geben Mark Siemons recht, wenn er feststellt, die "Raving Society" definiere sich nicht in Differenz gegenüber anderen, ihr Selbstverständnis artikuliere sich vielmehr durch den puren Mainstream, für den nur Übereinstimmung gelte. Das, so Mark Siemons, "ist das Prinzip der Inklusion, der Einbeziehung aller, aber die Codes funktionieren wie bei jeder Kultur in Wirklichkeit exklusiv." Wir sehen an dieser Stelle, wie die phänomenologischen Beschreibungsversuche von Ereignissen und Weltsachverhalten gleichsam aus sich selbst heraus zu einer systemtheoretischen Deutung und Begriffsbildung überleiten.

Um die Love-Parade in den systemtheoretischen Kontext einordnen zu können, müssen wir nun die Perspektive wechseln. Nicht mehr von den Gefühlslagen, Intentionen und Zielen der Individuen ist zu reden, sondern von der Gesellschaft. Mit der Love-Parade stellt die Gesellschaft in szenentypischer Situationsrahmung Schemata und Skripts bereit, die der Darstellung sozialer Geltung von Personen dienlich sind. Wir verstehen diese Massenveranstaltung als explizites Darstellungssystem im Darstellungssystem. Der Code ‘Teilnahme an der Love-Parade/ Nichtteilnahme‘ markiert unter dem allgemeinen Code ‘soziale Geltung inszenierend/ nicht inszenierend’ ein spezifisches Programmprofil, das von der Gesellschaft explizit angeboten wird – sogar einschließlich institutionalisierter Strukturen ("Love-Parade Berlin GmbH"). Die Love-Parade steuert damit eine spezifische Ausgestaltung personaler Inszenierungsleistung und wird dabei, wie oben erwähnt, ständig mit anwachsender Komplexität, Veränderung, Zerfall und Neuformierung aufgeladen – bis sich das Programm aufgrund inflationärer Tendenzen irgendwann verschleißt.

Die Metapher des "Spiels" bzw. "Zeichenspiels", die Michael Hutter auf der Duisburger Luhmann-Tagung im Oktober 1998 eingebracht hat ("Bodenlose Spiele") ist in unserem Zusammenhang sehr hilfreich. Schon vom alltäglichen Sprachgebrauch her kann man sehr schnell akzeptieren, daß es sich beim Ereignis der Love-Parade um ein Spiel handelt, das sich eindeutig von seiner Umwelt abgesetzt hat. Bei diesem Ereignis erahnt man nicht nur, sondern man spürt unmittelbar ein irgendwie harmonisches Zusammenspiel vieler Elemente. In systemtheoretischer Sprache heißt das: Die Kommunikation unter dem Medium ‘soziale Geltung’ erlangt im Zeichenspiel der Love-Parade eine konkrete, sequentielle Verbindlichkeit, an der die Bewußtseine vorübergehend ‚kleben‘, bis sie schließlich auf andere Spiele abwandern – Ist das Spiel vorbei, beginnt ein neues (vgl. ANHANG 5).

Mit Nachdruck müssen wir jetzt allerdings herausstellen, daß es diese Spiele nicht nur im Nacheinander gibt, sondern daß sie sich gleichzeitig ereignen. D.h. parallel zur Love-Parade gibt es andere Programme. Sie kommen dadurch zustande, daß das Darstellungssystem auf andere Ereignisse in der Umwelt (wie z.B. der Medien) ebenso empfindlich reagieren kann, Selektionen vornehmen und seine Struktur verändern kann.

Unser zweites Beispiel:

Eines der maßgebenden Programme des Darstellungssystems wurde im Jahre 1998 mit Guildo Horn bereitgestellt (vgl. ANHANG 6). Als provinzieller Schlagersänger führte er anfangs ein Schattendasein in bürgerlichen Tanzlokalen. Als er schließlich mit strategischer Unterstützung des WDR-Senders "Eins Live" zum deutschen Vertreter für den "Grand Prix Eurovision de la Chanson" in Birmingham gewählt wurde, drangen seine Markenzeichen in die Aufmerksamkeit der Medien: fettige lange Haare, Auftritt im weißen Rüschenhemd oder mit schweißtriefendem nackten Oberkörper, Vorliebe für Nußecken (gemäß dem Hausrezept seiner Mutter) und Himbeereis, unkonventionelle Verhaltensmuster auf der Bühne (Aktionen wie auf dem Klettergerüst), sein Titel (seine Fans nannten ihn "Den Meister") und schließlich sein Schlagertitel "Piep, piep, piep, Guildo hat euch lieb!." Alles weitere nahm den stereotypen Verlauf, der uns bereits in anderen Zusammenhängen begegnet ist (vgl. "Brent Spar", S.70f.): Plötzlich, wie aus heiterem Himmel, brachten diese Markenzeichen eine enorme Dichte gesellschaftlicher Kommunikation hervor: Guildo als T-Shirt und Guildo als Knautschpuppe fanden reißenden Absatz, Nachrichtenagenturen verbreiteten das Originalrezept für Nußecken, private Guildo-Partys als Mega-Trend, Guildo als zentraler Inhalt der ARD-Sendung "Wort zum Sonntag" (am 9.5.98), über 30000 Fans auf "Guildo-Großveranstaltungen" wie z.B. in Trier. Der Titel des Schlagers wurde in Anzeigen von Modehäusern aufgegriffen, am Tag des Schlagerwettbewerbs in Birmingham waren laut Zeitungsberichten nahezu alle Nußecken in deutschen Bäckereien ausverkauft, bis in die Sprache hinein hat sich das Guildo-Fieber vorangefressen: Wenn Laptop oder Mobiltelefon aufgrund der fast entladenen Akkus warnend "piep, piep, piep" hervorbrachten, zwinkerte man sich bundesweit belustigt zu und reimte: .".. ich hab dich lieb!" Showmaster Alfred Biolek backte in seiner ARD-Sendung "Alfredissimo" Nußecken mit Guildo Horn und selbst die Politik griff auf ihn zurück: In seiner Analyse der Niedersachsenwahl 1998 bzw. der Wahl Gerhard Schröders zum Kanzlerkandidaten der SPD, stellte Guido Westerwelle (FDP) schon fast resignierend fest, im hintergründigen Mechanismus dieser Wahl zeige sich das Phänomen Guildo Horn. "Wir sind keine Zwillinge", sagte Kanzlerkandidat Gerhard Schröder zuvor auf dem SPD-Parteitag mit Blick auf Guildo Horn, "aber wir sind schon ein verdammt gutes Team." Am Tag der Endausscheidung in Birmingham (mit weltweit mehr als 100 Millionen Zuschauern) stieg die Zuschauerzahl in Deutschland gegenüber dem Vorjahr aufgrund des Guildo-Fiebers deutlich an (von 4,7 Mio. im Jahre 1997 auf 12,6 Mio. im Jahre 1998). "Nicht auszudenken", so der Horn-Manager Johannes Kram, "wenn wir den Wettbewerb auch noch gewonnen hätten. Der Irrsinn wäre endlos geworden."

Deutungsversuche fanden sich in allen Zeitungen. "Duisenberg, Trichet, Kohl, Chirac, Schrempp, Eaton – recht wichtig", so urteilt Michael Fritzen (FAZ), "aber Peanuts gegen Guildo. Guildo übertönt, übertrifft, überwältigt, ja übermannt alle und alles. Guildo, Guildo, nichts als Guildo. Wie konnte es dazu kommen?"

Der Mechanismus, wie ein solcher Prozeß zustandekommt, ist im Kontext systemtheoretischen Denkens leicht und anschaulich nachvollziehen, wir sind bereits oben auf diesen Zusammenhang eingegangen und wollen uns hier darauf beschränken, das eingeführte Beispiel in den systemtheoretischen Begriffsrahmen einzuordnen: Die Verkettung der exklusiv Guildo-spezifischen Kommunikation bewirkte eine soziale Ordnungs- und Generalisierungsleistung. Es entstand, dies kann man unschwer erkennen, die Geschlossenheit eines eigenständigen autopoietischen Reproduktionszusammenhangs, der sich von seiner Umwelt (der anderen Kommunikation) abgegrenzt hat. Es wurden konturscharfe ‘Skripts’ zur Verfügung gestellt, die sich gleichsam zu einer gesellschaftlichen ‘Hülse’ für die Darstellung sozialer Geltung von Personen verdichtet haben. Zur Spezifierung der Leitdifferenz "soziale Geltung inszenierend/ nicht inszenierend" wird mit der Differenz "Guildo-Fan/ Kein Guildo-Fan" also ein Programm eingeführt, das sich auf den Leitcode des Darstellungssystems bezieht. Die diesem Programm entlangaufende Kommunikation bildet für die Bewußtseine das Material für strukturelle Kopplungen, in denen individuelle Selektionen verwirklicht werden und die Zurechnung auf Personen vollzogen wird. Unter dem für das Jahr 1998 aktuellen Programm "Guildo" erscheint die Gesellschaft in partieller Hinsicht als eine sich (über Personen) selbst inszenierende Gesellschaft. D.h. mit Guildo bot die Gesellschaft Schemata des konformen bzw. abweichenden Verhaltens an, durch die Individualität (im Paradox) inszeniert werden konnte. Wir können hier auf das zurückgreifen, was Luhmann zur Person des Helden ausführt: Auf der Ebene der Gesellschaft (nicht des Einzelbewußtseins) angeordnet, produziert er Konformität (d.h. Nachahmungswillen) durch Abweichung. Der Held ist also innerhalb des Schemas von Konformität und Abweichung im logischen Sinne ein Paradox und er braucht diese Paradoxie noch nicht einmal zu verbergen, um handeln zu können. "Im Gegenteil", so Luhmann in seinem Aufsatz ‘Die Autopoiesis des Bewußtseins’, "er macht sie im Raum des Öffentlichen sichtbar."

Im Zusammenhang mit der Love-Parade und Guildo Horn begegnet uns der Sachverhalt, daß Abweichung stärker individualisiert als Konformität; denn das konforme Verhalten läuft quasi mühelos mit der Erwartung mit, während das Abweichen gegen die Normalerwartung durchgesetzt werden muß. Denn immerhin wird die Love-Parade im Urteil der allgemeinen Betrachtung "als größter Tobsuchtsanfall der Welt" (FAZ v. 14.7.97) gesehen und Guildo galt allgemein als der "schmierigste Vertreter der Schlagerbranche" (FAZ v. 9.5.98). Daß nach einigen Monaten von Guildo nicht mehr gesprochen wurde, belegt den schnellen Verschleiß der Programme. Sie erleben, wie in unserem gewählten Beispiel, eine steile gesellschaftliche Karriere und fallen schließlich in sich zusammen, weil ihr Profilierungswert verbraucht ist und die gesellschaftliche Kommunikation auf andere Felder abgewandert ist. Wir kommen im letzten Abschnitt dieses Kapitels noch ausführlich auf diesen Punkt zurück.

Im Zusammenhang mit den o.g. Programmen wurde einiges zur Erklärung der enorm angewachsenen Kommunikationsdichte bzw. der hohen Ausdifferenzierung des Darstellungssystems ausgeführt. Eine der zentralen Ursachen hierfür sehen wir vor allem darin, daß das Darstellungssystem in ‘ungebändigter Energie’ und in mittlerweile hochprofessionalisierter Form Reflexionsbeobachtungen seines eigenen Gegenstandes entwickelt hat. In einer inzwischen unübersehbaren Fülle von Artikeln, Sendungen und Ratgebern werden die Kontingenzen des Darstellungssystems beobachtet, und dies wiederum wird von anderen beobachtet, kritisiert und kommentiert, so daß der Eindruck erzeugt wird, alles könnte genausogut ganz anders sein. Hier zeigt sich die prozessuale Reflexivität des Darstellungssystems, in der ein hohes Problematisierungspotential in bezug auf den eigenen Gegenstand, eine hohe Sensibilität im Verhältnis zu Varianten erkennbar wird. Es versteht sich von selbst, daß durch diesen Mechanismus prozessualer Reflexivität die Irritierbarkeit des Darstellungssystems im Hinblick auf strukturelle Kopplungen verfeinert oder ‘filigraner’ gestaltet wird. Die Binnenstruktur des Systems wird dadurch gewaltig ausgedehnt.

3. Die autopoietische Eigensteuerung des Darstellungssystems

Wenn im vorangegangenen Abschnitt viel von "Akteuren" die Rede war, d.h. von der Art und Weise, wie diese soziale Geltung inszenieren, so müssen diese auf phänomenlogischer Ebene recht leichtfertig getroffenen Feststellungen nun in den systemtheoretischen Begriffsrahmen eingeordnet werden, um gravierende Mißverständnisse zu vermeiden. In Anknüpfung an Kapitel II, 1 beginnen wir mit der Feststellung, daß Menschen mit dem Darstellungssystem insofern etwas zu tun haben, als durch den menschlichen Organismus Bewußtseinsleistungen ermöglicht werden. Bewußtseine treten auf, weil die Autopoiesis des Systems auf strukturelle Kopplungen mit den Bewußtseinen angewiesen ist und nur dadurch überleben kann. Wir haben bereits in anderem Zusammenhang gesehen, daß die Leistungen der Bewußtseine in keinster Weise zu relativieren sind. Die Beiträge der Bewußtseine werden erkennbar an der Individualität der Selektionen. Individualität kommt im Darstellungssystem nicht nur vor, sondern umgekehrt lebt das System erst von hochindividuellen Selektionen, von deren Überalterung und Neukonstitution. Wir müssen hier auf das verweisen, was wir bereits oben zur Thematik der Individualität ausgeführt haben und wollen an dieser Stelle nur ergänzend hinzufügen, daß Individualität auch ablesbar ist an den verschiedenen Darstellungskarrieren. Hier zeigt sich Individualität nicht auf der Ebene eines System- Umweltverhältnisses wie im Zusammenhang mit Ansprüchen und Erwartungen, sondern auf der Ebene der Zeit. Als nahezu voraussetzungslos beginnender, sich selbst ermöglichender Verlauf, dient die Darstellungskarriere der Artikulation von Individualität in der Zeit. Wenn Luhmann feststellt, der Universalität des Karrieresyndroms entspreche die dazu quergestellte Differenz von Leistung und Leistungsverweigerung, dann muß mit Blick auf das Darstellungssystem ergänzt werden, daß selbst die Leistungsverweigerung im Hinblick auf die Herstellung sozialer Geltung, anders gesagt: die Verweigerung der ‘eigenprofilierten’ Selbstselektion für eine Darstellungskarriere immer noch Karriere ist. Auch diese Option folgt der Struktur, auch sie definiert, wie Luhmann in einem anderen Zusammenhang ausführt, die karrieremäßige Opportunität, legt quasi Individualgeschichte im Unsicheren und Zufälligen fest.

Es ist leicht zu erkennen, daß die Unterschiedlichkeit individueller Selektionen allein nicht ausreichend ist. Die unter dem Medium ‘soziale Geltung’ und den spezifischen Programmen autopoietisch reproduzierte Kommunikation muß sich selbst die Bedingungen dafür schaffen, daß Individualität im sozialen Kontext ‘greifbar’ werden kann. Aus diesem Grunde sprechen wir im Zusammenhang mit dem Darstellungssystem von "Personen." Sie kommen vor, weil die Kommunikation auf (interne) Zurechnungsstellen zurückgreifen muß, anders gesagt: weil Anschlüsse für Kommunikation lokalisiert werden müssen. Der Kommunikationsprozeß des Darstellungssystems ist also in der Lage "Referenzen zu personifizieren." Wenn wir im Zusammenhang mit dem Darstellungssystem die Rolle von Personen hervorheben, dann liegen wir ganz auf der Linie Luhmanns. Er sieht Personen auf der Folie einer "Sozialkosmetik der Selbstdarstellung." Die Form ‘Person’, so Luhmann, "überformt das psychische System durch eine weitere Unterscheidung, eben die des eingeschränkten und des dadurch ausgegrenzten Verhaltensrepertoires. Psychisch kann man beide Seiten dieser Unterscheidung sehen und das persontreue Verbleiben auf der einen Seite ebenso wie das Kreuzen der Grenze genießen." Hier sieht man die innere Distanz zwischen Bewußtsein und Person. Das Bewußtsein stellt fest, daß seine Impulse in verschiedenen kommunikativen Bezügen jeweils unterschiedlichen Personen zugerechnet werden. Alle diese Personen sind ‘Zurechnungsstellen’ für das eine Bewußtsein.

Unter der Voraussetzung, daß die oben angeführten begrifflichen Unterscheidungen auseinandergehalten werden, können wir entsprechend der Theorie Luhmanns davon ausgehen, daß Subjekte im Zusammenhang mit dem Darstellungssystem auftreten, und zwar insofern, als im Darstellungssystem überhaupt Fälle von Inklusion gegeben sind. Individualität wird durch den Mechanismus der Inklusion kommunikativ relevant, nämlich als Person. Wir sprechen von einem Subjekt, wenn die Chance der sozialen Berücksichtigung einer Person vorliegt. Dies gilt allerdings nur unter der Voraussetzung – und darauf kommt es beim hier gegebenen Subjektbegriff an, daß die Existenz nichtintegrierbarer Personen gegeben ist. D.h., durch den Mechanismus der Exklusion kann eine kommunikative Relevanz erst gar nicht entstehen. Und daß Exklusion, sozusagen als "unbeleuchtet mitgeführte Gegenstruktur zur Inklusion" im Darstellungssystem gegeben ist, können wir leicht daran erkennen, daß die Selektionen entsprechend hochspezifischer Programme (z.B. gepirct/ nicht gepirct) von einigen Personen realisiert werden (die dann Subjekt sind) und von anderen nicht. Wenn wir also sagen, auf der Love-Parade, als Darstellungssystem im Darstellungssystem, kommen Subjekte vor, dann gilt das nur insoweit, als die Akteure unter den hier maßgebenden Programmen eine aktuell beobachtbare Rolle spielen. Diese Akteure sind im Medium anderer Systeme (z.B. des Wissenschaftssystems) keine Subjekte, können es aber werden. Im System der Wirtschaft sind sie erst dann Subjekte, wenn sie sich z.B. auf der Love-Parade eine neue BLUNA bestellen und auch bezahlen.

Das bisher Gesagte ist vom Standpunkt des systemtheoretischen Denkens unseres Erachtens zugleich das Äußerste, das im Hinblick auf Subjekte gesagt werden kann. Wenn Subjekte im oben geschilderten Sinne mit dem Darstellungssystem zu tun haben, so vermögen sie in diesem System nichts auszurichten. Entwickeln wir die Begründung dieser Aussage Schritt für Schritt.

Wenn das Sinnkriterium in Form des Mediums und des dazugehörigen Codes dazu dient, die Grenze des Darstellungssystems zu definieren, dann ist damit natürlich nicht der Eigensinn einzelner handelnder Individuen gemeint. Oben wurde bereits davon gesprochen, daß es im System nicht um die Artikulation der Intentionen, der Zwecke, Motive oder Interessen von Subjekten geht. Wenn wir den Code ‘soziale Geltung inszenierend/ nicht inszenierend’ zugrundegelegt haben, dann werden damit keine Selektionsprozesse im Bewußtsein des Menschen markiert. D.h. unabhängig davon, was einzelne Bewußtseine dabei denken mögen, wird die Selektion der Verknüpfungen durch die Kommunikation (und nur durch sie) vollzogen. Es kommt uns darauf an herauszustellen, daß sich die autonome und eigendynamische Gesetzmäßigkeit eines hochkomplexen Darstellungssystems nicht auf die Logik und Rationalität handelnder Individuen reduzieren läßt, sondern sich weitgehend davon unabhängig gemacht hat. Auch wenn zugestanden wird, daß die selbstreferentielle Geschlossenheit unseres Systems immer zugleich auf die Möglichkeiten und Grenzen seiner Umweltbeziehungen verwiesen ist, so ist es doch das Darstellungssystem selbst, das die Steuerungsfähigkeit entfaltet. Es ist die Spezialsprache des Kommunikationsmediums ‘soziale Geltung’, so können wir mit Helmut Willke feststellen, die dem Darstellungssystem "seine Syntax und Semantik aufprägt (...) und durch hochorganisierte Selektivität von Verknüpfungen spezifische Steuerungswirkungen entfaltet." So können die aus verschiedenen Subsystemen heraus entwickelten Imperative ganz unterschiedliche Kommunikationen in Gang setzen: So rankt sich die Inszenierung sozialer Geltung z.B. um das aktuell dominierende Programm Guildo Horn. Gleichzeitig dreht sich die mediengesteuerte Kommunikation in anderen Kontexten z.B. um die Rolle des Demonstranten und in wieder anderen kommunikativen Bezügen dreht sich alles um die verschiedenen Varianten des Body-painting (vgl. Anhang 8). Wir sehen hier, daß nicht etwa einzelne Akteure, sondern das Darstellungssystem selbst entsprechend seiner dynamisch ausgebildeten Programmprofile den Personen konkrete soziale Plätze zuweisen kann, in deren Rahmen sie erwartungskomplementär handeln können.

Wenn biologisch und psychologisch greifbare Individuen mit dem Darstellungssystem im o.g. Sinne etwas zu tun haben, so muß klar sein, daß sie nichts steuern. Vielmehr koordiniert die systembezogene Kommunikation deren Verhalten. Die im System operierenden Beobachter werden durch die spezifischen Gesetzmäßigkeiten des Systems unermüdlich in Bewegung gehalten und weitergetrieben. In Anknüpfung an Helmut Willke können wir jetzt zugespitzter sagen, daß die spezifische Rationalität des Darstellungssystem nur erreichbar ist, wenn es von den Zufällen und Schwankungen der Vernunft der Akteure verläßlich abgeschirmt wird. Das Darstellungssystem schafft sich selbst aus der Fülle der Akteure jenen Geltungsakteur, der den Funktionsbedingungen sozialer Inszenierungsleistung angepaßt ist. Und genau dies können wir in der Realität beobachten: Die Gesetze und Mechanismen der Darstellung sozialer Geltung sind als ‘Gehäuse’ harter Logik vorgegeben. Innerhalb dessen muß in einem Meer überschäumender und hochspezifischer Selektionen die Transparenz selbst erarbeitet werden; so soll es z.B. einige gegeben haben, die von Guildo Horn nichts gehört hatten. Und sofern wir doch etwas von ihm gehört hatten, blieb uns im Hinblick auf das bereits etablierte Programm zwangsläufig nur der ‚Einstieg‘ in die Thematik oder die Wahlverweigerung. Damit trugen alle dazu bei, vorgegebene Strukturen zu verfestigen und damit die Autopoiesis des Systems insgesamt fortzusetzen. Denn bei dem Programm des Darstellungssystems geht es nicht darum, Guildo-Fan sein zu müsen, vielmehr wird mit dem Programm nur angezeigt, daß sich die Kommunikation generell auch um die Frage drehen kann, ob man Guildo-Fan werden soll bzw. warum man es nicht werden will. Entweder waren wir für Guildo oder gegen ihn, und sofern wir gegen ihn waren, waren wir rechtfertigungspflichtig, denn das Darstellungssystem hatte sich entschieden: Die totale Inklusion war angesagt! Die Inklusionsbedingungen werden also immer vom Darstellungssystem selbst festgelegt, d.h. als eine "Form sozialer Ordnung spezifiziert" und die Bewußtseine müssen sich diesen vorfindbaren Bedingungen fügen.

Es ist sehr hilfreich, wenn wir Luhmanns Ausführungen zum Begriff der Interaktion auf unser Darstellungssystem übertragen. Bezogen auf das zugrundeliegende Medium ‘soziale Geltung’ ist das Darstellungssystem Resultat von Interaktionen und die Gesamtheit der Interaktionen bildet das ‘Spielmaterial’ für systemtische Evolution. Die Regeln des Spiels sind jedoch Regeln des Darstellungssystems und nicht der Interaktion. D.h. "das System ist, obwohl weitgehend aus Interaktion bestehend, für Interaktion unzugänglich geworden." Ein treffendes Beispiel für diesen Zusammenhang hat unlängst der Konsum-Tempel Centro-Oberhausen geliefert: Mit einer nahezu perfekten Marketing-Strategie wurde der enorme Drang nach Inszenierung sozialer Geltung für die Zweckrichtung des Hauses instrumentalisiert. Mit der Aktion "Mensch oder Puppe? Schaufensterpuppen-Wettbewerb am 12.09.98" wurden am besagten Tag 500 Menschen als Schaufensterpuppen in den Geschäften präsentiert. Die Vorauswahl-Wettbewerbe, die einige Wochen vor dem Termin stattfanden, erwiesen sich als starker Publikumsmagnet. "Wir suchen keine Models", so lautet die Aktionsbeschreibung, "sondern Menschen wie ‘Dich und mich’ , die Spaß daran haben, sich einen Tag lang als Schaufensterpuppe auszugeben. Eine davon können Sie sein. Sie können auch als ganze Familie oder als Pärchen antreten (...). Wie Sie sich als Schaufensterpuppe präsentieren, ob durchaus lebendig oder regungslos, bleibt Ihnen, in Abstimmung mit den Geschäftsinhabern, überlassen" (vgl. Anhang 7). Die Resonanz der Aktion war unglaublich. Hunderte interessierte ‘Freiwillige’ belagerten die Anmelde-Stände und die peinliche Verlegenheit und Hilflosigkeit, die die Kandidaten den Moderatoren entgegenbrachten, taten der Bereitschaft zum Mitmachen keinen Abbruch. Der einzelne, der sich inszenieren wollte, fand sich sehr schnell mit der Konfektionslinie ‘seines’ jeweiligen Fachgeschäftes konfrontiert. Die Darstellung sozialer Geltung von Personen zeigte sich also in den harten Gesetzmäßigkeiten des Marktes. D.h. auf die Inszenierungsleistung des einzelnen kam es nicht an. Es ging nur darum, die systemische Logik der Marketingstrategie, in welcher Form auch immer, lebendig zu halten und darin fester zuzuschnüren. Wir fühlen uns an die Thematik Adornos erinnert: Die Unterjochung autonomer Individualität durch die abstrakten Funktionszusammenhänge gesellschaftlicher Totalität. Die Individuen, so Adorno in seinem Werk "Negative Dialektik", dürfen nicht wahrhaft identisch mit sich selbst sein, weil sich das gesellschaftliche Ganze rücksichtslos über sie hinwegformiert und zur ständigen Adaption zwingt.

Mit illusionslosem Lächeln begegnet Luhmann all jenen, die dazu aufrufen, im Namen humanistischer oder sonstiger Motive gegen den verselbständigten Steuerungsmechanismus systemischer Gesetzmäßigkeiten anzurennen. Auch wenn in den vorangegangenen Kapiteln deutlich geworden ist, daß Luhmann in systemtheoretisch-eigenwilliger Weise die unverkürzte Autonomie und Individualität der Einzelbewußtseine zur Geltung bringen kann, so müssen wie andererseits Stefan Breuer zustimmen, wenn er feststellt, daß die Systemtheorie mit der totalen Vergesellschaftung des Individuums einen entscheidenden Argumentationsstrang der Kritischen Theorie (auch auf ‘eigenwillige’ Weise) bestätigt hat.

Was wir in diesem Kapitel versucht haben zu beschreiben, kommt recht anschaulich in der Videoinstallation "Thoughts" des Künstlers York dem Knöfel zum Ausdruck:

Im Mittelpunkt steht eine Videowand, auf der sich 48 Monitorfenster öffnen.

Man erkennt auf jedem Bildschirm einzelne Frauen und Männer, Menschen nahezu jeden Alters und unterschiedlicher Hautfarbe, die (mal eine Minute, mal mehr als eine Stunde) über persönliche Angelegenheiten reden. Mit Blick auf die oben durchgeführte Argumentation ist nun entscheidend, daß dem Betrachter ein vielstimmiger Chor entgegenschlägt, in dem sich einzelne Stimmen nicht mehr unterscheiden lassen. "Was zu hören ist", so Thomas Wagner in seiner Rezension dieses Werkes, "bleibt Geräusch" (erst wer sich einen Kopfhörer aufsetzt, kann der Erklärung einer einzelnen Person folgen). Die Differenzen verschwimmen, die Stimmen verschmelzen zu einem großen Chor, dessen gemeinsame Stimme sich kakophonisch erhebt. Der Blick springt von einem Gesicht zum nächsten, ohne sich einzulassen, ohne eine Beziehung knüpfen zu können. D.h. auf der einen Seite gibt sich jede Person (sie stammen alle aus New York City) in einer Selbstinszenierung zu erkennen, und zwar gewissermaßen als Maske in einem Drama eitler Selbstproduktion. Auf der anderen Seite, und das ist der hier dominante und bestimmende Effekt, ist der einzelne in einem nicht identifizierbaren Massengeräusch verschwunden. Die Videowand insgesamt diktiert die Gesetzmäßigkeit der Wahrnehmung: Der einzelne ist im Stimmengewirr nicht identifizierbar und damit bedeutungslos.

4. Evolution und Geschwindigkeit als Momente dynamischer Entwicklung des Darstellungssystems

Im Anschluß an die im Abschnitt V.2 vorgenommenen Betrachtungen zur expansiven Programmatik des Darstellungssystems behaupten wir: Ein Spezifikum dieses Systems besteht darin, daß seine Programme in zunehmend schneller werdende Abfolge gegeneinander ausgetauscht werden. Hier zählt nicht Konstanz oder Kontinuität, sondern das Neue, Abwechslung und Überraschung. Wir wollen diesen Sachverhalt nun belegen und im Rahmen der Systemtheorie erklären. Dazu werden wir in einem ersten Schritt die innere Struktur des Luhmannschen Begriffs der Evolution erläutern und diesen Begriff in einem zweiten Schritt auf das Darstellungssystem anzuwenden versuchen.

Im herkömmlichen Sprachgebrauch bezeichnet der Begriff der Evolution Veränderungen im Rahmen von Prozessen, die als linear ablaufende Geschehensfolge gedacht werden. So liegt es z.B. nahe, die Geschichte als immerwährend fortschreitenden Prozeß in Epochen einzuteilen, Periodisierungen vorzunehmen, Phasenmodelle und Prozeßtheorien zu entwickeln. Genau diese Vorstellung liegt dem systemtheoretisch gefaßten Evolutionsbegriff nicht zugrunde. Statt dessen geht es hierbei – zunächst einmal ganz einfach gesagt – darum, mit Hilfe dieses Begriffs Strukturveränderungen zu erklären, d.h. z.B. die Frage zu klären, wie es möglich ist, daß komplexere Systeme entstehen und woran sie eventuell scheitern. Welches Zeitverständnis liegt diesem Geschehen zugrunde? Evolution, so Luhmann, "abstrahiert zunächst von Zeit, obwohl sie andererseits in der Zeit stattfindet." D.h. die Zeit, in der die hier unterstellten strukturellen Neuerungen stattfinden, wird nicht prozeßhaft-linear gedacht, sondern "nimmt die Form einer historisch einmaligen Gegenwart an, in der eine Kombination von Gelegenheiten und Beschränkungen verfügbar ist." Sehen wir uns diesen Mechanismus der Kombination von Gelegenheiten und Beschränkungen sowie das damit verbundene Zeitverständnis etwas genauer an. Luhmann erklärt die Strukturänderungen durch die Differenz von Variation und Selektion. Einfach gesagt: Es ändert sich etwas und diese Änderung erzwingt jetzt eine Entscheidung darüber, wie es weitergehen soll. Wenn jetzt diese Entscheidung getroffen worden ist, d.h. eine Selektion erfolgt ist, dann blicken wir automatisch auf einen neu konstituierten ‘Zustand’, der wiederum in zwei Varianten ausfallen kann: Entweder hat die Selektion die bereits vorab bestehende Struktur positiv bestätigt, d.h. die Komplexität der vorhandenen Struktur plausibel bereichert und verdichtet, oder sie wurde abgelehnt, so daß sich die bisher tradierte Struktur gleichsam gegenüber sich selbst legitimieren, d.h. neu absichern und ordnen muß. In beiden Fällen erzwingt also die Selektion eine so oder so angelegte Restabilisierung des Systems.

Wenn Luhmann von Evolution spricht, dann spricht er also von drei Differenzen, nämlich von Variation, Selektion und Restabilisierung und deren Zusammenwirken. Wir gehen jetzt der Frage nach, was es bedeutet, wenn Luhmann feststellt, dieses Unterscheidungsschema sei zirkulär konstruiert. Bezugspunkt unserer Erklärung ist das Kommunikationssystem. Betrachten wir zunächst den Variationsmechanismus: Variationen sind Ereignisse, durch die die Elemente eines Systems verändert werden, d.h., sie beziehen sich auf die Grundoperation unseres Systems, nämlich auf kommunikative Ereignisse: Es wird z.B. etwas Neues gesagt, etwas Unerwartetes, Abweichendes vorgeschlagen. Die Variation setzt quasi, wie Luhmann sagt, neben die vorhandene Struktur ein weiteres Strukturangebot, d.h., sie sorgt "für den Fortgang der Kommunikation wenngleich mit freieren Anschlußmöglichkeiten und mit einer immanenten Tendenz zum Konflikt" und stellt mit diesem sozusagen ‘offenen Angebot’ die Selektion frei. Es ist Sache der Selektion, jetzt zu entscheiden. Die Selektion kann dabei nur durch interne Prozesse des jeweiligen Systems erfolgen und bezieht sich darin auf die bereits etablierten und veränderungsfähigen Strukturen des Systems. Strukturen, so hatten wir in anderen Zusammenhängen bereits dargelegt, sind bestehende Bedingungen, mit denen der Bereich anschlußfähiger Operationen (durch symbolische Auszeichnungen) eingeschränkt wird. Maßstab ist hier, wie Luhmann sagt, die "Erwartung der Wiederverwendbarkeit von Sinnfestlegungen." Die Selektion kann jetzt jene Sinnbezüge auswählen, die Strukturaufbauwert versprechen, oder sich dagegen entscheiden: In diesem Falle der negativen Selektion, so Luhmann, ‘potentialisiert’ das System die abgelehnte Möglichkeit. Es muß mit ihrer Ablehnung leben, obwohl es sie hätte nutzen können."

Wir halten fest: Die Differenz, die die Variation erzeugt, "erzwingt eine Selektion für oder gegen Innovation." Unabhängig davon, wie diese Entscheidung ausgefallen ist, befindet sich das System nach der erfolgten Selektion im Zustand seiner Restabilisierung, d.h. die Bemühungen richten sich darauf, die Redundanz des Systems neu einzurichten. Es kann mit positiver und negativer Selektion die Kontinuität seiner Autopoiesis fortsetzen, und nur das ist für das System interessant. Wir werden am Beispiel noch sehen, daß die so oder so erfolgte Restabilisierung des Systems nichts Statisches bedeutet, d.h. ihrerseits wiederum als Selektionsmotiv dienen kann, also quasi zu neuer Veränderung ‘einlädt’. Hier wird der zirkuläre Charakter der Differenzen deutlich: "Erst die auf den Begriff der Selektion zentrierte Kopplung zweier Unterscheidungen ermöglicht es, Evolution im Endlosprozeß in einer irreversiblen Zeit zu denken, bei der dann jede erreicht Stabilität (je komplexer sie ist, um so mehr) wieder Ansatzpunkte für Variation bietet." Mit anderen Worten: Die durch den Zufall ausgelöste Variation führt dazu, daß sich das System selbst ändert und diese Zustandsveränderung ist zugleich die ‘Basis’ für die freiheitliche Anregung zu neuen Selektionen; hier zeigt sich ein dynamisches Prinzip. Eine so verstandene Evolution beruht, wie Luhmann sagt, "auf einer als Gegenwart aufsummierten Vergangenheit, die limitiert, was jeweils möglich ist." Sie ist eine Theorie des Wartens auf nutzbare Zufälle.

Im folgenden wollen wir zeigen, daß mit dem von uns entwickelten Darstellungssystem tatsächlich ein reproduktionsfähiges System gegeben ist, das warten kann, - und immer wieder fündig wird.

Mit Luhmann stellen wir nun die Frage: Wie evoluiert das Darstellungssystem, das seine eigene Autopoiesis erhält und dafür mit internen Operationen Strukturen auswählt, ohne durch die Umwelt unter Überlebensdruck gezwungen zu sein, auf ‘Fitneß’ zu achten? Es geht uns um eine Theorie der Evolution des Darstellungssystems, die beides gleichermaßen erklären kann: sowohl die über lange Zeiträume hinweg unveränderte Bewahrung von Programmen als auch ihre plötzlichen Veränderungen nach relativ kurzen Abständen.

Die Codierung des Darstellungssystems "soziale Geltung inszenierend/ nicht inszenierend" ist gleichsam von sich aus neugierig und empfänglich für alles Neue, das durch seine Brille gesehen werden kann. Die Codierung erzeugt, wie Luhmann sagt, offene Kontingenzen, "die einen Bedarf für Sinngebungen entstehen lassen und an genau diesem Punkte evolutionsempfindlich werden." Bezogen auf unser Darstellungssystem kann nun folgendes geschehen: Dem Bewußtsein eines an der gesellschaftlichen Kommunikation Beteiligten fällt etwas ein und dieser im Relevanzbereich des Mediums "soziale Geltung" zufällige Einfall wird in passabler Form kommuniziert. Dadurch, daß der Einfall (die Variation) kommuniziert wird, wird er sozial existent, d.h. die Elemente der Kommunikation haben sich verändert und können sich nun der Selektion aussetzen. Manche dieser Variationen können sich im Darstellungssystem so leicht durchsetzen, daß man den Eindruck gewinnen könnte, das System habe die ganze Zeit auf diesen Vorfall, auf diese Idee gewartet (vorausgesetzt, sie genügen den besonderen Bedingungen des Mediums).

Denken wir an Guildo Horn. Das Darstellungssystem hat die strukturelle Relevanz dieser Variation unter dem Gesichtspunkt ihres Vorzugswertes beobachtet, d.h. es hat seinen vorhandenen kommunikativen Bestand mit einer neuen Möglichkeit verglichen und diese neue Idee aufgegriffen, indem sich eine rekursive Bezugnahme auf dieses Programm wie selbstverständlich eingespielt hat. Gäbe es als Selektionskriterium nur die bereits vorhandenen Programme des Darstellungssystems, so liefe das schließlich auf eine Abweisung aller Variationen hinaus. An unseren Beobachtungen zum Programm Guildo können wir die Aussage Luhmanns bestätigen, daß nämlich der Grobmechanismus der Wiederholung von Sinnofferten in der Autopoiesis weiterer Kommunikation (rein quantiativ gesehen) kaum zu überschätzen ist, damit Selektion gelingen kann. Guildo, das wollen wir an dieser Stelle einfügen, war der Zufall. D.h. er war ein Ereignis, das im Darstellungssystem weder produziert, noch von ihm vorhergesehen werden konnte, aber dennoch von unserem System als Ereignis benutzt wurde. Guildo war eine zufällig vorhandene und vorübergehende Umweltbedingung und damit gleichsam eine Gelegenheit, die vom Darstellungssystem genutzt werden konnte, um Strukturveränderungen kommunikativ plausibel durchführen zu können. Daß Guildo als Umweltereignis (z.B. im publizistischen System) eine konstruktive Bedeutung im Hinblick auf eine produktive Strukturänderung des Darstellungssystems gewinnen konnte, wurde ausschließlich vom Darstellungssystem selbst festgelegt. Es selbst hat bestimmt, daß dieses Ereignis als Auslöser dienen kann, um mit Mitteln systemeigener Operationen, d.h. in medienspezifischer Kommunikation, Strukturveränderungen vorzunehmen und damit die Komplexität des Darstellungssystems auszuweiten. "Der Zufall", so Luhmann "begünstigt nur den vorbereiteten Geist." Und nach all dem, was wir beobachten mußten, ist es nicht übertrieben, wenn wir feststellen, daß das Darstellungssystem auf Guildo gewartet hat. Wir halten an dieser Stelle fest: Die positive Selektion ‘Guildo’ wurde gleichsam beendet mit der Vergabe des Wertes "soziale Geltung inszenierend." Jetzt ging es darum, die neue Struktur im Darstellungssystem auszubauen, d.h. Folgewirkungen in Gang zu setzen, die sich unter dem geltenden Medium bewähren mußten. Salopp gesagt stellte das Darstellungssystem jetzt fest, daß die vorgenommene Selektion mit der systemeigenen autopoietischen Reproduktion glänzend zu vereinbaren ist, denn wie wir alle feststellen konnten, wurde die Sinnofferte ‘Guildo’ unter dem Medium ‘soziale Geltung’ variantenreich und in hoher Verdichtung reproduziert: Die Kommunikation drehte sich um die Nachahmung des Guildo-Haarschnitts, das Tragen von Guildo-T-Shirts, die Organisation unzähliger Guildo-Partys, den Kauf von Nußecken, den Kauf seiner CDs, die Beteiligung an der Abstimmung in Birmingham beim Grand Prix d’Eurovision, den Besuch seiner Konzerte, die Wahl von ‘guildospezifischen’ Geburtstagsgeschenken usw.

D.h. die Selektion "Guildo" führte zu einem enormen Anstieg der Komplexität des Systems. Wir sehen in Guildo das, was Luhmann mit dem Begriff der "evolutionären Errungenschaft" bezeichnet. Guildo als Zufallsereignis brachte dadurch konsolidierte Gewinne, daß es zunächst einmal unter dem Medium ‘soziale Geltung’ relevant wurde und darüber hinaus evolutionäre Vorteilhaftigkeit garantieren konnte. Das Programm ist gleichsam wie ‘auf Probe’ eingeführt worden und hat erwartungsgemäß ‘gezogen’. Das Darstellungssystem, das die evolutionäre Errungenschaft Guildo praktizierte, reduzierte zunächst einmal Komplexität dadurch, daß andere Selektionen nicht zum Zuge kommen konnten. Auf der Basis dieser Restriktion war es dem System nachweislich gelungen, höhere Komplexität zu organisieren und wir konnten beobachten, daß die Steigerung der kombinatorischen Möglichkeiten wiederum zur Stabilisierung der evolutionären Errungenschaft beigetragen hat. Wenn wir oben in einem mehr abstrakten Sinne von Restabilisierung gesprochen haben, dann zeigt sich hier, wie leicht es dem Darstellungssystem gefallen ist, diese Restabilisierung vorzunehmen. Hier darf man also nicht etwa Schwerfälligkeit unterstellen. Das Darstellungssystem hält sich permanent änderungsbereit, d.h. es wird stets auf Variation hin stabilisiert. Am Beispiel Guildo können wir die Aussage Luhmanns klar belegen, daß nämlich der Stabilisierungsmechanismus "zugleich als Motor der evolutionären Variation fungiert." Guildo selbst fungierte als Beschleuniger und Frequenzverstärker der Variation, weil dieses Programm aus sich selbst heraus eine schillernde Variationenvielfalt hervorgebracht hat. In diesem Zusammenhang können wir zwei Phänomene zugleich erklären: Guildo ist verschwunden, die Love-Parade hat sich institutionalisiert. Die enorme Verdichtung der kommunikativen Reproduktion des Programms ‘Guildo’ hat, wie wir erleben durften, nach einigen Monaten zu seinem inflationären Verschleiß geführt. D.h., die Überzeugungsmöglichkeiten hinsichtlich der Form der Attributierung sind im Falle Guildo irgendwann überspannt worden. Anders gesagt: Gemessen an dem, was das Medium ‘soziale Geltung’ entlang des Programms "Guildo-Fan/ keinGuildo- Fan" an aufgeblähten Verwendungsmöglichkeiten in Aussicht gestellt hat, konnte sich nur Weniges realisieren lassen, so daß das Programm sehr schnell einer Überbeanspruchung ausgesetzt war. Die unter unserem Programm generierte Kommunikation hat, wie Luhmann sagt, "ihr Vertrauenspotential überzogen." Zuerst haben alle von Guildo gesprochen und schließlich keiner mehr. Hier wurde die Aussage Luhmanns bestätigt, daß der Stabilisierungsmechanismus gerade auf der ständigen Bereitschaft beruht, "eine in der Vergangenheit für angemessen gehaltene Kommunikation zu verwehren und zu ersetzen."

Das Darstellungssystem hat also prinzipiell instabile Kriterien für seine Selektionen; ständig wird die Informationsverarbeitungskapazität für Neues freigemacht. Die Selektion, so Luhmann, "läßt sich nicht mehr durch die Qualität des Selegierten begründen, sondern nur noch durch die Kriterien der Selektion" und diese sind nichts anderes als das Neue, das Öffentlichkeitswirksame, die Kritik, die Abwechslung, die Abweichung. Und Luhmann fragt generell: Orientiert denn nicht gerade die heutige Gesellschaft ihre Selektionen nur noch an dem, was im Moment oder vorübergehend als brauchbar erscheint? An den inflationären Tendenzen des Mediums kann man generell erkennen, daß ein enormer Zeitdruck erzeugt wird. Inflation verkürzt, wie Luhmann sagt, "die Zeitspanne, die zwischen den mediengesteuerten Selektionen liegen kann." Das, was bis vor kurzem für Viele Gültigkeit hatte, wird plötzlich zugunsten neuer Selektionen irrelevant. Mit der beschleunigten ‘Veralterung’ relevanter Strukturen hat eine drückende Entscheidungslast für die Akteure eingesetzt. Es besteht kaum Zeit, die Systemdynamik zwecks Orientierung zu überschauen. Man hält sich deshalb an Symbole, die eine verkürzte Orientierung erlauben. Von der Seite des Systems her werden Vorgaben zur Verfügung gestellt, um die Beliebigkeit der Attributierung einzuschränken; dies geschieht unseres Erachtens durch die Etablierung von Trends. Der Trend, der als "Analogcode" mit fließenden Übergängen gedacht werden kann, kann Motive wecken und der Vereinfachung der Orientierung dienen in der Selektion dessen, was man zur Kenntnis nehmen muß. Im Mittelpunkt steht hier "der selbstreferentielle Vorgang der Kondensierung von Aufmerksamkeit", der sich im Rahmen der Darstellungsmöglichkeiten ergibt und durch Engpässe im Zeitbudget verstärkt wird.

Die Kommunikation unter dem Programm ‘Guildo’ war im Mai 98 kaum in sich zusammengebrochen, da setzte sich mit enormer Wucht die darstellungs- bzw. geltungsbezogene Kommunikation unter dem Programm ‘Body-painting’ (vgl. Anhang 8) durch. D.h., es kam zu einer neuen Erfindung und schon wurde sie unter dem Gesichtspunkt ‘soziale Geltung’ relevant. Ein neuer Trend war geboren!

Das Darstellungssystem, so können wir mit Luhmann sagen, kann "Errungenschaften sehr schnell kumulieren" und reagiert prinzipiell durch ständiges Aussortieren. D.h. es ist unentwegt mit der Beobachtung weiterer Zufälle befaßt. Dadurch kann die Informationsverarbeitungskapazität unseres Systems gewaltig erweitert werden und "korrigiert damit, im Ausmaß des Möglichen, die Engigkeit der eigenen Strukturbildungen, ohne die Orientierungsvorteile dieser Engführung preiszugeben." Eine mögliche Erklärung für den schnellen Austausch der Programme sehen wir in der Verstärkung und Verdichtung der Interpenetration. D.h. das Wahrnehmungs- und Denkvermögen sowie das kreative Potential der Bewußtseine stellen eine Komplexität zur Verfügung, die im Darstellungssystem häufige Irritationen auszulösen vermag. Die unter dem Medium soziale Geltung stattfindende Kommunikation hängt also von der strukturellen Kopplung mit Bewußtseinssystemen ab. Bewußtseine, so können wir mit Luhmann festhalten, wirken im Hinblick auf die Kommunikation des Darstellungssystems wie eine "Zufallssortiermaschine."

Aus den bisherigen Betrachtungen dürfte deutlich geworden sein, daß das Darstellungssystem die eigene Evolution nicht kontrollieren kann. Gleichsam hilflos war es dem Zufall ‘Guildo’ ausgeliefert, und dieselbe Empfänglichkeit wird es künftigen Ereignissen entgegenbringen, vorausgesetzt sie können mit der ‘Brille’ des Code gelesen werden und versprechen Struktur-Aufbauwert für das System. Den einzigen ‘Halt’, den das System hat, hat es in seinem sozialen Gedächtnis. Damit ist gemeint, daß das System seinen gegenwärtigen Zustand unter dem Programm ‘Guildo’ im Unterschied zu früheren Zuständen als z.B. moderner, kreativer und innovativer charakterisieren kann. Eine Voraussetzung dafür, daß dies überhaupt möglich ist, liegt darin, daß das System mit dem Sinn ‘Guildo’ (=Held als verrückte Karrikatur des klassischen deutschen Schlagers) etwas anfangen konnte, ihn gewissermaßen schon gekannt haben mußte, die Figur des Helden nur zu erinnern brauchte, um sie in neuer und eigenwilliger Formation einbauen zu können. Warum konnte es Guildo geben? Weil es früher die Hochkonjunktur des Deutschen Schlagers und immer schon die Figur des Prominenten, des Helden gab. In dem Moment, wenn andere Programm verblassen, werden jene Elemente erinnert und finden in aktualisierter Form Zugang zur Selektion. Guildo, so können wir mit Luhmann sagen, "ist als Gegenwart die Repräsentation der Vergangenheit." Hier zeigt sich die "Inanspruchnahme von Vergangenheit zur Bestimmung des Variationsrahmens der Zukunft." Wir erlebten eine soziale Figur, die die Vergangenheit in karikierender Form aktualisierte und sich darin als das unvergleichlich Neue und Trendhafte darstellen konnte. Die Guildo-bezogene Kommunikation war eine klassische "Episodenrationalität" (Luhmann) des Darstellungssystems und sie hat zugleich die Aussage bestätigt: "Die Selektion garantiert nicht notwendigerweise gute Ergebnisse."

Im Falle der Love-Parade dagegen sehen wir eine Tendenz zur Institutionalisierung. D.h. in diesem Fall ist erkennbar, daß Resultate der Evolution, wie Luhmann sagt, "zementiert" werden. Hier konnten wir in den letzten Jahren beobachten, daß Strukturen fixiert worden sind und in dem Maße, in dem die davon abhängigen Komplexitätsgewinne realisiert wurden, wurde die evolutionäre Errungenschaft ‘Love-Parade’ irreversibel in das Darstellungssystem eingebaut. Und obwohl wir sie vorerst nicht wieder los werden, sind auch hier inflationäre Tendenzen zu erkennen: Die durch die Inflation des Mediums bewirkte Entwertung der Symbole und Attributierung droht der Love-Parade von Innen. Je mehr sie als Darstellungssystem im Darstellungssystem ‘aufgebläht’ wird, um so mehr entwertet sie sich selbst, weil die vorgenommenen Selektionen auf Dauer an Kraft verlieren und durch neue ersetzt werden müssen, sofern Konturschärfe gefragt ist. Und interessanterweise können wir feststellen, daß die Zahl der Anhänger der ‘Gegen-Love-Parade’, der sog. "Hate-Parade" in den Jahren 97-98 größer geworden ist. Bei diesem ‚Event‘ handelt es sich um einen zeitgleich zur Love-Parade stattfindenden gesonderten Umzug, der den eigenen Angaben zufolge gegenüber der Mega-Party die ursprünglichen und eigentlich authentischen Anliegen und Symbole zelebriert (die wir zugegebenermaßen leider selbst nicht identifizieren konnten); d.h. diese Art von Gegenveranstaltung will dem vermeintlichen Verfall der Kommunikationsform die eigentlich Authentische gegenübersetzen.

Oben haben wir bereits angedeutet, daß die feste Etablierung der Love-Parade offensichtlich der Notwendigkeit entspringt, daß das Darstellungssystem in einer stark veränderten Umwelt zurechtkommen muß. Denn wir fragen: Wie und wo ist es heute möglich, die soziale Geltung von Personen in angemessen profil- und wahrnehmungsstarker Weise darzustellen? Die Gesellschaft betrachtete die Love-Parade offensichtlich als Notwendigkeit. Sie wurde im Jahre 1998 zum zehnten Mal bei steigender Teilnehmerzahl abgehalten und andere gesellschaftliche Einrichtungen wie z.B. die Politik, die Verwaltung, die Publizistik haben sich auf diese Veranstaltung eingestellt. Alle Neuerungen auf dieser Ebene, so können wir mit Luhmann festhalten, "müssen als funktionale Äquivalente einspringen können und zwar in Form einer Ergänzung und Spezialisierung." Und in der Tat werden, wie erwähnt, die Christopher Street Days-Events oder die May-Day-Events gleichsam als Vorlauf oder spezialisierte Ergänzungsverantaltungen mit eigenem Profil angesehen (vgl. Anhang 5).

Wir fassen zusammen: Alle Evolution medienspezifischer Kommunikation, die wir hier aufgezeigt haben, ist immer auch Evolution der Gesellschaft selbst. Und wenn Luhmann generell feststellt, die Gesellschaft könne sich nicht gegen das Tempo wehren, das ihr durch die Funktionssysteme diktiert werde, dann gilt das vor allem und erst recht für unser Darstellungssystem: Unermüdlich differenziert es zwischen Selektion und Restabilisierung, weil der Neuerungsdruck wächst. Er muß rascher verarbeitet werden. Es wird erkennbar: Die Gesellschaft staunt über sich selbst.

 

Schlußbetrachtung

Mit dem letzten Kapitel haben wir uns wieder dem Anfang unserer Arbeit zugewandt.

Im ersten Kapitel wurde unter Einbeziehung des Bildes der Spinne das Modell entworfen "Wir sind, wenn wir tun." Die Individuen, so wurde im Rahmen dieses Modells festgestellt, erleben sich als ‘entwurzelt’. Sie bearbeiten diesen Zustand dadurch, daß sie einen hektischen Mechanismus entwickeln, mit dem sie sich sozusagen ‘demonstrativ-darstellend’ in die Gesellschaft ‘hineinkatapultieren’, um sich durch diesen Mechanismus der Bewegung gewissermaßen selbst halten zu können. Das von uns entwickelte Darstellungssystem als Autopoiesis der Inszenierung sozialer Geltung von Personen ist nichts anderes als die systemtheoretische Fassung dieses auf phänomenologischer Ebene entworfenen und empirisch belegten Modells "Wir sind, wenn wir tun."

Mit dem, was wir zu entwickeln versucht haben, erheben wir nicht den Anspruch, die Theorie Niklas Luhmanns ‘als solche’ getroffen zu haben. Was wir konkret erreicht haben, ist darin zu sehen, daß wir systemtheoretische Denkverfahren für eine gezielte Fragestellung partiell in Dienst oder in Anspruch genommen haben, um Beobachtungen erklären zu können. Und in der Tat haben wir unseres Erachtens zeigen können, daß sich das systemtheoretische Denken, bezogen auf den von uns gewählten Ausschnitt, durchaus in der Realität bewähren konnte. Dennoch bleiben Unzulänglichkeiten. Sie zeigen sich z.B. darin, daß wir die theorietechnisch geforderte innere Zerlegung des traditionellen Subjektbegriffs einerseits sehr ernst genommen haben, indem wir separat darzustellen versuchten, in welcher Weise der Mensch, das Bewußtsein, die Person, das Subjekt und die Individualität ihren spezifischen Beitrag für die Autopoiesis des Darstellungssystems zu leisten vermögen. Wir stellen uns andererseits allerdings selbst die Frage, inwieweit es überhaupt machbar ist, diese innere Diferenzierung konsequent durchzuhalten bzw. ob wir zum Schluß nicht doch wieder hinter dieses (durchaus einsichtige) theoretische Erfordernis zurückgefallen sind. Auch wenn wir zum Schluß unserer Arbeit mit Luhmann gleichsam ‘kompromißhaft’ vom "Einzelexemplar der Gattung Mensch" gesprochen haben, um die mit dem Begriff ‘Subjekt’ verbundenen Konnotationen zu umgehen, so sind doch allein die sprachlichen Probleme gewaltig. Insofern verstehen wir unserer Ausführungen als duchweg unfertige Überlegungen. Sie erhalten ihren Erklärungswert dadurch, daß gezeigt werden konnte, inwiefern Ereignisse der Realität, ihr Entstehen und ihr Verschwinden, auf eine nahezu elegante Weise in das Vokabular bzw. Instrumentarium systemtheoretischen Denkens ‘hineinzurutschen’ vermögen.

Wenn nun manches in der Gesellschaft transparenter vor uns liegt, so müssen wir nach den Konsequenzen (auch dieser Arbeit) fragen.

Auf einer globalen Ebene zeigen sich mehrere Möglichkeiten: Einmal kann man in der Gesellschaft mitfeiern. In der vehementen Lust, sich auf alles einzulassen, kann man das ‘rollende System’ nach vorne ‚walzen‘, sich an der blinden und hektischen Aktivität der Bewegung berauschen. Die andere Möglichkeit ist die des distanzierten Zuschauens. Begleitet von einer Wehmut im Hinblick auf den Verlust einer gesellschaftlichen Mitte kann man sich zurückziehen, eine kühle Analyse dessen anfertigen, was geschieht und seine Teilnahme eingedenk des heraufziehenden Chaos verweigern. Abwarten.

Zwischen beiden Positionen gibt es ein Drittes: reflektierte Teilnahme. Unter dem Diktum Selbstbeobachtung kann man sich für distanziertes Mitmachen entscheiden, das die Kraft hat, Operationen zu hinterfragen, abzuwägen, sich partiell und begründet zu verweigern. Es gehört zu dem unausweichlichen Fazit dieser Arbeit, daß alle vorgestellten Konsequenzen letztlich auf ein und dasselbe hinauslaufen. Die Begründungen der drei jeweils vorgestellten Positionen heben sich untereinander auf, denn die Begründung jedes einzelnen dieser Standpunkte ist in gleicher Weise rechtfertigungspflichtig gegenüber dem jeweils anderen. Zwischen denen, die in der Gesellschaft mitfeiern und denen, die sich verweigern, gibt es allenfalls noch den gegenseitig (mehr symbolisch) erhobenen Vorwurf des hedonistischen Event-Rausches bzw. des konservativ-verbrämten Spaßverderbens, während die anderen gar nicht mehr wahrgenommen werden (zu kompliziert). Ansonsten ist alles mit Gleichmut in dem gegenseitig-übereinstimmenden Bekenntnis aufgehoben: Jeder Jeck’ ist anders. Ausrichten, so unser Fazit, kann der einzelne nichts. Das Subjekt, das aktiv handelnd auftritt, kann seinen Anspruch auf selbstbestimmte Positionierung in der Gesellschaft nicht einlösen. Es kann weder etwas ausrichten, noch wird es sich selbst finden, es kann allenfalls dazu beitragen, das ‘Rattern’ harter Systemstrukturen sowohl auszuweiten als auch zu verfestigen. Das ist jene Paradoxie, die im phänomenologischen Teil dieser Arbeit bereits aufschien und für das von uns entwickelte Darstellungssystem durchweg konsitutiv ist. Jene Entmachtung, die das Subjekt in unseren theoretischen Modell erfährt, so stellen wir im Anschluß an Helga Gripp-Hagelstange fest, ist dem Subjekt in der Realität längst widerfahren. Die Individuen müssen fügsam sein, um ein System zu erhalten, das sich selbst und damit auch die gesellschaftlichen Individuen ruiniert. Insofern geben wir Stefan Breuer recht, wenn er feststellt, das Individuum falle nicht fremden und feindlichen Mächten zum Opfer, sondern sich selbst. Und obwohl Friedrich Nietzsche nicht selten im vulgär-trivialen Sinne für alles und jedes ‘funktionalisiert’ wird, scheuen wir uns nicht, auch hier auf ihn zurückzugreifen: "Einsamer, du gehst den Weg zu dir selber! Und an dir selber führt kein Weg vorbei. Ketzer wirst du dir selber sein und Hexe und Wahrsager und Narr und Zweifler und Unheiliger und Bösewicht."

Der Wert dieser Arbeit liegt letztlich darin, theoretische Anleitungen zur Erklärung unserer Beobachtungen gegeben zu haben. D.h. mit Hilfe systemtheoretischen Denkens haben wir Mechanismen und innere Zusammenhänge in ihrer nackten Gestalt offengelegt, durch die wir die Funktionsweise der ‘bodenlosen’ Gesellschaft und die gleichsam frei schwebenden Operationen der Subjekte in ihrer unausweichlichen Ohnmacht besser verstehen können. Insofern vermag das ‘bodenlose’ systemtheoretische Denken in seiner paradoxalen Gestalt auf wiederum erneut paradoxe Weise souveräne Stabilität zu vermitteln. In einer Sphäre der ‘Bodenlosigkeit’ gewährt es die Stabilität der Transparenz (in) zentrifugaler Dynamik.

Anders ausgedrückt: Wir denken an Guildo und warten auf das nächste Spiel, um uns zurückzuziehen und das Unverständnis der anderen entgegenzunehmen, - jetzt gelassener denn je!

 

Abkürzungsverzeichnis

Abkürzungen für die Literatur Friedrich Nietzsches:

G: Götzendämmerung

GM: Genealogie der Moral

GT: Die Geburt der Tragödie

J: Jenseits von Gut und Böse

Z: Also sprach Zarathustra

Zugrundegelegt wird das Werk:

Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden, Bd. 1 - 3, Köln 1994.

Für das Werk Adornos werden folgende Abkürzungen verwendet:

DA: Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/ Main 1988;

ND: Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt/ Main 1992 (7. Auflage).

Für die Werke Luhmanns werden folgende Abkürzungen verwendet:

GG: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/ Main 1997.

WG: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt/ Main 1994.

ÖK: Ökologische Kommunikation, Opladen 1992.

GS: Gesellschaftsstruktur und Semantik, Frankfurt/ Main 1993.

SA5: Soziologische Aufklärung 5, Opladen 1993.

SA6: Soziologische Aufklärung 6, Opladen 1995.

SS: Soziale Systeme, Frankfurt/ Main 1991.

 

 

 

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