Joachim Ringelnatz
Als ein Paradigma für sich selbst organisierende kritische Phänomene hat sich seit einigen Jahren die Theorie der selbstorganisierten Kritikalität (SOK) (vgl. [1], [2]) in der nichtlinearen Physik etabliert.
Nach dieser Theorie entwickeln sich viele Systeme unabhängig von ihrem Anfangszustand 'von selbst' zu einem kritischen stationären Zustand hin. Obwohl sich hier schon kleinste Störungen über alle Größenordnungen hinweg bemerkbar machen können, finden diese Systeme stets von selbst in den kritischen Zustand zurück.
Ein bekanntes, auch mit Mitteln der Schulphysik erforschbares System stellt beispielsweise der Sandhaufen dar: Je größer er wird, um so steiler werden seine Seiten, jedoch nur so lange, bis die Neigung einen kritischen Wert annimmt, der trotz weiterer Sandzufuhr beibehalten wird.
Im folgenden werden experimentelle Arbeiten zu diesem Themengebiet
vorgestellt, die die typische Dynamik eines Sandhaufens beschreiben
und zudem Aufschlüsse über die zugrundeliegenden Gesetzmäßigkeiten
der SOK geben.
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Läßt man trockenen, feinkörnigen Sand oder ein ähnliches Granulat auf einen Sandhaufen bzw. Schütthaufen rieseln, so nimmt er schließlich seine typisch kegelförmige Gestalt an. Durch gelegentliches Abrutschen von Teilchen am Abhang des Haufens wird fortan ein im Mittel konstanter Böschungswinkel eingeregelt.
Welche Mechanismen liegen diesem selbstorganisierten Verhalten zugrunde ?
Schaut man sich die von oben auf die Spitze des Haufens fallenden
Sandkörner etwas genauer an, so stellt man fest: Sobald der
kritische Böschungswinkel erreicht ist, kann die Zufuhr weiterer
Sandkörner auch lawinenartige Sandstürze auslösen,
die dann die Höhe des Haufens bzw. seine Neigung verringern.
Liegt der Böschungswinkel über dem kritischen Wert,
entsteht eine instabile Lage, in der sehr leicht Lawinen abgehen,
die die Neigung so weit vermindern, daß sie wieder auf den
kritischen Wert zurückfällt oder sogar unterkritisch
wird. Ein unterkritischer Zustand erweist sich i.a. als sehr stabil
gegenüber Störungen. Bei weiterer Zufuhr von Teilchen
findet das System allerdings immer wieder in den kritischen 'stationären'
Zustand zurück - der Sandhaufen wird gleichsam von dem kritischen
Böschungswinkel 'angezogen', ohne daß es irgendeiner
besonderen externen Regulierung bedarf.
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Zur experimentellen Erfassung der Lawinen-Dynamik eines 'berieselten' Sandhaufens finden sich in der Literatur verschiedene Vorschläge (vgl. [3]- [6]). Während der eigentliche Meßvorgang bei allen vorgestellten Experimenten per computerauslesbarer elektronischer Waage geschieht (üblicherweise wird die Größe einer Lawine an der Zahl bzw. Masse der abgehenden Sandkörner gemessen), erweist sich allerdings die (konstante) Zufuhr von Sandkörnern als recht schwierig. Da die vorgestellten Lösungen einen sehr hohen technischen und feinmechanischen Einsatz erfordern, wollen wir im folgenden einen Versuchsaufbau vorstellen, der bereits mit sehr einfachen Mitteln realisiert werden kann (vgl. Abb.1).
Die Zufuhr der Sandkörner erfolgt hier über ein kleines Förderband (z.B. ein umgestülpter Zahnriemen aus dem Bereich des Modelbauzubehörs, Transportlänge ca. 5 - 10 cm), das mit Hilfe eines kleinen Motors angetrieben wird. Zur Automatisierung der Berieselung wird der Sand allerdings erst in einen ausreichend großen Blechbehälter (mind. 1 Liter) eingefüllt.
(Kunststoff oder Plexiglas hat sich hier als ungeeignet erwiesen, da sich Sand beim 'Rieseln' sehr stark elektrostatisch aufladen kann. Die Rieseleigenschaften ändern sich dann bisweilen so stark, daß der Sand in langen Ketten oder Klumpen zusammenhaftet. Bei der Verwendung von Metallbehältern kann man durch Erdung der Komponenten dafür sorgen, daß die Ladung kontinuierlich abgeführt wird. Ohne Erdung lassen sich regelrechte Funkenübersprünge beobachten, die den Experimentator in (schmerzhaftes) Staunen versetzen können.)
Dieser dient als Sandreservoir, von dem aus der Sand zunächst noch relativ ungleichmäßig aus einer am unteren Ende des Behälters angebrachten 'Auslauftülle' (Durchmesser ca. 0.5 - 1 cm) auf das Förderband rieselt (vgl. Abb.1).
Am Ende des Bandes fallen die Sandkörner dann durch einen kleinen Trichter, der den Teilchenstrom fokussiert, auf den Sandhaufen.
Erstaunlicherweise liefert ein derartiges Förderband sehr konstante 'Fördermengen': Der pro Zeiteinheit nahezu linear zunehmende Massengehalt eines derartig befüllten Testgefäßes zeigt dies deutlich (vgl. Abb.2).
Mittels der am Fördermotor angelegten Spannung läßt sich die Fördermenge variieren. Sie wächst allerdings nicht kontinuierlich mit größerer Motorspannung an, sondern nimmt bei höheren Drehzahlen wieder ab (vgl. Abb.3). Vermutlich werden dann die Sandkörner aufgrund der stärkeren Vibrationen des Motors vom Förderband wieder heruntergeschüttelt.
Ein wesentlicher Faktor für die Güte der Berieselung
stellt allerdings auch die Art und Qualität des verwendeten
Sandes dar: Ein Großteil der beispielsweise im Baumarkt
oder direkt beim Bauhandel erhältlichen Sandsorten enthält
ihrer Verwendung entsprechend sehr viele 'Verunreinigungen', die
die gegenseitigen Wechselwirkungen und damit die Rieseleigenschaften
der 'reinen' Sandkörner beeinflussen. Reiner Quarzsand oder
besser noch gereinigter Vogelsand (Streumittel für Vogelkäfige
u.ä.) hat sich für diesen Versuch als besonders geeignet
erwiesen: Durch einfaches Sieben erhält man aus diesem Produkt
sehr feinen, reinen und gut rieselnden Sand mit relativ homogener
'Korngröße'.
(up)
Der auf diese Art und Weise berieselte Sandhaufen befindet sich auf einer kreisförmigen Scheibe (Durchmesser ca. 6-10 cm).
Die Gesamtmasse wird nun mit Hilfe einer elektronischen Waage (Typ: SARTORIUS, Auflösung: 1 mg) registriert und dann per integrierter serieller Schnittstelle als Meßwert direkt an einen PC übermittelt (vgl. [7]).
Die aufgezeichneten Massenänderungen geben dann Aufschluß über die Lawinentätigkeit: Verlassen bei einem Sandsturz Sandkörner mehr oder weniger lawinenartig den Haufen, so ist in der Meßkurve ein jähes Absinken der Gesamtmasse zu verzeichnen.
Die ersten Versuchsreihen überraschten uns allerdings: Zunächst beobachteten wir ein fast periodisch oszillierendes Lawinenverhalten (vgl. Abb. 4). In nahezu konstanten Zeitabständen wuchs die Gesamtmasse des Sandhaufens bis zu einem kritischen Grenzwert, um dann unter nahezu gleich großen Lawinenabgängen (bis zu 30 g) wieder einen stark unterkritischen Wert anzunehmen.
Schon einen Tag später zeigte derselbe Sandhaufen (ohne Änderung
der Parameter wie Fördermenge etc.) bei erneuter Berieselung
ein gänzlich anderes Verhalten: Trotz weiterer Zufuhr von
Sandkörnern wies der Haufen zunächst eine Art Sättigungsverhalten
auf, begann dann durch 'Abwerfen' kleinster Lawinen leicht zu
oszillieren und gelangte jedesmal ganz plötzlich durch einen
mittelgroßen Sandsturz in einen unterkritischen Zustand
(siehe Abb. 5). Diese Art der Dynamik erinnert sehr stark an Relaxations-Oszillationen,
wie sie beispielsweise beim Tropfverhalten von Flüssigkeiten
beobachtet werden können.
Auf den ersten Blick scheinen diese Versuchsergebnisse dem (theoretisch)
erwarteten Systemverhalten - Selbstorganisation durch Abgang von
Lawinen aller Größenordnungen - zu widersprechen. Wir
erklären uns diese nahezu periodischen Oszillationen wie
folgt: Da selbst trocken aussehender Sand eine gewisse Feuchtigkeit
enthält, besteht eine zwar geringe, aber (wie sich hier zeigt)
wirkungsvolle Wechselwirkung zwischen den Sandteilchen: Sie 'backen'
bis zu einem gewissen Grade zusammen. So entsteht vermutlich ein
stark überkritischer Sandhaufen, der sogar ein Sättigungsverhalten
zeigen kann (s.o.). Bei weiterer Zufuhr von Sand kommt es allerdings
irgendwann zu einer so stark überkritischen Situation (die
zuweilen lokal noch durch Abrutschen kleinster Lawinen aufrechterhalten
werden kann - vgl. Abb. 5), daß der Haufen schließlich
durch den Abgang einer großen Lawine unterkritisch wird.
Aufgrund der Massenträgheit (und vermutlich auch aufgrund
von Reibungseffekten) verläßt bei derart großen
Lawinen 'zuviel' Sand den Haufen, so daß die Böschung
stark unterkritisch wird. Diese übergroßen Sandstürze
lassen sich auch direkt an der Gestaltänderung des Sandhaufens
beobachten bzw. ablesen, die Böschung ändert ihr typisch
sandhaufenartiges, kegelförmiges Aussehen und bekommt dann
eine stark konkave Form. Der Haufen hat sich 'entspannt', und
es dauert seine Zeit, bis er wieder einen kritischen oder in diesem
Fall einen überkritischen Zustand erreicht hat.
(up)
Die Abhängigkeit des Rieselverhaltens von der Luftfeuchtigkeit zeigt deutlich die einige Tage später aufgezeichnete Meßreihe am selben Sandhaufen (vgl. Abb. 6): Bei trockenerer Luft war ein zwar unregelmäßiges, aber dennoch fast periodisches Lawinenverhalten zu beobachten. Die aufgenommene Meßkurve weist auf ein stark 'quasi-periodisches', zyklisches Systemverhalten hin. Derartig zyklische Bewegungsmuster sind in der nichtlinearen Physik in ähnlicher Form als vorchaotische Bewegungsmuster deterministisch chaotischer Systeme bekannt (vgl. Abb. 6).
Die im Sand gebundene bzw. in der Luft enthaltene Feuchtigkeit stellt somit einen nicht vernachlässigbaren Kontrollparameter für die Sandhaufendynamik dar. Zur Untersuchung 'idealer' Sandhaufen ist es daher notwendig, den Sand zur Optimierung der Rieseleigenschaften durch kurzes Erhitzen (z.B. im Kochtopf) zu trocknen.
Zur Aus- und Bewertung der einzelnen Meßergebnisse wäre
es daher notwendig, nach dem Erhitzen die 'Güte' des Sandes
bzw. den Grad an Restfeuchtigkeit zu bestimmen. Da dies auf einfachem
Wege nicht möglich ist, betrachten wir zunächst einmal
den eigentlichen 'Stoffumsatz' eines berieselten Sandhaufens (vgl.
Tabelle 1). Dazu mißt man (numerisch) nach jedem Abgang
einer Lawine den (durchschnittlichen) Massenanstieg des 'wachsenden'
Sandhaufens. Verglichen mit der durchschnittlichen Fördermenge
ergeben sich für die verschiedenen Arten der Lawinendynamik
verschiedene Stoffumsätze: Bei den periodisch oszillierenden
Lawinen bleiben über 40% der zugeführten Sandkörner
nicht auf dem Haufen liegen, sondern rutschen direkt herunter
(vermutlich kommt es hier schon während des Rieselns zu Agglomerationen
- diese 'Sandklumpen' bleiben gar nicht erst am Haufen haften,
sondern rollen sofort am Hang herunter). Je größer
der Stoffumsatz wird, desto eher können wir hier von einer
idealen Sandhaufendynamik sprechen. (Allerdings kommt erschwerend
hinzu, daß die Meßgenauigkeit des Waage es nicht zuläßt,
einzelne Sandkörner zu registrieren.) Für die folgenden
Betrachtungen wurden daher nur Messungen ausgewertet, bei denen
der Sand nach dem Trocken einen Stoffumsatz von mehr als (ca.)
95% zeigte.
Tabelle 1: Lawinen im Vergleich (Fördermenge:
0.117 g/Sek.)
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Das System 'Sandhaufen' weist also keine charakteristische Lawinengröße auf. Im kritischen Zustand können sich kleinste Störungen über alle Größenordnungen hinweg bemerkbar machen: Zwar sind Ereignisse geringerer Reichweite bevorzugt, aber jedes fallende Sandkörnchen kann eine Lawine (fast) jeder (hier möglichen) Größenordnung auslösen.
Uns geht es hier nicht nur um die Erforschung von Sandlawinen:
Als einfaches, mit schulischen Mitteln zugängliches System
(siehe auch [7]), kann der Sandhaufen als Modell für viele
andere Systeme stehen, die sich (unabhängig vom Anfangszustand)
'von selbst' in einen stationären, aber kritischen Gleichgewichtszustand
entwickeln. Genannt seien beispielsweise Domänenwachstum
in ferromagnetischen Stoffen, Erdrutsche im Hochgebirge, Erdbeben,
Ausbreitung von Waldbränden, Leitfähigkeitsänderungen
in Halbleitern u.v.m. Die Theorie der SOK bietet zudem eine fundamentale
Erklärungsmöglichkeit für Phänomene mit potenzgesetzartigem
Verhalten (sog. 1/f-Rauschen), wo Kettenreaktionen aller Größenordnungen
und Zeitdauer auftreten.
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