Entwicklung und empirische Prüfung der Lernwirksamkeit digitaler Module zur guten wissenschaftlichen Praxis (GWP) im Fach Chemie
Die Vermittlung guter wissenschaftlicher Praxis (GWP) ist eine zentrale Voraussetzung für die Sicherung wissenschaftlicher Integrität und Qualität. Während an Hochschulen GWP-Kurse zunehmend curricular verankert werden, fehlt es insbesondere in den Naturwissenschaften bislang an systematisch entwickelten, digitalen Selbstlernmaterialien, die sowohl fachlich fundiert als auch didaktisch wirksam gestaltet sind. Im Rahmen der vorliegenden Interventionsstudie wurden daher digitale Lernmodule konzipiert, die zentrale Aspekte der GWP exemplarisch für das Fach Chemie adressieren. Ziel war es, die Lernwirksamkeit narrativ-gestützter Lernumgebungen zu untersuchen und gleichzeitig ein innovatives, hochschulübergreifend einsetzbares Lernangebot zu entwickeln.
Die theoretische Grundlage der Entwicklung bildet der European Code of Conduct for Research Integrity (All European Academies, 2023), ergänzt durch die Leitlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis der Deutschen Forschungsgemeinschaft (Deutsche Forschungsgemeinschaft, 2020). Ausgehend von empirischen Befunden zur Wirksamkeit generativer und multimodaler Lernaktivitäten (Baumgartner & Herber, 2013; Fiorella, 2021) sowie zum Potenzial narrativer und bildgestützter Darstellungsformen (Fitri Dwi Arini et al., 2016; Sipayung et al., 2020) wurde ein modulares Lernkonzept entwickelt, das instruktive, interaktive und narrative Elemente miteinander kombiniert. Im Zentrum stand die Frage, ob der gezielte Einsatz von Graphic Novels die Lernwirksamkeit, kognitive Belastung, Usability und Motivation der Lernenden positiv beeinflussen kann.
Zur Beantwortung dieser Fragestellung wurden drei experimentelle Bedingungen realisiert, die sich ausschließlich im Einsatzzeitpunkt der Graphic Novels unterschieden, während Inhalte, Struktur und Aufgaben identisch blieben.
- In der Kontrollgruppe (KG) wurden die Lernmodule ohne Graphic Novels durchgeführt; die narrativen Anteile wurden hier durch neutrale Text- und Audioelemente ersetzt.
- In der Instruktionsgruppe 1 (IG1) kamen Graphic Novels zu Beginn der Module als erzählerischer und visueller Einstieg in das Thema zum Einsatz.
- In der Instruktionsgruppe 2 (IG2) wurden Graphic Novels in der Anwendungsphase integriert, um das Gelernte anhand konkreter Fallbeispiele zu reflektieren und in neue Kontexte zu übertragen.
Alle drei Gruppen bearbeiteten dieselben digitalen Lernmodule, die thematisch das Oberthema „Fehlverhalten in der Forschung und Umgang mit Konflikten“ abbildeten. Die Lernumgebung wurde mit der Open-Source-Software Lumi erstellt, im Format interaktiver H5P-Lerneinheiten umgesetzt und über Moodle bereitgestellt. Die Module richten sich an Bachelorstudierende der Naturwissenschaften, insbesondere der Chemie, und sind für das Selbststudium konzipiert. Sie kombinieren erklärende Texte, Audiodateien, Multiple-Choice- und Zuordnungsaufgaben, freie Reflexionsfragen sowie narrative Szenarien, die eine aktivierende und reflexive Auseinandersetzung mit den Inhalten fördern.
Struktur und Inhalte der Lernmodule
Die Lernumgebung umfasst drei aufeinander aufbauende Module, die jeweils einen spezifischen Aspekt wissenschaftlichen Fehlverhaltens thematisieren und unterschiedliche kognitive und reflexive Lernziele verfolgen.
Modul 1 – Grundlagen wissenschaftlichen Fehlverhaltens und Konfliktbewältigung
Das erste Lernmodul führt in zentrale Begriffe und Prinzipien der GWP ein. Die Lernenden unterscheiden zwischen vorsätzlichem Fehlverhalten, fragwürdiger wissenschaftlicher Praxis und ehrlichen Fehlern. Im Mittelpunkt steht die fiktive Figur Ben, ein Chemiestudent, der im Rahmen seiner Bachelorarbeit mit unterschiedlichen Herausforderungen im Forschungsalltag konfrontiert wird. Im Dialog mit der GWP-Expertin Karen reflektiert er Formen wissenschaftlichen Fehlverhaltens (z. B. Datenmanipulation, Plagiate, Autorenschaftskonflikte) und lernt institutionelle sowie individuelle Präventionsstrategien kennen. Interaktive Aufgaben und Fallbeispiele fordern die Lernenden dazu auf, Situationen einzuordnen, Ursachen zu analysieren und Handlungsmöglichkeiten zu bewerten. Abschließend werden Anlaufstellen und Verfahrenswege bei Verdachtsfällen erläutert. Ziel des Moduls ist der Aufbau eines grundlegenden Verständnisses wissenschaftlicher Redlichkeit und der Erwerb kommunikativer sowie reflexiver Handlungskompetenzen im Umgang mit Konfliktsituationen.
Modul 2 – Historische Fallbeispiele wissenschaftlichen Fehlverhaltens
Das zweite Modul vertieft das Thema durch die Auseinandersetzung mit authentischen Fällen wissenschaftlichen Fehlverhaltens. Behandelt werden die Fälle William Summerlin, Haruko Obokata, Andrew Wakefield und Naoki Mori, die exemplarisch verschiedene Formen und Konsequenzen wissenschaftlicher Unredlichkeit verdeutlichen. Die Lernenden analysieren jeweils Ursachen, Kontexte und Folgen der Fälle und reflektieren die Bedeutung individueller, sozialer und institutioneller Faktoren. Multiple-Choice-Aufgaben und Reflexionsfragen fördern das Verständnis der ethischen Dimensionen und die Fähigkeit, Fehlverhalten im Kontext wissenschaftlicher Praxis kritisch zu bewerten. Ziel des Moduls ist die Erweiterung der Sensibilität für die Komplexität von Integritätsverletzungen und die Förderung moralischer Urteilskompetenz.
Modul 3 – Werteorientierung und moralische Urteilsbildung im Forschungskontext
Das dritte Modul legt den Fokus auf den sozialen und moralischen Umgang mit Fehlverhalten. Im Zentrum steht eine fiktive Studierendengruppe mit vier Charakteren (Ben, Nidas, Mia, Sita), die unterschiedliche Wertehaltungen und Handlungsstrategien im Umgang mit Fehlverhalten repräsentieren. Ausgangspunkt ist ein Konfliktfall, in dem eine Studierende Daten manipuliert, um ihre Abschlussarbeit zu retten. Die Lernenden verfolgen und beeinflussen die Diskussion innerhalb der Gruppe, bewerten die Verhaltensweisen der Figuren und reflektieren eigene moralische Positionen. Durch interaktive Dialoge, Audiosequenzen und alternative Handlungsverläufe werden sie in Entscheidungsprozesse eingebunden und entwickeln ein Bewusstsein für die Bedeutung ethischer Reflexion und institutioneller Unterstützungssysteme. Ziel des Moduls ist die Förderung moralischer Urteilskompetenz, Empathie und Verantwortungsbewusstsein in komplexen Forschungssituationen.
Didaktisches Konzept und Materialstruktur
Alle Lernmodule sind als Selbstlernmaterialien konzipiert und können einzeln oder in Kombination eingesetzt werden. Sie bieten einen hohen Grad an Interaktivität, narrativer Einbettung und multimedialer Unterstützung (Text, Audio, visuelle Szenarien). Durch die Integration von Graphic Novels werden kognitive und emotionale Zugänge zum Thema geschaffen, die insbesondere Studierende in frühen Studienphasen ansprechen sollen. Jedes Modul schließt mit Wissensüberprüfungen und Reflexionsaufgaben, die sowohl kognitive als auch affektive Lernziele adressieren.
Die Materialien wurden im Rahmen einer Interventionsstudie mit 128 Studierenden empirisch geprüft, wobei Lernwirksamkeit (Eigenentwicklung), kognitive Belastung (Krieglstein et al., 2023), Usability (Schrepp, 2023) und Motivation (Engeln, 2004; Flake et al., 2015; Haugwitz, 2009) erfasst wurden. Die hier veröffentlichten Lernmodule bilden die Grundlage dieser Untersuchung.