Textverständlichkeit und Textverständnis im Physikunterricht der neunten Klasse unter Berücksichtigung des Sprachhintergrunds : Eine empirisch-quantitative Untersuchung
Etwa ein Viertel der SchülerInnen der Sekundarstufe I verfügt, wie Schulleistungsstudien wiederholt belegen, lediglich über eine (sehr) schwach ausgeprägte Lesekompetenz (OECD, 2023). Dabei sind SchülerInnen mit Migrationshintergrund in der Gruppe der schwachen Lesenden überrepräsentiert (Weis et al., 2019b). Dies ist mit Blick auf die zentrale Rolle, die die Lesekompetenz fächerübergreifend für den Ausbau, die Vertiefung und auch die Revision des eigenen Wissens spielt (Artelt et al., 2007), für die schulische und außerschulische Bildungslaufbahn als überaus kritisch zu bewerten. Texte aus Physikschulbüchern sind bildungs- (Hövelbrinks, 2013) und auch fachsprachlich geprägt (Härtig, 2010, 2014); sie werden als so schwer verständlich eingestuft, dass sie im Physikunterricht selbst kaum zum Einsatz kommen (Bleichroth et al., 1987; Merzyn, 1994). Das ihnen innewohnende Potenzial zur inhaltlichen wie sprachlichen Enkulturation der SchülerInnen in die Physik bleibt damit zum großen Teil ungenutzt (Härtig & Kohnen, 2017; Härtig & Neumann, 2014). Die sprachlich begründeten Hürden für den physikalischen Kompetenzerwerb gilt es daher abzubauen, zwischen den Anforderungen der Texte und den Dispositionen der SchülerInnen ist eine Passung herzustellen.
Ansatzpunkte dafür liefern Textverstehens- und Textverständnismodelle: Das Lesen und Verstehen von Texten wird als ein Zusammenspiel von Textmerkmalen und Dispositionen der Lesenden angenommen (Kintsch, 1988; Kintsch und van Dijk, 1978; Schnotz, 2006; van Dijk und Kintsch, 1983), sodass mit Blick auf das Erreichen einer Passung zwischen Texten und SchülerInnen grundsätzlich zwei Wege separat von- oder auch parallel zueinander gangbar sind: Zum einen kann der Ausbau der Dispositionen der SchülerInnen angestrebt werden, zum anderen können die Texte mittels Textmanipulationen verständlicher gestaltet werden. Die vorliegende Arbeit setzt an den Texten an. Denn mit Blick auf verschiedentliche Befunde scheint an dieser Stelle durchaus Potenzial zur Textverständnisförderung zu bestehen, die diesbezügliche Forschungslage insgesamt muss jedoch als überaus unklar bezeichnet werden (für einen Überblick vgl. Schmitz, 2016).
Im Rahmen zweier experimenteller Studien im Prä-Post-Design mit N = 456 bzw. N = 261 NeuntklässlerInnen nordrhein-westfälischer Hauptschulen, Gesamtschulen und Gymnasien werden in einem ersten Schritt Einflussfaktoren des Physiktextverständnisses auf Seiten der sprachlichen Gestaltung (Leichte Sprache vs. einfache Sprache sowie einfache Sprache vs. Schulbuchtext) und auf Seiten der SchülerInnen analysiert (inhaltliches Vorwissen, Wortschatz, basale Lesekompetenz, Verständnis narrativer Texte, Lesestrategiewissen, schlussfolgerndes Denken, Konnektorenwissen, Sprach- und sozio-ökonomischer Hintergrund, Alter und Geschlecht). Außerdem werden zwei zweifaktorielle Interaktionen der sprachlichen Gestaltung mit Dispositionen der SchülerInnen (sprachliche Gestaltung und inhaltliches Vorwissen sowie sprachliche Gestaltung und Verständnis narrativer Texte) in Hinblick auf ihren Einfluss auf das Textverständnis getestet. In einem zweiten Schritt wird die Rolle des Sprachhintergrunds für das Textverständnis näher untersucht.
Das Lesen aller Textversionen führt zu einem statistisch abgesicherten Zuwachs in der Anzahl der korrekt beantworteten Fragen vom Prä- zum Posttest. Erklärungsmächtige multiple lineare Regressionsmodelle erweisen sich als studienübergreifend robust und belegen rein sprachliche Manipulationen auf der Textoberfläche und in Bezug auf die semantische Redundanz, die kognitive Strukturierung und konzeptuelle Konflikte nach Groeben (1978) in Hinsicht auf die angestrebte Textverständnisförderung als wirkungslos. Mit Blick auf die Dispositionen der NeuntklässlerInnen zeigen das inhaltliche Vorwissen sowie der Wortschatz den größten Einfluss auf das Textverständnis. Die getesteten Interaktionen wirken nicht signifikant auf das Textverständnis.
In beiden Studien schneiden die nicht-monolingual deutschen SchülerInnen in allen Sprachkompetenzen mit Ausnahme der basalen Lesekompetenz signifikant schlechter ab als ihre monolingualen MitschülerInnen. Dies belegen t-Tests für unabhängige Stichproben. Multigruppenmodelle weisen studienübergreifend nach, dass der Sprachhintergrund den Einfluss der kognitiven Dispositionen der SchülerInnen auf das Textverständnis nicht moderiert. Vielmehr, so zeigen Pfadmodelle in beiden Studien, mediieren die Dispositionen der SchülerInnen den Einfluss des Sprachhintergrundes auf das Textverständnis. Damit ist das auf das Textverständnis wirkende Gefüge der kognitiven Dispositionen der SchülerInnen als vom Sprachhintergrund unabhängig anzusehen. Der nicht-monolingual deutsche Sprachhintergrund führt aber dazu, dass die für das Lesen relevanten kognitiven Dispositionen der SchülerInnen im Durchschnitt schlechter ausgeprägt sind. Limitationen dieser Arbeit sowie Implikationen der Befunde für die Schulpraxis werden abschließend diskutiert.
Approximately 25 % of lower secondary level students in Germany possess (very) weak reading comprehension skills, as demonstrated by several studies of scholastic performance (OECD, 2023). In this group of weak readers, students with a migratory background are overrepresented (Weis et al., 2019b). Reading comprehension skills play a central role in the expansion, deepening, and refinement of one’s knowledge (Artelt et al., 2007), and are therefore critical for students’ school, university, and occupational success across various disciplines. Texts from physics textbooks contain language of schooling (Hövelbrinks, 2013), as well as technical discipline-specific language (Härtig, 2010, 2014), resulting in texts that are rated so difficult to understand that they are seldom used in physics lessons (Bleichroth et al., 1987; Merzyn, 1994). The texts’ vast potential to accustom students to physics language and content is left untapped (Härtig & Kohnen, 2017; Härtig & Neumann, 2014). An objective is therefore to remove hurdles in the acquisition of physics skills that originate from the language used, and to create a better fit between the requirements of a text and the students’ dispositions.
Text comprehension models can identify starting points for achieving this fit. Reading and understanding a text is generally understood as an interaction between text characteristics and the reader’s dispositions (Kintsch, 1988; Kintsch und van Dijk, 1978; Schnotz, 2006; van Dijk und Kintsch, 1983); in the context of school education, this suggests two possibilities to reach a fit between texts and students: either by developing the students’ dispositions, or manipulating the text to be more understandable, where both possibilities can be pursued independently or simultaneously. The present work focuses on the texts themselves, whereby a number of existing studies have shown potential to enhance text comprehensibility by text manipulation, although the exact effects remain unclear (for an overview cf. Schmitz, 2016).
Two studies were conducted on ninth-grade students from lower secondary, comprehensive, and grammar schools in North Rhine-Westphalia, Germany (N=456 and N=261 students, respectively). Both studies followed a pre-test post-test experimental design. Initially, determinants of the comprehension of physics texts were examined with regard to text characteristics (easy language vs. plain language; plain language vs. textbook text), students’ dispositions (prior content knowledge, vocabulary knowledge, basic reading competence, comprehension of narrative texts, knowledge of reading strategies, deductive reasoning, knowledge of connectives, language background and socio-economic background, age, and gender), and interactions between text characteristics and students’ dispositions (text characteristics and prior content knowledge as well as text characteristics and comprehension of narrative texts). Subsequently, the role of the students’ language background on text comprehension was examined.
Students answered statistically significantly more text comprehension questions correctly in the post-test compared to the pre-test, regardless of the text version read. Multiple linear regression models were developed in order to predict the students’ text comprehension and were robust across the two studies. The models consistently showed that text manipulation on the text surface level as well as with regard to semantic redundancy, cognitive structuring, and conceptual conflicts (Groeben, 1978) do not enhance text comprehension. With respect to the ninth graders’ dispositions, prior content knowledge and vocabulary knowledge had the biggest influence on text comprehension. The interactions tested did not significantly impact the comprehension of the texts read.
In both studies, the non-monolingual German students were outperformed by German monolinguals in all language competencies except for basic reading competence, as shown by t-tests for independent samples. Across the studies, multi-group models showed that language background did not moderate the influence of the students’ cognitive dispositions on their text comprehension. Instead, path models showed that students’ cognitive dispositions mediate the influence of language background on text comprehension. Therefore, the structure of the cognitive predictors of text comprehension is independent of the students’ language background. However, German monolinguals score on average higher in cognitive dispositions relevant to text comprehension than non-monolingual students. Limitations of this work and implications of the results for school practice are discussed.