Privatheitsbezogene Entscheidungen im Online-Kontext – Zugrundeliegende psychologische Mechanismen der Selbstoffenbarung auf sozialen Netzwerken
In der digitalen Welt hinterlassen Nutzerinnen und Nutzer täglich unzählige Daten. Insbesondere soziale Netzwerke haben es daher zu ihrem Geschäftsmodell gemacht, mit Informationen über Nutzende Profit zu generieren. Die Preisgabe persönlicher Informationen auf sozialen Netzwerken kann dabei mit verschiedenen positiven Auswirkungen einhergehen (z.B. soziale Unterstützung und Anerkennung, Festigung von Beziehungen, sowie Knüpfen neuer Kontakte), was die Nutzung dieser Services sehr attraktiv macht. Allerdings können auch negative Konsequenzen durch Selbstoffenbarungen auftreten. So können geteilte Informationen zum Gegenstand von Anfeindungen werden, sie können missbraucht werden und in Privatheitsverletzungen resultieren. Warum Nutzerinnen und Nutzer trotz möglicher negativer Konsequenzen dennoch weiterhin viel von sich preisgeben, wird im Zuge der vorliegenden kumulativen Dissertation näher untersucht. Dabei wird eine Perspektive eingenommen, welche über die zugrundeliegende Annahme vieler bisheriger Theorien (z.B. Privacy Calculus; Culnan & Armstrong, 1999), dass Selbstoffenbarungen (stets) reflektierte und durchdachte Entscheidungen darstellen, hinausgeht. Vor dem Hintergrund von Dual- und Tripartit-Prozess Ansätzen (z.B. Epstein et al., 1996; Kahneman, 2003; Schiebener & Brand, 2015; Turel & Bechara, 2016) wird angenommen, dass bei Selbstoffenbarungsentscheidungen, bedingt durch individuelle, umgebungsbezogene sowie situative Faktoren, nicht nur analytisch-reflektierende innere Verarbeitungsprozesse involviert sind, sondern auch emotionsbasiert-intuitive und möglicherweise auch interozeptive Prozesse. Die Rolle innerer, miteinander interagierender Entscheidungsprozesse, also die Rolle des reflektierenden, impulsiven sowie interozeptiven Systems, findet im Bereich der Selbstoffenbarung auf sozialen Netzwerken bisher unzureichend Beachtung. Die vorliegende kumulative Dissertation adressiert diese Forschungslücke mithilfe zweier empirischer Schriften und einer theoretischen Schrift. Die Schriften 1 und 2 untersuchen die Rolle verschiedener individueller, umgebungsbezogener sowie situationsspezifischer Faktoren, welche mit dem impulsiven beziehungsweise reflektierenden System in Verbindung gebracht werden können. Dabei wird in Schrift 1 mithilfe einer experimentalpsychologischen Entscheidungsaufgabe die generelle Entscheidungstendenz in Situationen mit konfliktären kurzund langfristigen Konsequenzen (sowie fehlendem Feedback zu langfristigen Konsequenzen) erfasst und mithilfe eines Fragebogens Tendenzen zur problematischen (suchtartigen) Nutzung sozialer Netzwerke. Die Ergebnisse zeigen, dass die individuelle Tendenz, kurzfristige belohnende Konsequenzen unter Vernachlässigung langfristiger Risiken zu präferieren, sowie die Tendenz zur problematischen (suchtartigen) Nutzung sozialer Netzwerke positiv mit der Menge preisgegebener Informationen im Rahmen von Posts (Beiträgen) auf Facebook assoziiert sind. Diese Effekte geben Hinweise auf eine mögliche Beteiligung des impulsiven Systems im Zuge von Selbstoffenbarungen auf sozialen Netzwerken und lassen annehmen, dass ein Ungleichgewicht zwischen dem reflektierenden und impulsiven System potenziell risikobehaftete Selbstoffenbarungsentscheidungen bedingen beziehungsweise diese erklären könnte. In Schrift 2 werden mithilfe eines fiktiven sozialen Netzwerks („AHOY!“) die Effekte verschiedener weiterer Faktoren auf Selbstoffenbarungsentscheidungen untersucht, welche als Indikatoren für die Beteiligung innerer Verarbeitungsprozesse verstanden werden können. Dabei werden zwei „Stufen“ von Selbstoffenbarungsentscheidungen untersucht – zum einen, ob ein Post erstellt wurde oder nicht, und zum anderen, wie viele Informationen preisgegeben wurden, sofern ein Post erstellt wurde. Es zeigt sich, dass für die erste Entscheidungsstufe die Darbietung einer Warnmeldung, steigende Ausprägungen im rationalen privatheitsbezogenen Entscheidungsstil und steigende empfundene Risiken (jeweils assoziiert mit reflektierender Verarbeitung) protektiv wirken können – die Wahrscheinlichkeit der Erstellung eines Posts also reduzieren. Demgegenüber erhöhen empfundene Vorteile (assoziiert mit intuitiven Prozessen) die Wahrscheinlichkeit, dass ein Post erstellt wird. Für die zweite Stufe zeigt sich, dass hauptsächlich deskriptive soziale Normen (hier wie viel andere Nutzende preisgeben; die Beteiligung intuitiver Prozesse indizierend) die Menge preisgegebener Informationen zu begünstigen scheinen. Insgesamt lassen diese Ergebnisse annehmen, dass das reflektierende und das impulsive System unterschiedlich stark im Zuge der beiden Entscheidungsstufen involviert sein könnten. Während bei der ersten Stufe beide Systeme beteiligt sein könnten (und das reflektierende System hier auch eine prädominante Rolle einnehmen könnte), scheint im Zuge der zweiten Stufe das impulsive System eine tragende Rolle einzunehmen. Die Verbindung zwischen dem reflektierenden und impulsiven System wird in Schrift 3 tiefergehend betrachtet. Es wird ein theoretisches Modell vorgeschlagen, das Tripartite Self-Disclosure Decision (TSDD) Modell, welches die postulierte Interaktion zwischen dem reflektierenden und impulsiven System hervorhebt und gleichzeitig die mögliche vermittelnde Rolle des interozeptiven Systems adressiert. Mithilfe dieses Modells werden zugrundeliegende psychologische Mechanismen von Selbstoffenbarungsentscheidungen auf sozialen Netzwerken in den Fokus gerückt, wobei auch bisherige Erkenntnisse zu Einflussfaktoren sowie möglichen Konsequenzen integriert werden. Dies ermöglicht zukünftigen Forschungsarbeiten die systematische Ableitung neuer Forschungsfragen und Hypothesen und bietet eine erweiterte Verständnisgrundlage zur Entwicklung und Verbesserung von Unterstützungsmaßnahmen. Insgesamt stellen die Befunde der Schriften des vorliegenden Kumulus heraus, dass die Annahme, dass Selbstoffenbarungen auf sozialen Netzwerken als (rein) reflektierte und durchdachte Entscheidungen eingestuft werden können, zu kurz greift. Vielmehr könnte in vielen Entscheidungssituationen insbesondere das impulsive System involviert sein (welches durch interozeptive Prozesse verstärkt werden könnte), sodass die Stärkung reflektierender Prozesse gar erforderlich wird, um durchdachtere Entscheidungen zu ermöglichen und das Risiko negativer Konsequenzen zu verringern. Auf Basis der Erkenntnisse des Kumulus können mit Blick auf Unterstützungs- und Präventionsmaßnahmen wertvolle praktische Implikationen abgeleitet werden, welche das mögliche Zusammenspiel der drei Systeme berücksichtigen. Die Integration bisheriger Theorien/ Annahmen und der Erkenntnisse des vorliegenden Kumulus erweitert zudem den Forschungsstand und verdeutlicht das Weiterentwicklungspotenzial theoretischer Annahmen zur Erklärung von Selbstoffenbarungsentscheidungen auf sozialen Netzwerken.
In the digital world, users leave behind a vast amount of data every day. Especially social networks have thus created a business model with which they can generate profit based on information about their users. Providing personal information on social networks can have various positive effects (e.g., social support and recognition, maintenance of relationships, and making new contacts), which makes the use of these services very attractive. However, self-disclosures can also lead to negative consequences. For example, shared information can lead to hostility, it can be misused, and can result in privacy violations. Why users nevertheless continue to disclose much information although this can be accompanied by negative consequences is examined in more detail in this dissertation. Thereby, a perspective is taken which goes beyond the assumption of many previous theories (e.g., Privacy Calculus; Culnan & Armstrong, 1999) that self-disclosures are reflective and deliberate decisions. In light of dual- and tripartite-process approaches (e.g., Epstein et al., 1996; Kahneman, 2003; Schiebener & Brand, 2015; Turel & Bechara, 2016), it is proposed that self-disclosure decisions involve, based on individual, environmental, and situational factors, not only analytical/ reflective inner processes, but also emotionbased/ intuitive and possibly also interoceptive processes. The role of inner, interacting decision-making processes (i.e., the role of the reflective, impulsive as well as interoceptive system) has so far received insufficient attention in the context of self-disclosure on social networks. This dissertation addresses this research gap with two empirical and one theoretical manuscript. Manuscripts 1 and 2 examine the role of individual, environmental, and situational factors that can be associated with the impulsive and reflective systems, respectively. In manuscript 1, an experimental psychological decision-making task is used to assess individuals’ general decision-making tendency in situations with conflicting short- and long-term consequences (and lacking feedback about long-term consequences), and a questionnaire is applied to measure tendencies toward a problematic (addictive) social-networks-use. The results show that the tendency to prefer short-term rewarding outcomes while neglecting long-term risks, as well as tendencies toward a problematic (addictive) social-networks-use are positively associated with the amount of information disclosed via posts on Facebook. These effects provide indications of a possible involvement of the impulsive system in the context of self-disclosures on social networks and suggest that an imbalance between the reflective and impulsive system could impact and explain potentially risky self-disclosure decisions. In manuscript 2, the effects of further factors (which indicate the involvement of respective inner processes) on self-disclosure decisions are investigated with the help of a fictitious social network (“AHOY!”). Thereby, two “stages” of self-disclosure decisions are examined – first, whether a post was created or not, and second, how much information was disclosed, if a post was created. It turns out that for the first decision stage, the presentation of a warning message, increasing levels of a rational privacyrelated decision-making style, and increasing perceived risks (each associated with reflective processing) can have a protective effect – i.e., reducing the probability of creating a post. In contrast, perceived benefits (associated with intuitive processing) increase the likelihood of creating a post. For the second stage, it turns out that mainly descriptive social norms (i.e., how much other users disclose; indicating the involvement of intuitive processes) seem to amplify the amount of information disclosed. Overall, these results suggest that the reflective and the impulsive system may be involved to different extents in the two stages. While both systems might be involved in the first stage (and the reflective system might also take a predominant role here), the impulsive system seems to play a predominant role in the second stage. In manuscript 3, the link between the reflective and impulsive system is addressed in more depth. A theoretical model, the Tripartite Self-Disclosure Decision (TSDD) model, is proposed, which highlights the postulated interaction between the reflective and impulsive systems while also addressing the possible mediating role of the interoceptive system. With the help of this model, underlying psychological mechanisms of self-disclosure decision making on social networks are brought into focus, while also integrating previous findings on influencing factors and possible consequences. This will enable future research to systematically derive new research questions and hypotheses and provides an enhanced basis of understanding for developing and improving support measures. Overall, the findings of the manuscripts included in this dissertation highlight that the assumption, that self-disclosures on social networks can be regarded as (purely) reflective and deliberate decisions, falls short. Rather, especially the impulsive system may be involved in many self-disclosure decision situations (which could be amplified by interoceptive processes), so that strengthening reflective processes becomes essential in order to enable more deliberate decisions and to reduce the risk of negative consequences. Based on the findings of this dissertation, valuable practical implications can be derived with regard to support and prevention measures, which take into account the possible interplay of the three systems. The integration of previous theories/ assumptions and findings of the present dissertation also expands the state of research and highlights the potential for further development of theoretical assumptions explaining self-disclosure decisions on social networks.