Wie können erwachsene Bezugspersonen entwicklungsförderliche Bedingungen für Kinder herstellen? Ist das Essener Schülerhilfeprojekt geeignet, um die verschiedenen Facetten des kindlichen Selbstkonzepts zu stärken?

Zusammenfassung Das zentrale Thema meiner Arbeit beschäftigt sich mit der Frage, mit welchen Verhaltensweisen erwachsene Bezugspersonen von Kindern die verschiedenen Facetten des kindlichen Selbstkonzepts stärken und wie sie entwicklungsförderliche Bedingungen durch ihre Beziehungsgestaltung für das Kind schaffen können. Konkret stehen in der vorliegenden Arbeit Kinder im Fokus, die im Rahmen des Essener Schülerhilfeprojekts über einen Zeitraum von einem Jahr und mindestens 40 Treffen einmal in der Woche für wenigstens zwei bis drei Stunden in den Genuss einer exklusiven Einzelbetreuung durch Studierende der Universität Duisburg-Essen gekommen sind. Die Studierenden hospitieren an einer von drei Essener Partnerschulen und bekommen von den Klassenlehrer/-innen Kinder vorgeschlagen, die für die Teilnahme an dem Projekt als geeignet erachtet werden. Während des Projektjahres werden die Studierenden durch 14-tägige Kleingruppentreffen, deren Teilnahme verbindlich ist, betreut und bekommen so die Möglichkeit, schwierige Situationen zu besprechen und Unterstützung in einem professionalisierten Rahmen zu erfahren. Das Projekt endet nach einem Jahr, was von Außenstehenden oftmals kritisch betrachtet wird. Allerdings werden die Kinder auf das Ende der regelmäßigen Treffen vorbereitet und einige Paten/-innen melden sich zu besonderen Anlässen wie dem Geburtstag des Kindes oder Weihnachten weiterhin bei ihrem Patenkind. In Einzelfällen wäre ein kompletter Abbruch des Kontakts seitens der Studierenden nach dem offiziellen Projektende tatsächlich nicht zu verantworten, beispielsweise wenn die Interaktionserfahrungen des Kindes durch Enttäuschungen, Unzuverlässigkeit und endende Beziehungen geprägt wären. Solche Aspekte der Patenschaften werden ebenfalls in den Kleingruppensitzungen unter professioneller Anleitung mit den Studierenden thematisiert. Im Fokus meines Forschungsvorhabens stehen nicht mögliche messbare Wirkungen des Patenschaftsprojekts, da diese bereits von Steins (2011) evaluiert wurden. Ich prüfe, welche Faktoren sich positiv auf die Entwicklung der Kinder auswirken. Ungeklärt ist bis dato, ob die vertrauensvolle Beziehung, die sich im Idealfall zwischen Pate/-in und Kind entwickelt, wirkt oder sich neue Erfahrungen, die die Kinder im Rahmen des Projekts machen können, entwicklungsförderlich auswirken oder aber weitere unbekannte Faktoren. So lauten die zentralen Fragestellungen meiner Arbeit: Wie können erwachsene Bezugspersonen entwicklungsförderliche Bedingungen für Kinder herstellen? Ist das Essener Schülerhilfeprojekt geeignet, um die verschiedenen Facetten des kindlichen Selbstkonzepts zu stärken? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, habe ich 16 Kinder, deren offizielles Projektende ein, drei, fünf oder sechs Jahre zurücklag, mit Hilfe eines Leitfadens entweder in der Schule oder in den Räumlichkeiten des Kinderschutzbundes in Essen interviewt. 12 Paten/-innen, die das Projekt ebenfalls seit mindestens einem Jahr offiziell beendet hatten, interviewte ich zu 13 Patenschaften in der Universität oder zu Hause; sechs Paten/-innen füllten einen Fragebogen zu sieben Patenschaften aus. Ich habe mich für eine qualtitative Studie mittels eines Leitfadeninterviews entschieden, um ein Grundgerüst für die Befragungen und somit auch für die anschließende Auswertung zu erhalten, aber dennoch auf individuelle Aspekte oder von mir nicht vorhergesehende Themen eingehen zu können. Für die Gewinnung und Auswertung meiner Daten habe ich eine spezielle Form eines sogenannten Mixed-Methods Designs genutzt (Kuckartz 2012, 2014). Für die Auswertung meiner Interviews nutzte ich nach der Transkription das „Ablaufschema der inhaltlich strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse (Kuckartz 2012, S.111; Kuckartz 2014, S.78) und codierte die Transkripte mit der Software MAXQDA. Die wichtigsten Ergebnisse meiner Forschung werden hier zusammengefasst: Das Schülerhilfeprojekt erscheint in besonderem Maße geeignet, um die verschiedenen Facetten des kindlichen Selbstkonzepts zu stärken. Das Setting des Projekts ist hier ein wesentlicher Faktor. Durch die wöchentlichen Treffen der Kinder mit einer festen Bezugsperson über den Zeitraum von einem Jahr kommen die Kinder in den Genuss einer hohen ungeteilten Aufmerksamkeit einer erwachsenen Bezugsperson, die so nicht alltäglich ist und nicht vielen Kindern zuteil wird. Auch wenn dieser Fokus für manche Kinder zunächst ungewohnt war und Verunsicherungen hervorrief, konnten sich alle Kinder auf diese Zuwendung einlassen. So wundert es nicht, dass als wesentliche Faktoren, die zu einer positiven Entwicklung der Kinder und dem Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung beigetragen haben, Aufmerksamkeit und Zuwendung genannt wurden. Zudem wurden Verlässlichkeit, Struktur und Ordnung sowie neue Erlebnisse der Kinder mit dem Schwerpunkt auf der Beziehungsgestaltung als positive Entwicklungsfaktoren und Wegbereiter für eine vertrauensvolle Beziehung in den Interviews genannt. Ich spreche in meiner Arbeit somit von drei Säulen positiver Entwicklungsfaktoren. Die erste Säule – Aufmerksamkeit und Zuwendung – wird durch das Setting des Projekts begünstigt. Der Interaktionsstil der von mir interviewten Studierenden ist als dem Kind zugewandt zu beschreiben. In den Kleingruppensitzungen konnten eventuelle Schwierigkeiten in der Interaktion mit dem Patenkind besprochen werden. Kinder, die bereits negative Interaktionserfahrungen gesammelt haben, reagieren auf die Zuwendung der Paten/-inen möglicherweise ablehnend. Hier gilt es zu vermeiden, dass die Studierenden frustriert reagieren und möglicherweise nicht mehr zugewandt bleiben und auch ablehnend reagieren, damit dem Kind die Chance erhalten bleibt, seinen Interaktionsstil positiv zu verändern. Durch die exklusive Einzelbetreuung bietet sich den Studierenden die Möglichkeit, direkt auf die kindlichen Bedürfnisse einzugehen. Dies stellt einen wesentlichen Faktor für den Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung und den Aufbau von Bindung dar. Alle Kinder konnten sich im Laufe des Projekts auf diese Zuwendung einlassen: 75% der Kinder berichteten ihren Paten/-innen von Schwierigkeiten. Vier Kinder hätten ihre Probleme anvertraut, wenn sie welche gehabt hätten und je zwei Kinder vertrauten den Studierenden manchmal oder nie sie bewegenden Probleme an, konnten jedoch keinen Grund dafür nennen. Betrachten wir die zweite Säule – Verlässlichkeit, Struktur und Ordnung näher. Alle Kinder schätzten ihre Paten/-innen als zuverlässig ein und waren sicher, dass diese zu den vereinbarten Treffen erscheinen würden oder rechtzeitig absagen, wenn eine Verschiebung notwendig sein sollte. Kinder, die an dem Projekt teilnehmen, haben Unzuverlässigkeit oftmals als festen Bestandteil ihres Alltagserlebens erfahren, Zurückweisungen und negative Bindungserfahrungen erleben und leere Verprechungen seitens wichtiger Bindungspersonen erfahren müssen. Auch strukturieren viele Familien der teilnehmenden Kinder ihren Tagesablauf nicht. Während der Treffen mit den Studierenden herrscht eine hohe Transparenz über die Treffen und Regeln und Abläufe werden besprochen. Auch hier können die Kinder von ihrer Alltagswelt abweichende Erfahrungen sammeln. Da zu einer Struktur der Treffen auch Regeln gehören, sahen sich die Studierenden zuweilen mit der Schwierigkeit konfrontiert, die Einhaltung der vereinbarten Regeln von den Kindern einzufordern. Hier wurden sie dahingehend in den Kleingruppentreffen beraten. Blicken wir in die Erziehungsstilforschung wird deutlich, dass eine Kombination aus Anforderungen an das Kind auf der einen Seite und Unterstützung und Verständnis für die Bedürfnisse auf der anderen Seite (autoritativer Erziehungsstil) für die Entwicklung eines Kindes am förderlichsten ist (Baumrind 1971, 1975, 1989; Maccoby 1980, 2000; Schmidtchen 1993, 1997). Alle befragten Kinder freuten sich auf die Treffen und erfuhren Unterstützung in verschiedenen Lebensbereichen. Sie erhielten zum Teil Strukturen und Ratschläge, die von 56,25% der Kinder auch nach dem offiziellen Projektende noch befolgt wurden und die Studierenden wurden zum Teil als Vorbilder betrachtet. Die Kinder, die noch in regelmäßigem (25%) Kontakt, der von beiden Seiten gehalten wird, stehen oder in regelmäßigen, von den Studierenden gehaltenen (37,5%) Kontakt zu ihren Paten/-innen stehen, sind sich sicher, sich im Falle von Schwierigkeiten an sie wenden zu können. Auch während des Projekts herrschte bei allen Kindern das gute Gefühl, eine/-n verlässliche/-n Ansprechpartner/-in gefunden zu haben. Die dritte Säule – Neue Erfahrungen mit Schwerpunkt auf dem Beziehungsaspekt – beinhaltet im Rahmen des Schülerhilfeprojekts ausdrücklich nicht eine Aneinanderreihung kostspieliger Ausflüge. Vielmehr steht die gemeinsame Zeit im Vordergrund, in der beispielsweise auch durch einen Parkbesuch neue Erfahrungen gesammelt werden können. Alle Kinder berichteten von neuen Erlebnissen mit den Studierenden. Zuweilen wurden sogar Ängste oder Hemmungen überwunden. So sind positive Treffen verknüpft mit neuen Erlebnissen, bei denen die Kinder ihren Erfahrungshorizont erweitern können, eine bedeutende Komponente für die Beziehungsbildung. Die Studierenden berichten in diesem Kontext von positiven Veränderungen ihrer Patenkinder sowohl im emotionalen als auch im sozialen Bereich. Konkret schätzten die Studierenden ihre Patenkinder als offener und fröhlicher (41,17%) als zu Beginn der Patenschaft ein. Sie schafften es im Laufe der Patenschaft sich auf Unternehmungen einzulassen und sich auch in der Schule in Gesprächskreisen zu beteiligen, da die Kinder nun etwas zu erzählen haben. Die Kinder fanden einen besseren Kontakt zu ihren Mitschüler/-innen und sieben Studierende äußerten, dass sich die positiven Veränderungen im emotionalen Bereich ihrere Patenkinder auch auf das Sozialverhalten auswirkten. Sechs Kinder enzwickelten ein größeres Selbstbewusstsein, vier Kinder wirkten ausgeglichener und zwei Kinder schätzen sich selbst mehr wert. Ob diese positiven Veränderungen auch nach dem Projektende bestehen bleiben, hängt nach Einschätzungen der Studierenden stark vom Umfeld ab, jedoch konnten die Kinder von der Alltagswelt abweichende Erfahrungen sammeln und ihren Blickwinkel erweitern. Bei einem Großteil der Kinder, die am Schülerhilfeprojekt teilnehmen, sind in einem oder mehreren Bereichen der drei Säulen positiver Entwicklungsfaktoren Defizite festzustellen. Die Studierenden konnten an diese Punkte anknüpfen und den Kindern von ihren Alltagserfahrungen zum Teil gravierend abweichende Erfahrungen ermöglichen. Dies ist aus Sicht der Selbstkonzeptforschung bedeutend, da zahlreiche vom generellen Selbstkonzept abweichende Erfahrungen notwendig sind, um dieses zu verändern. Die Ergebnisse werden in der Arbeit entlang der drei als Säulen bezeichneten Themen auf die Situation des Grundschulunterrichts übertragen. Ein eventuell als kritisch zu wertender Aspekt meiner Ergebnisse stellt die Tatsache dar, dass sich durchweg Paten/-innen für die Interviews bereit erklärt haben, bei denen die Patenschaft zum größten Teil positiv verlaufen ist. Auch ein Student, welcher in seiner ersten Patenschaft nicht vollends zufrieden war, nahm negative Aspekte als Anlass zur Weiterentwicklung und versuchte seine zweite Patenschaft anders zu gestalten. Die Studierenden stellten durchweg eine positive Entwicklung bei ihren Patenkindern fest und konnten entwicklungsförderliche Bedingungen während der Treffen herstellen und überdies eine vertrauensvolle Beziehung zu ihrem Kind entwickeln. Die Paten/-innen gaben sehr detailiert und reflektiert Auskunft über die Zeit der Patenschaft und waren in der Lage, konkrete Faktoren zu nennen, die zu einer positiven Entwicklung der Kinder geführt und sich günstig auf den Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung ausgewirkt haben. Interessant wäre es demnach, Studierende zu interviewen, die den Verlauf der Patenschaft als negativ empfunden haben und nach eigener Einschätzung eventuell keine entwicklungsförderlichen Bedingungen oder eine vertrauensvolle Beziehung zu ihrem Patenkind herstellen konnten. Hier wäre zu prüfen, welche Faktoren verhindert haben, eine Beziehung zu dem Kind oder entwicklungsförderliche Bedingungen für das Kind herzustellen. Zudem wäre es wichtig zu erfahren, welche weiteren Unterstützungsangebote für die Studierenden notwendig gewesen wären, um diese Aspekte zu begünstigen. Für die Weiterarbeit oder folgende Forschungsprojekte erscheint es mir, neben eben genannter Thematik, ebenfalls interessant zu evaluieren, inwiefern die herausgearbeiteten Implikationen für Grundschullehrer/-innen im Alltag umsetzbar sind. Das Setting ist zweifelsohne ein anderes als im Schülerhilfeprojekt. Überdies wäre bei der Umsetzung der Handlunsgvorschläge eine Dokumentation und Auswertung der Beziehungsbildung zu den Kindern wichtig. Auch könnten Erkenntnisse über die Entwicklung der Kinder im emotionalen und sozialen Bereich und des Selbstkonzepts gewonnen werden. Zudem wären Auswirkungen auf das Sozialgefüge der Klasse, das Klassenklima, der Lernbereitschaft der Kinder interessant zu evaluieren. Möglicherweise im Vergleich zu einer anderen Klasse, in der die Lehrkraft nicht ausdrücklich den Fokus auf das Schaffen entwicklungsförderlicher Bedingungen und den Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung legt.

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