„Ganz so weit können wir ja auch nicht laufen!“ Bewegungserziehung in Kindertageseinrichtungen : Eine international vergleichende, qualitative Analyse

Abstract Die Dissertation mit dem Titel: „Ganz so weit können wir ja auch nicht laufen! Bewegungserziehung in Kindertageseinrichtungen: Eine international vergleichende, qualitative Analyse“ fasst theoretische Erläuterungen und empirische Untersuchungen zum Verständnis und zur praktischen Umsetzung von Bewegungserziehung in Kindertageseinrichtungen in Deutschland und in Norwegen im sportpädagogischen Diskurs zusammen. Die zentrale Fragestellung lautet: „Was bedeutet Bewegungserziehung in ausgewählten Tageseinrichtungen für Kinder im Alter von 1 bis 6 Jahren?“ Im qualitativen Forschungsdesign in Anlehnung an die Grounded Theory Methodology bedient sich die Forscherin der Instrumente der Dokumentenanalyse, der teilnehmenden Beobachtung und des Leitfadeninterviews. Die Dokumentenanalyse bezieht sich auf die Rahmenpläne für Kindertageseinrichtungen, d. h. Bildungsvereinbarungen (2003) und Bildungsempfehlungen (2011) aus Nordrhein-Westfalen und das Kindergartengesetz (2005) und der Rahmenplan für Kindergärten (2006) aus Norwegen. In vier Einrichtungen in Essen, exemplarisch für Deutschland, und in vier Einrichtungen in Oslo, exemplarisch für Norwegen, wurden jeweils eine Woche lang teilnehmende Beobachtungen durchgeführt in einem Gesamtumfang von circa 250 Stunden. Zudem wurde mit zwei Pädagoginnen oder Pädagogen aus jeder Einrichtung ein Leitfadeninterview geführt, sodass eine Summe von 16 Interviews entsteht. Das Datenmaterial umfasst insgesamt circa 300 Seiten, die der Analyse und Auswertung dienen. Die Entscheidung für Norwegen lässt sich damit begründen, dass Norwegen zum einen über eine gewisse Tradition in der Frühpädagogik und über hohe Teilhabequoten, auch von Kindern unter drei Jahren, verfügt. Das pädagogische Personal in norwegischen Kindertageseinrichtungen zeichnet sich sowohl durch Akademikerinnen und Akademiker als auch durch fachschulisch ausgebildetes Personal aus und lässt den Vergleich mit Deutschland zu. Bezogen auf den Themenbereich der Bewegungserziehung zeigt sich, dass Norwegen für seine Körperfreundlichkeit und -bewusstheit charakteristisch ist. Dem Körper und der Bewegung in früher Kindheit wird ein hoher Stellenwert beigemessen (vgl. Moser, 2007; Ungerer-Röhrich et al., 2012). Der Blick auf den internationalen, speziell auf den norwegischen, Raum erscheint lohnend zu sein, um Handlungsalternativen und -perspektiven zu ermitteln. Bewegung und Spiel werden per se mit früher Kindheit in Verbindung gebracht. Im Alter von ein bis sechs Jahren spielen Kinder die meiste Zeit des Tages. Beim Spielen werden Bewegungen vollzogen; zugleich sind Bewegungsaktivitäten von spielerischen Elementen durchdrungen (vgl. Scheuerl, 1997, S. 198). Spielerische Bewegungsvollzüge hinterlassen Eindrücke, Erlebnisse und Emotionen beim Kind (vgl. Schmidt, 2002, S. 114 f.). Nach Grupe und Krüger (2007) ist „Bewegung zum einen ‚Vermittlung zur Welt‘ und zum anderen ‚Wahrnehmung der Welt‘, sie ist ‚Organ‘ ihrer Erfahrung und ‚Instrument‘ ihrer Gestaltung in einem“ (Grupe & Krüger, 2007, S. 246). Fischer betont, die Bewegungshandlung ist die „kindgemäße Form, die Welt zu begreifen und ein eigenes Weltbild zu konstruieren“ (Fischer, 2010, S. 118). In früher Kindheit kann Bewegung als personale Ressource, d. h. als Schutzfaktor in differenzierter Weise verstanden und wirksam sein. Die theoretischen Analysen verdeutlichen, dass Bewegung als - Gesundheitsressource, d. h. zur Stärkung physischer und psychischer Gesundheit, - Entwicklungsressource, d. h. zur Förderung aller Entwicklungsbereiche und als - Bildungsressource, d. h. als Teil und zur Förderung des Lernens wirksam sein kann (vgl. Bahr et al., 2012, S. 98 ff.). Bewegung und Bewegungserziehung können die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern positiv beeinflussen. Nach Bahr et al. (2012) wird der Stellenwert des Bildungsbereichs Bewegung in der Wissenschaft als hoch bewertet (vgl. Bahr et al., 2012, S. 98 ff.). Im sportpädagogischen Kontext fehlen jedoch Forschungsprojekte, die der Positionsbestimmung dienen und zu Umsetzungsmaßnahmen anregen, Bewegungserziehung spielt in der Pädagogik der frühen Kindheit eine untergeordnete Rolle (vgl. Ungerer-Röhrich et al., 2012, S. 273). Erziehung ist nach Liegle (2010) die „Ermöglichung von, bzw. die Aufforderung zu Bildung“ (Liegle, 2010, S. 12). Die Ermöglichung von bzw. die Aufforderung zu Bildung in, durch und mit Hilfe von Bewegung in Kindertageseinrichtungen ist Gegenstand der empirischen Analysen. Bewegungserziehung kann indirekt in Form von selbstbestimmter Aktivität (Freispiel) und durch Unterstützung der selbstbestimmten Aktivität erfolgen. Bewegungserziehung kann direkt in Form von angeleiteten Aktivitäten und durch die Vertiefung von angeleiteten Aktivitäten erfolgen (vgl. Ungerer-Röhrich et al., 2012). Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung verdeutlichen u. a., dass Bewegungserziehung in Deutschland vorrangig indirekt erfolgt. Bewegungserziehung wird - im Freispiel, - in den Innenräumen, - mit vielfältigen Materialien verwirklicht. Direkte Bewegungsangebote werden allenfalls für ältere Kinder über drei Jahren verwirklicht. Die Gestaltung von Bewegungserziehung ist primär vom pädagogischen Personal der Einrichtung abhängig. In deutschen Kitas zeigt ein Großteil der Pädagoginnen und Pädagogen ein geringes persönliches und berufliches Interesse an Bewegung (Bewegungstyp IV). Ob Kinder in der Kita Bewegungsanregungen erfahren, hängt eher von Zufällen ab. Die Ergebnisse offenbaren zudem, dass Bewegungserziehung in Norwegen sowohl indirekt als auch direkt erfolgt und alle Kinder anspricht. Bewegungserziehung wird - in offenen und gestalteten, - im Außenbereich und in der Natur - kreativ, mit geringem Materialaufwand und in Verbindung mit anderen Bildungsbereichen verwirklicht. Ein Großteil der Pädagoginnen und Pädagoginnen zeigt ein persönliches und berufliches Interesse an Bewegungserziehung und fungiert als Bewegungsvorbild (Bewegungstyp I und II). Bei Ausflügen in die Natur, wird die Natur als Bewegungs- und Lernraum verstanden und genutzt. Anhand der theoretischen und empirischen Analysen und dem Vergleich mit Norwegen lassen sich Handlungsempfehlungen für Deutschland bestimmen. Veränderungen und Umstrukturierungen in der Frühpädagogik sind erforderlich, damit Bewegungserziehung zunehmend thematisiert wird und die Potenziale, die mit Bewegung in der frühen Kindheit einhergehen, entfaltet werden können. Die Empfehlungen richten sich an verschiedene Ebenen und nehmen Einfluss auf die pädagogische Arbeit in der Kita durch das pädagogische Personal. Dazu zählen u. a.: - Bewegungserziehung in die Ausbildungspläne der Hoch- und Fachschulen aufnehmen, - Entwicklung eines Curriculum Bewegungserziehung, - Zusammensetzung des pädagogischen Personals reflektieren. Pädagoginnen und Pädagogen mit Bewegungsprofil einsetzen. - Angebote der direkten Bewegungserziehung planen und gestalten Es lässt sich resümieren, dass die Sportpädagogik es bisher versäumt hat, sich dem Themenfeld der Bewegungserziehung in der Kita näher zu widmen. Forschungsprojekte und Verknüpfungen zwischen Sportpädagogik und Frühpädagogik sind erforderlich. Dadurch wird die Chance erhöht, die Potenziale von Bewegung in früher Kindheit zu entfalten und Bewegung als personale Ressource wirken zulassen. Literatur Bahr, S., Kallinich, K., Beudels, W., Fischer, K., Hölter, G. & Jasmund, C. (2012). Bedeutungsfelder der Bewegung für Bildungs- und Entwicklungsprozesse im Kindesalter. Motorik, 35 (3), 98–109. Fischer, K. (2010). Die Bedeutung der Bewegung für Bildung und Entwicklung im (frühen) Kindesalter. In G.E. Schäfer & J. Bilstein (Hrsg.), Kinderwelten - Bildungswelten. Unterwegs zur Frühpädagogik (Frühe Kindheit: Pädagogische Ansätze, S. 117–131). Berlin: Cornelsen Scriptor. Grupe, O. & Krüger, M. (2007). Einführung in die Sportpädagogik (Sport und Sportunterricht, 6) (3., neu bearb. Aufl). Schorndorf: Hofmann. Liegle, L. (2010). Didaktik der indirekten Erziehung. In G.E. Schäfer & J. Bilstein (Hrsg.), Kinderwelten - Bildungswelten. Unterwegs zur Frühpädagogik (Frühe Kindheit: Pädagogische Ansätze, S. 11–25). Berlin: Cornelsen Scriptor. Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport & Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.). (2011). Mehr Chancen durch Bildung von Anfang an. Grundsätze zur Bildungsförderung für Kinder von 0 bis 10 Jahren in Kindertageseinrichtungen und Schulen im Primarbereich in Nordrhein-Westfalen. Düsseldorf. Ministerium für Schule, Jugend und Kinder des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.). (2003). Bildungsvereinbarung NRW. Fundament stärken und erfolgreich starten. Düsseldorf. Moser, T. (2007). Das Kindergartenangebot in den nordischen Ländern - unter besonderer Berücksichtigung von Körper und Bewegung. Hamburg. Norwegian Ministry of Education and Research. Act no 64 of June 2005 relating to Kindergartens. The Kindergarten Act.
Summary The doctoral thesis at hand titled “We can’ t even walk that far! Physical education in the pedagogical work in kindergartens: An international comparison and qualitative analysis” focuses on the topic of physical education in early childhood. The theoretical and empirical explanations deal with the understanding and practical implementation of physical education in the discourse of sports pedagogy in kindergartens in both Germany and Norway. The main question raised is: “What does physical education mean for small children in selected kindergartens?” In the context of qualitative design of research based on the Grounded Theory Methodology, the researcher works with scientific observations and interviews in kindergartens and also analyzes different kinds of documents. The documents include the Kindergarten Act (2005) and the Framework Plan for the Content and Tasks of Kindergartens (2006) of Norway as well as the “Bildungsvereinbarungen” (2003) and “Bildungsgrundsätze” (2011) of North-Rhine Westphalia, Germany. The researcher made scientific observations in four kindergartens in Essen serving as an example for Germany, and in four kindergartens in Oslo, as an example for Norway, each for one week. Furthermore, the researcher interviewed pedagogical workers, in each kindergarten two, resulting in a sum of 16 interviews. The data contains about 300 pages and was used for the analysis and evaluation. The decision for Norway is based on different reasons. On the one hand, Norway has a long tradition in early pedagogy. In addition, huge number of children under the age of three visits Norwegian kindergartens. The pedagogical workers are educated at university or at professional school which is similar to Germany and facilitates the comparison to Germany. On the other hand, Norway is famous for the bodily friendliness and awareness. Physical activity and education have huge significance in early pedagogy (c. f. Moser, 2007; (Ungerer-Röhrich, Popp & Wolf, 2012, p. 273). The international perspective, especially the Norwegian one, seems to be profitable for the exploration of alternatives and recommendations. During the early years of childhood, especially between the age of one to six, children feel the need of physical activity and play. It helps them to learn more about themselves as well as the social world surrounding them. Children express themselves by means of their bodies, gain experiences in a number of areas and acquire fundamental motor skills (c. f. Scheuerl, 1997; Schmidt, 2002; Grupe und Krüger, 2007 & Fischer 2010). Physical education can be understood distinguished and work effectively as a personal resource in early childhood. The theoretical analysis illustrates physical education functioning as: - a resource of health, which means to encourage physical and psychical health, - a resource of formation, which means to promote all kinds of formation, - a resource of education, which means to be part of and to promote learning (Bahr et al., 2012). Physical activity and education can positively affect small children’s personalities. In the scientific community the role of physical education in the process of education and learning is highly rated (Bahr et al., 2012). However, there is only little scientific work on physical education in early childhood in the discourse of sport pedagogy yet. Physical activity only plays a subordinate role in early pedagogy (Ungerer-Röhrich, 2012). According to Liegle (2010), education is defined as enabling and inviting to learn respectively (Liegle, 2010, p.12). Enabling and inviting to learn respectively in, by and with the help of physical activity in day care facilities for children is subject of the empirical analyses. Physical education can be performed indirectly as a self-directed activity such as free play and by support of self-directed activity. Physical education can also be performed directly with guided activities and by deepening guided activities (c.f. Ungerer-Röhrich et al., 2012). Results of the empirical analysis point out, that physical education in Germany mainly takes place indirectly. Physical education is realised - in free play, - in interior space, - with multiple materials. The arrangement of physical education depends on the pedagogical and educational staff of the facility. There is a high number of pedagogues and educationalists in German day care centres who show a low personal and professional, job-related interest in physical education (physical activity type IV). It depends on coincidences if children happen to experience stimulations and impulses from physical activities in their day care facilities. Furthermore, results show that physical education in Norway takes place directly as well as indirectly. Moreover, it addresses all children. Physical education is implemented - in open and arranged environments, - in outdoor areas and nature, - creatively with a minimum of cost of material and in combination with other educational areas. A high number of pedagogues and educationalists show a personal and professional, job-related interest in physical education. They serve as role models regarding exercise and physical activity (physical activity type I and II). Nature is understood and used as space for physical activity and as learning space, in particular on trips to outdoor areas. Based on these theoretical and empirical analyses, recommendations for Germany can be determined which also result from the comparison to Norwegian kindergartens. Variation and restructuring in early childhood education are necessary for physical education to be increasingly considered as a central topic. Therewith capabilities, coming along with exercise and activity in early childhood, can be developed. These recommendations are directed to different levels and are in particular addressed to educational and pedagogical staff working in day care facilities for children. Recommendations contain i.a. (inter alia): - including physical education in the training curriculum of higher educational institutions such as universities and colleges, - developing a curriculum for physical education, - reflecting the composition of educational and pedagogical staff; deploying (consulting) pedagogues and educationalists with motion profiles, - planning and organising direct physical education offerings. To sum up, sports education has missed a closer look on physical education in day care facilities for children so far. Research projects and links between sports education and early child education are necessary to increase chances for developing potentials of activity and exercise in early childhood and to let activity take an effect as a personal resource. Bibliography Bahr, S., Kallinich, K., Beudels, W., Fischer, K., Hölter, G. & Jasmund, C. (2012). Bedeutungsfelder der Bewegung für Bildungs- und Entwicklungsprozesse im Kindesalter. Motorik, 35 (3), 98–109. Fischer, K. (2010). Die Bedeutung der Bewegung für Bildung und Entwicklung im (frühen) Kindesalter. In G.E. Schäfer & J. Bilstein (ed.), Kinderwelten - Bildungswelten. Unterwegs zur Frühpädagogik (Frühe Kindheit: Pädagogische Ansätze, p. 117–131). Berlin: Cornelsen Scriptor. Grupe, O. & Krüger, M. (2007). Einführung in die Sportpädagogik (Sport und Sportunterricht, 6) (3., neu bearb. Aufl). Schorndorf: Hofmann. Liegle, L. (2010). Didaktik der indirekten Erziehung. In G.E. Schäfer & J. Bilstein (ed.), Kinderwelten - Bildungswelten. Unterwegs zur Frühpädagogik (Frühe Kindheit: Pädagogische Ansätze, p. 11–25). Berlin: Cornelsen Scriptor. Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport & Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (ed.). (2011). Mehr Chancen durch Bildung von Anfang an. Grundsätze zur Bildungsförderung für Kinder von 0 bis 10 Jahren in Kindertageseinrichtungen und Schulen im Primarbereich in Nordrhein-Westfalen. Düsseldorf. Ministerium für Schule, Jugend und Kinder des Landes Nordrhein-Westfalen (ed.). (2003). Bildungsvereinbarung NRW. Fundament stärken und erfolgreich starten. Düsseldorf. Moser, T. (2007). Das Kindergartenangebot in den nordischen Ländern - unter besonderer Berücksichtigung von Körper und Bewegung. Hamburg. Norwegian Ministry of Education and Research. Act no 64 of June 2005 relating to Kindergartens. The Kindergarten Act. Norwegian Ministry of Education and Research. (2006). Framework Plan for the Content and Tasks of Kindergartens. Scheuerl, H. (1997). Theorien des Spiels (Das Spiel, 2) (12. edition). Weinheim [u.a.]: Beltz. Schmidt, W. (2002). Sportpädagogik des Kindesalters. 2.,edition (Kinder - Jugend - Sport - Sozialforschung. 1). Ungerer-Röhrich, U., Popp, V. & Wolf, S. (2012). Bewegung im Elementarbereich. Bestandsaufnahme und Perspektiven. Sportunterricht, 61 (9), 271–278.

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